Dezember 2019 |
Hintergrund |
ENERGIE-CHRONIK |
Der Wortlaut des Schreibens der US-Senatoren an Allseas kann HIER heruntergeladen werden. |
Die US-Sanktionen wegen Nord Stream 2 entbehren jeglicher Vernunft und erinnern eher an Mafia-Methoden
(zu 191201)
Der Drohbrief war vom 18. Dezember datiert. Unterzeichnet hatten ihn die US-Senatoren Ted Cruz und Ron Johnson. Beide gehören der Republikanischen Partei an und stehen der sogenannten Tea-Party-Bewegung nahe. Sie sind prominente politische Vertreter jenes antiaufklärerischen Mainstreams in den USA, der im Zweifelsfall der biblischen Schöpfungslegende einen höheren Stellenwert als der Evolutionstheorie einräumt oder zumindest einen beliebig dehnbaren Begriff von Wissenschaft und Fakten hat. Zu den Wählern der Republikaner gehören insbesondere viele Millionen sogenannter evangelikaler Christen, Esoteriker aller Schattierungen, Waffennarren, Klimaleugner, Abtreibungsgegner, Befürworter der Todesstrafe, Rassisten, Verschwörungstheoretiker, Homophobe und ähnliche Geister. Zu ihren Sponsoren zählen insbesondere die Waffenlobby, die Rüstungsindustrie, Kohlekonzerne oder Gasförderer. Weit mehr als die Demokratische Partei – die auch schon bessere Zeiten erlebt hat – , repräsentieren die heutigen Republikaner jene düstere Seite der USA, die Medien wie "Fox News" und den noch immer amtierenden Präsidenten Donald Trump hervorgebracht hat.
Empfänger des Drohbriefs war der 72-jährige Niederländer Edward Heerema, dem die Allseas Group SA gehört. Dabei handelt es sich um eine ganz spezielle Reederei, die mit ihren Arbeitsschiffen weltweit die Installation von Offshore-Pipelines und den Bau von Unterwasserleitungen besorgt. Als weitere Besonderheit des Unternehmens fällt auf, dass es ausgerechnet in der Schweiz angesiedelt wurde, die über keinerlei Zugang zum Meer verfügt. Aber das dürfte steuerliche Gründe haben – ebenso wie bei der Nord Stream 2 AG, in deren Auftrag die Allseas-Schiffe bis vor kurzem die Röhren der zweiten russischen Gaspipeline durch die Ostsee verlegt haben.
Mit diesem Auftrag ist es vorbei, seitdem Heerema den Drohbrief erhalten hat. Die beiden US-Senatoren machten ihm nämlich unmißverständlich klar, dass er die Verlegearbeiten einstellen müsse. Und zwar sofort, nachdem US-Präsident Trump seine Unterschrift unter den "National Defense Authorization Act" gesetzt habe. Also nicht erst nach einer Karenzzeit von dreißig Tagen, wie das Gesetz vielfach falsch interpretiert worden sei. Schon die Fortsetzung der Arbeiten um einen einzigen Tag werde seine Firma "erdrückenden und potentiell tödlichen rechtlichen und wirtschaftlichen Sanktionen aussetzen". Zum Beispiel würden ihre Verlegeschiffe beschlagnahmt, sobald sie in den Zugriffsbereich der USA geraten. Außerdem würde alle Vermögenswerte des Unternehmens in den USA eingefroren, sämtliche Geschäftsbeziehungen mit US-Partnern unterbunden sowie alle Einreiseberechtigungen verweigert bzw. gelöscht. Dem Unternehmen bleibe somit nur die Wahl, die Pipeline entweder unvollendet zu lassen oder den "törichten Versuch zu unternehmen, die Pipeline noch schnell zu vollenden". Im zweiten Falle riskiere es, für alle Zeiten aus der Geschäftswelt zu verschwinden.
Es fehlte eigentlich nur noch die Patrone oder die Rasierklinge, welche die Mafia ihren Briefen beizulegen pflegt, um die Ernsthaftigkeit einer letzten Warnung zu unterstreichen. Die Drohung machte aber auch so genügend Eindruck. Die Allseas Group teilte unverzüglich mit, dass sie alle Verlegearbeiten in der Ostsee eingestellt habe, und zwar noch vor der Unterzeichnung des Gesetzes durch Trump, die am 20. Dezember stattfand.
Die "Pioneering Spirit" ist das größte
Arbeitsschiff, das die Allseas Group zur Verlegung von Nord Stream 2
eingesetzt hatte. Das Ungetüm entstand aus der Verbindung von zwei
Schiffen, zwischen denen die Röhren zusammengefügt und versenkt
werden.
