Februar 2019

190201

ENERGIE-CHRONIK



 

Nord Stream 2 soll die Kapazität der bereits in Betrieb befindlichen Ostsee-Pipeline verdoppeln. Der Kreml will so die Transitleitungen durch die Ukraine und Polen überflüssig machen. Das löst nicht nur in Osteuropa Besorgnis aus. Die schwarz-rote Bundesregierung hat sich deshalb mit ihrer absurden Behauptung, Nord Stream 2 sei ein rein kommerzielles Projekt, innerhalb der EU ins Abseits manövriert. Sogar Frankreich wollte sie jetzt nicht mehr bedingungslos unterstützen und hat sie deshalb in aller Freundschaft an den Verhandlungstisch gezwungen.
Quelle: Oxford Institute for Energy Studies

EU verschärft Gasrichtlinie – aber mit Schlupfloch für die zweite Ostsee-Pipeline

Der Rat und das Parlament der Europäischen Union einigten sich am 12. Februar auf einen informellen Kompromiss zur Ausweitung der seit 2009 geltenden Gas-Richtlinie (090401) auf die Terrorialgewässer der Mitgliedsstaaten, wie sie am 8. November 2017 von der Kommission vorgeschlagen wurde (171109). Die Entflechtungs-Bestimmungen und andere Regeln des EU-Rechts gelten damit auch für solche Gasleitungen, die aus Drittstaaten durchs Meer ins Gebiet der Europäischen Union führen, sobald sie das Küstenmeer jenes Mitgliedsstaats erreichen, in dem der erste Kopplungspunkt mit dem Gasnetz der EU liegt (Artikel 2, Nummer 17). Der Vorschlag der Kommission wird aber unter anderem so modifiziert, dass über Ausnahmeregelungen für derartige Leitungen derjenige EU-Staat entscheidet, an dessen Küste sie anlanden (Artikel 34, Abs. 4 und Artikel 41, Abs. 1). Damit bleibt die deutsche Regierung für die derzeit im Bau befindliche zweite Ostsee-Pipeline "Nord Stream 2" zuständig. Die russische Gazprom braucht somit nicht zu befürchten, dass ihr die Kommission mit dem verschärften Instrumentarium in die Quere kommt und eventuell sogar das ganze Projekt stoppt, wie das von etlichen Mitgliedsstaaten verlangt wurde.

Bundesregierung wollte blockieren, musste aber notgedrungen einlenken


Gazprom begann schon im vorigen Jahr mit der Verlegung der neuen Pipeline, um noch vor einer Verschärfung der EU-Gasrichtlinie vollendete Tatsachen zu schaffen. Auf dem Foto versenkt das Verlegeschiff "Audacia" einen der Stränge über einen langen Ausleger in der Ostsee. Die Röhren werden an Bord des Schiffs zusammengeschweißt.
Foto: Nord Stream 2 AG

Zunächst wollte die Bundesregierung weiter auf Zeit spielen und in der Ratssitzung am 8. Februar die anstehende Beschlussfassung über den Änderungsvorschlag der EU-Kommission vom November 2017 blockieren. Die dafür erforderliche Sperrminorität wäre allerdings nur mit Hilfe Frankreichs zu erreichen gewesen. Da die französische Regierung Anfang Februar wissen liess, dass sie den Vorschlag der Kommission unterstützen werde, musste die Bundesregierung notgedrungen einlenken. In Vorverhandlungen mit der Kommission erzielten Frankreich und Deutschland einen Kompromiss, den die Mitgliedsstaaten am 8. Februar als Mandat für Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament akzeptierten. Schon am 12. Februar kam es daraufhin zwischen den beiden gesetzgebenden Gremien der EU zu einer vorläufigen Einigung, die im wesentlichen dem Ratspapier entspricht. Die Neuregelung tritt in Kraft, wenn ihr das Parlament auch formal zugestimmt hat. Damit ist allerdings erst nach den Europa-Wahlen zu rechnen, die vom 23. bis 26. Mai stattfinden.

Nord Stream 2 ist in erster Linie ein politisches Instrument des Kreml

Unter dem Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit ist eine nochmalige Erweiterung der bestehenden Ostsee-Pipeline absolut überflüssig. Das Großprojekt rentiert sich auch wirtschaftlich nicht. Es dient im wesentlichen nur dem politischen Interesse des Kreml, die Gaslieferungen durch die Ukraine und andere osteuropäische Länder zu verringern und eventuell ganz stoppen zu können. Dennoch verstieg sich die schwarz-rote Bundesregierung anfangs zu der Behauptung, dass es sich um ein rein kommerzielles Projekt handele. Erst im April 2018 machte die Bundeskanzlerin Merkel vorsichtige Abstriche an dieser offiziellen Sprachregelung, indem sie vage einräumte, dass "auch politische Faktoren zu berücksichtigen sind" (180704).