Foto: Nord Stream 2 AG |
So schnell hat der Allseas-Chef nicht immer reagiert. Zum Beispiel dauerte es neun Jahre, bis er 2015 unter dem Druck einer wachsenden öffentlichen Empörung seinem größten Arbeitsschiff "Pieter Schelte" einen neuen Namen verlieh. Der alte war eine Hommage an seinen Vater Pieter Schelte Heerema, einen glühenden Antisemiten und Offizier der Waffen-SS, der nach dem Krieg nur deshalb relativ glimpflich davonkam, weil er rechtzeitig die Fronten wechselte. So eine Vergangenheit nehmen die Niederländer einem Landsmann noch mehr übel als einem Deutschen. Zum Schluß beugte sich Heerema aber auch hier dem wirtschaftlichem Druck. In diesem Fall kam der vom Shell-Konzern, der um sein Image bangte, weil er das Arbeitsschiff unter Vertrag genommen hatte. Die "Pieter Schelte" heißt seit der Umbenennung "Pioneering Spirit" (man beachte die Anfangsbuchstaben). Sie ist eines der sechs Allseas-Schiffe, die seit 2018 die Röhren der zweiten Ostsee-Pipeline verlegt haben.
Eigentlich sollte Nord Stream 2 schon Ende 2019 fertig sein. Die Arbeiten verzögerten sich aber durch eine noch ausstehende Genehmigung für einen 147 Kilometer langen Streckenabschnitt, die Dänemark erst Ende Oktober erteilt hat. Nach neuesten Angaben der Gazprom sollen insgesamt nur noch 160 Kilometer fehlen. Nach dem erzwungenen Abzug der Allseas-Schiffe werden die Russen nun nach einer anderen Möglichkeit suchen müssen, damit auch dieses letzte Stück noch verlegt wird. Dass ihnen dies gelingen wird, steht außer Zweifel. Auch die finanziell zur Hälfte beteiligten westlichen Energiekonzerne denken nicht daran, zehn Milliarden Euro einfach in der Ostsee zu versenken.
Schon gar nicht wird es den USA gelingen, die Position Polens und anderer Gegner der Pipeline innerhalb der EU zu stärken. Das Gegenteil ist der Fall: Es ist jetzt für die EU in ihrer Gesamtheit und ganz besonders für die deutsche Regierung zu einer Frage der Selbstachtung und Selbstbehauptung geworden, sich dieser unverschämten Einmischung und Erpressung nicht zu beugen. Da machen sogar bisherige Kritiker des Projekts mit.
Selbst dem borniertesten US-Politiker müsste deshalb klar sein, dass die angedrohte Vernichtung der Reederei Allseas zwar praktisch durchführbar wäre, aber die Vollendung und Inbetriebnahme der Pipeline nicht verhindern könnte. Das einzige, was erreicht werden könnte und schon jetzt erreicht wurde, ist ein großer Scherbenhaufen politischen Porzellans. Und der einzige Nutznießer ist dabei der Kreml, dessen diverse Pipeline-Projekte schon immer darauf zielten, die Risse innerhalb der Europäischen Union und des Nordatlantikpaktes zu vertiefen.
Auf der verzweifelten Suche nach so etwas wie Rationalität in dieser US-Politik wird man nicht fündig, auch wenn man die einschlägigen Passagen bei Macchiavelli rauf und runter liest. Die naheliegendste Erklärung scheint noch zu sein, dass es der US-Regierung in Wirklichkeit darum geht, die Absatzchancen von US-Flüssiggas auf dem europäischen Markt zu erhöhen. Allerdings mit untauglichen Mitteln. Denn die Röhren durch die Ostsee, deren Vollendung sie nicht verhindern können, werden selbstverständlich auch benutzt werden. Hinzu gibt es weiterhin die Transittrassen durch die Ukraine und Polen, die an sich schon völlig ausreichen würden, aber künftig mehr oder weniger ungenutzt bleiben.
Russland ist von seinen Gasexporten nach Westeuropa mindestens ebenso abhängig wie die EU von diesen Importen. Vermutlich ist die Abhängigkeit des Kreml noch größer, weil sonst sein desolater Staatshaushalt und das darauf aufbauende neo-feudalistische Pfründensystem völlig zusammenbrechen würden. Unabhängig davon wäre eine Vergrößerung der Kapazitäten der europäische LNG-Terminals aber tatsächlich sinnvoll, um den hohen Anteil russischer Lieferungen am europäischen Gasaufkommen zu senken oder wenigstens übertriebene Preisforderungen der Gazprom besser abwehren zu können, wie das Litauen mit der Errichtung eines LNG-Terminals für Flüssiggas aus Norwegen gelungen ist (150105). Der weitere Ausbau der europäischen LNG-Terminals wird nun aber von vornherein unter dem Verdacht stehen, von den USA erpresst worden zu sein. Erst recht gilt das für eine weitere Erhöhung der aus den USA bezogenen LNG-Mengen. Vor allem dann, wenn diese teuerer sind als die der anderen Anbieter von Flüssiggas. Und das ist nach Sachlage zu erwarten.