Während die EU noch diskutierte, schuf Gazprom vollendete Tatsachen

Die Mehrheit der EU-Staaten lehnt "Nord Stream 2" ab, weil sie Nachteile für sich, für die Ukraine oder für die gesamteuropäische Situation befürchten. Klare Befürworter waren bisher nur Deutschland, Frankreich, Österreich, die Niederlande und Belgien. In diesen Staaten sind auch die fünf Energiekonzerne angesiedelt, die zunächst als Minderheitsgesellschafter der Gazprom in das Projekt einsteigen wollten (150905), sich dann aber wegen der starken Widerstände auf die Rolle von Geldgebern beschränkten (170406). Es handelt sich um BASF/Wintershall, Uniper (vormals E.ON), Engie (vormals GDF Suez), OMV und Shell. 

Mit dem Gesetzgebungsvorschlag der Kommission vom November 2017 errangen die Gegner des Projekts einen ersten Erfolg in der EU-internen Auseinandersetzung. Die Unterstützer von Nord Stream 2 spielten demgegenüber auf Zeit, indem sie eine Beschlussfassung über die Änderung der Gasrichtlinie so lange wie möglich verzögerten. Die Gazprom begann unterdessen schon mit dem Bau der Leitung, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Bis Ende dieses Jahres soll die Verlegung sämtlicher Röhren abgeschlossen sein.

Im Ministerrrat hatten Gegner wie Unterstützer des Projekts nur eine Sperrminorität

Sowohl im Ministerrat als auch im Parlament sind die Gegner von "Nord Stream 2" rein zahlenmäßig in der Mehrheit. Allerdings reicht nur im Parlament die einfache oder absolute Mehrheit der Stimmen für die Annahme oder Ablehnung eines Gesetzgebungsvorschlags. Im Ministerrat bedarf es dazu einer "qualifizierten Mehrheit". Das bedeutet konkret, dass mindestens 55 Prozent der Mitgliedsstaaten zustimmen müssen, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Die erste Voraussetzung wäre für die Gegner von Nord Stream 2 kein Problem gewesen. Die Hürde der qualifizierten Mehrheit hätten sie jedoch unter keinen Umständen überwinden können, da die fünf Unterstützer von Nord Stream 2 zusammen gut 36 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Beide Seiten konnten somit in dieser Frage keinen Mehrheitsbeschluss zustande bringen, eine Beschlussfassung aber zumindest blockieren (siehe Grafik).

Frankreich überraschte mit der Ankündigung, für den Vorschlag der Kommission zu stimmen

Als sich der Abstimmungstermin im Ministerrat nicht länger umgehen ließ, wollte die Berliner Regierung von dieser Blockademöglichkeit Gebrauch machen, um eine weitere Verzögerung erreichen. Die französische Regierung scherte aber plötzlich aus dem Fünfer-Bündnis aus. Anfang Februar teilte sie der Bundesregierung mit, dass sie bei der Sitzung des Ministerrats am 8. Februar für den Gesetzgebungsvorschlag der Kommission stimmen werde. Mit dem Umschwenken der Pariser Regierung wäre die unveränderte Annahme des Gesetzgebungsvorschlags der Kommission im Ministerrat möglich geworden, da Frankreich 13,09 Prozent der EU-Bevölkerung vertritt.

Am 6. Februar wurde der Dissens durch einen Bericht der "Süddeutschen Zeitung" publik. Das Blatt berief sich auf Informationen aus französischen Regierungskreisen. Auf Nachfrage bestätigte die Pariser Regierung den Bericht. Gleichzeitig wurde bekannt, daß Präsident Macron seine Teilnahme an der 54. Münchner Sicherheitskonferenz abgesagt hatte, auf der er Mitte Februar zusammen mit der Bundeskanzlerin Merkel auftreten sollte. Macron müsse sich um den Protest der "Gelbwesten" kümmern, hieß es seitens der Pariser Regierung.

Das Umschwenken Frankreichs in der Auseinandersetzung um Nord Stream 2 löste ein lebhaftes Medienecho aus. "Schwere Verstimmung zwischen Berlin und Paris wegen Nord Stream 2" titelte beispielsweise die "Frankfurter Allgemeine" (8.2.). Die Pariser Entscheidung überraschte auch deshalb, weil Merkel und Macron am 22. Januar in Aachen soeben erst einen "Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration" unterzeichnet hatten, der den ähnlich gearteten Elysée-Vertrag aus dem Jahr 1963 bekräftigt und aktualisiert.

Macron entschied die "Konfrontation zwischen Bercy und Quai d'Orsay" zugunsten des Außenministeriums

Macron wollte indessen an diesem Vertrag sicher nicht rütteln. Es ging ihm eher darum, ein Signal nach Berlin zu senden, dass unterschiedliche Positionen in politischen Fragen nicht einfach unter den Altar der deutsch-französischen Freundschaft gekehrt werden dürfen. Schließlich musste auch er es hinnehmen, dass die Berliner Regierung seine Initiativen zur Reform der Euro-Zone oder zur Einführung einer EU-weiten Digitalsteuer nicht unterstützte. Und der Aufruhr der "Gelbwesten" im eigenen Lande war für ihn in der Tat wichtiger als ein weiterer dekorativer Auftritt mit Merkel. Seine Teilnahme an der Münchener Schauveranstaltung hatte er sowieso schon früher abgesagt.

Der staatsnahe französische Energiekonzern Engie gehört zu dem Fünfer-Konsortium, das den Kreml beim Bau der zweiten Ostsee-Pipeline finanziell und – vor allem – als politischer Türöffner unterstützt. Allerdings hat er sich erst zum Schluss hinzugesellt, nachdem Gazprom die Konzerne E.ON und BASF/Wintershall (Deutschland), Shell (Niederlande) und OMV (Österreich) mit diversen Zusagen außerhalb des eigentlichen Geschäfts bereits geködert hatte (150806). Und auch danach blieb seine Beteiligung umstritten, zumal sich unter den EU-Staaten zunehmend Widerstand regte, an dem auch die ursprünglich geplante Beteiligung des Fünfer-Konsortiums an der Nord Stream 2 AG als Minderheitspartner der Gazprom scheiterte (170406).

Insofern spielte Macron nur die Rolle des Schiedsrichters bei einer "Konfrontation zwischen Bercy und Quai d'Orsay", wie das Pariser Wirtschaftsblatt "Les Echos" die unterschiedlichen Sichtweisen von Wirtschafts- und Außenministerium umschrieb. Am Quai d'Orsay hatte es Besorgnis ausgelöst, wie Frankreich mit seiner Unterstützung der Berliner Regierung in dieser Frage zahlreiche andere Staaten zu verprellen drohte. Das Projekt eines vereinigten Europa ist derzeit durch populistische, nationalistische oder schlichtweg korrupte Regierungen in verschiedenen Mitgliedsstaaten ohnehin einer harten Belastungsprobe ausgesetzt. Es wäre deshalb fatal, wenn Deutschland und Frankreich als Kern und wichtigste Stütze der EU die durchaus berechtigten Einwände gegen die Ostsee-Pipeline einfach vom Tisch wischen würden, wie das die schwarz-rote Bundesregierung versucht hat. Das gäbe den destruktiven Käften weiteren Auftrieb und würde dem Kreml bestätigen, dass sich seine immense Geldverschwendung für Nord Stream 2 wenigstens in politischer Hinsicht zu lohnen beginnt, indem sie die EU-Staaten auseinanderdividiert. In Berlin müßte man deshalb Macron eigentlich dankbar dafür sein, dass er die Notbremse gezogen hat, um noch größeren Schaden zu verhindern.

 


So hätte das Abstimmungsergebnis im EU-Ministerrat ausgesehen, wenn es Deutschland gelungen wäre, die Verschärfung der Gasrichtlinie mit Hilfe von Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Belgien gegen den Widerstand der übrigen 23 Mitgliedsstaaten zu blockieren. Die legislativen Beschlüsse des Rats bedürfen nämlich der Zustimmung von mindestens 55 Prozent der Mitgliedsstaaten, die überdies mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen. Die erste Hürde wäre für die Gegner von Nord Stream 2 leicht zu überspringen gewesen. Die zweite blieb aber unüberwindbar, weil die 23 übrigen EU-Staaten selbst bei größter Geschlossenheit nur einen Bevölkerungsanteil von 63,47 Prozent repräsentieren und deshalb die erforderliche "qualifizierte Mehrheit" nicht erreichen können. Das hätte sich allerdings mit dem Umschwenken Frankreichs geändert, das 13,09 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert. Die Berliner Regierung musste deshalb einlenken und über einen Kompromiß verhandeln.

 

Links (intern)