Bisher ist man in Brüssel und auch in Berlin den an sich unverschämten Forderungen aus Washington schon weit entgegengekommen (180803, 190305). Das wird nun schwieriger werden, zumal das Flüssigggas aus den USA eben teuerer ist als das von anderen potentiellen Anbietern. Es würde den US-Exporteuren deshalb wenig nützen, wenn es ihrer Regierung durch massiven politischen Druck auf die EU tatsächlich gelänge, die russischen Gaslieferungen so stark zu verringern, dass dadurch eine Bedarfslücke entsteht, die wiederum einen starken Gaspreisanstieg bewirkt. Den Nutzen hätten erst mal andere Importeure von LNG-Gas. Zumindest solange, wie es in diesem Bereich der Energiewirtschaft noch einigermaßen marktwirtschaftlich zugeht.
Aber in den USA, wo der amtierende Präsident den EU-Staat Belgien als "wunderschöne Stadt" bezeichnete, in der er schon mal gewesen sei, sieht man das halt alles ein bißchen anders. Zum Beispiel behauptete derselbe Präsident im Juli 2018, dass Deutschland mit der Inbetriebnahme der neuen Ostsee-Pipeline zu "fast siebzig Prozent" von russischen Lieferungen abhängig werde. Es mache sich damit zum "Gefangenen Russlands" und werde von diesem "vollkommen kontrolliert". Wörtlich wütete er: "Sie zahlen Milliarden Dollar an Russland, und dann müssen wir sie gegen Russland verteidigen." Den zaghaften Einwand des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, dass es selbst während des Kalten Kriegs Handel mit der damaligen Sowjetunion gegeben habe, ließ Trump nicht gelten, weil Energie "eine ganz andere Geschichte als normaler Handel" sei (180704).
Die Flüssiggas-Interessen standen bereits hinter den erweiterten Sanktionen, die der US-Kongress im Juli 2017 gegen den Kreml verhängte, weil er die ukrainische Halbinsel Krim unter Verletzung des Völkerrechts besetzt und dem eigenen Land zugeschlagen hat (140304). Schon damals ermöglichten diese Beschlüsse auch die Bestrafung ausländischer Firmen, die sich am Bau russischer Pipelines zum Export von Gas und Öl beteiligen (170705). Die Drohung richtete sich insbesondere gegen die fünf Energiekonzerne Engie, OMV, Shell, Uniper und Wintershall, die das Projekt einer zweiten Ostsee-Pipeline gemeinsam mit der russischen Gazprom gestartet haben und auch nach dem erzwungenen Verzicht auf ihre Beteiligungen an der Nord Stream AG als Finanzpartner des Alleinaktionärs Gazprom an Bord geblieben sind (170406). Potentiell betroffen waren außerdem das Flüssiggas-Terminal Baltic LNG, das Gazprom gemeinsam mit Shell plante, sowie der italienische Energiekonzern Eni, der mit Gazprom gemeinsam die Pipeline Blue Stream durchs Schwarze Meer betreibt. Ebenso wären schon Strafmaßnahmen gegen Verlegeschiffe möglich gewesen. Tatsächlich hatten die Sanktionsbeschlüsse aber keine Folgen. Offenbar hatte man sich im Kongress darauf verlassen, dass allein schon die Drohung Wirkung zeigen würde.
Die Folgenlosigkeit ihrer damaligen Sanktionsbeschlüsse scheint die US-Politiker indessen tief gekränkt und zu der jetzigen Neuauflage veranlaßt zu haben – mit gezielter Schussrichtung auf das Verlegeschiff-Unternehmen Allseas, das leichter anzugreifen und mit der Vernichtung zu bedrohen ist als das globale Interessengeflecht der Energiekonzerne. Vermutlich wurde der Unmut im Kongress noch diskret geschürt von Polen und anderen EU-Staaten, die Nord Stream 2 verhindern wollen, weil sie ihre eigene Gasversorgung oder die bisher kassierten Transitentgelte gefährdet sehen. Diese Fronde innerhalb der EU dient der US-Regierung jetzt als Beweis dafür, dass sie mit dem "Protecting Europe's Energy Act" tatsächlich europäische Interessen verteidige. Der Berliner US-Botschafter Richard Grenell berichtete, das ihm von nicht näher genannten europäischen Diplomaten ständig für diese "sehr proeuropäische Entscheidung" gedankt würde. Grenell ist bisher vor allem durch sein rüpelhaftes Benehmen aufgefallen und und ungefähr so glaubwürdig wie der US-Präsident. Völlig erlogen ist diese Darstellung aber sicher nicht. Vor allem das nationalistisch-autoritäre Regime in Warschau, das mit Brüssel auch wegen seiner fortgesetzten Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz über Kreuz liegt, betätigt sich oft und gern als Cheerleader für die USA.
Auf der anderen Seite hat aber auch die schwarz-rote Bundesregierung sehr viel zu dem Konflikt beigetragen. Schließlich war sie es, die überhaupt erst die notwendige politische Rückendeckung gab, als die Gazprom kurz nach der russischen Annektierung der Krim (140304) und der Entfachung des Bürgerkriegs im Osten der Ukraine (140401) erneut fünf westliche Energiekonzerne ins gemeinsame Boot holte, um die Kapazität der vor vier Jahren vollendeten ersten Ostsee-Pipeline zu verdoppeln (150905). Die Stoßrichtung dieses Projekts, das ursprünglich die von der EU geplante Pipeline "Nabucco" torpedieren helfen sollte (120509), richtete sich inzwischen nur noch gegen die durch die Ukraine führenden Haupttrasse "Brotherhood" sowie die durch Polen führende Transitleitung Jamal.
Es war von vornherein völlig klar, dass Nord Stream 2 dazu dienen sollte, die Haupttrasse des russischen Gasexports durch die Ukraine über kurz oder lang völlig stillzulegen und auch auf die Jamal verzichten zu können. Die Gazprom kann so jährlich Milliarden an Transitgebühren sparen, die zugleich dem Staatshaushalt der Ukraine abhanden kommen. Das zweite war aus Sicht des Kreml ein höchst willkommener Nebeneffekt, wenn nicht gar der Hauptgrund für den Bau der Leitung, denn die weitere Destabilisierung dieser wirtschaftlich wie politisch schwachbrüstigen ehemaligen Sowjetrepublik war und ist das strategische Ziel der Machthaber in Moskau. Überaus deutlich wurde dies im Januar 2009, als die Gazprom der Ukraine kurzerhand den Gashahn zudrehte, weil diese einen erpresserisch überhöhten Gaspreis nicht bezahlen konnte und sich auch auf ersatzweise verlangte politische Konzessionen nicht einlassen wollte. Die Ukraine griff ihrerseits zur Notwehr, indem sie ihr Pfandrecht an den Transitleitungen ausübte und sich aus den Importmengen für Westeuropa bediente. Weil die Gazprom daraufhin noch weniger Gas nach Westen pumpte, wurde die Belieferung der EU mit russischem Erdgas stark beeinträchtigt und zeitweilig sogar ganz eingestellt (090101).
Durch diesen winterlichen Schock wurde der EU ihre starke Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen noch bewußter, als dies zu Zeiten der Sowjetunion der Fall war, denn die damaligen Kreml-Herrscher waren über alle Zuspitzungen des Kalten Kriegs hinweg immer ein zuverlässiger Vertragspartner. Vor allem traf die EU nun Vorsorge, dass sich eine derartige Erpressung der Ukraine nicht wiederholen konnte, indem sie die durch Osteuropa führenden Pipeline-Stränge teilweise zur Schubumkehr ("reverse flow") befähigte (140402). Die Ukraine kann seitdem auch von Westen her mit Gas beliefert werden. Soweit es sich dabei um russisches Gas handelt, bleibt es eingebettet in die Lieferverpflichtungen der Gazprom gegenüber Westeuropa.
Die Berliner Regierung unterstützte also ein sehr bedenkliches und kritikwürdiges Vorhaben. Zugleich tat sie aber so, als ob die ganze Sache sie nichts anginge. Ihre offizielle Sprachregelung lautete, es handele sich um ein rein "kommerzielles Projekt", das quasi nebenbei auch noch einen "Beitrag zur Energiesicherheit Deutschlands und der EU leisten" könne (160512). Erst in der folgenden schwarz-roten Koalition rückte die Bundeskanzlerin Angela Merkel ein bißchen von diesem diplomatischen Zynismus ab, der schon immer aufreizend albern wirkte und im Grunde nur die bedingungslose Unterstützung des Projekts zum Ausdruck brachte. Nach einem Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko konzedierte sie am 10. April 2018 vor der Presse, "dass es sich nicht nur um ein wirtschaftliches Projekt handelt, sondern natürlich auch politische Faktoren zu berücksichtigen sind" (180704).
Es ließ sich auch nicht länger verhehlen, dass mehr als die Hälfte der EU-Staaten das Projekt ablehnte oder ihm zumindest skeptisch gegenüberstand. Dem trug die EU-Kommission Rechnung, als sie im November 2017 eine Neufassung der seit 2009 geltenden Gasrichtlinie (090401) vorschlug, um den Geltungsbereich der Regulierung auf die Hoheitsgewässer vor den Küsten der EU-Staaten zu erweitern (171109). Das hätte zur Folge gehabt, dass die Gazprom nicht zugleich Eigentümer und Betreiber der neuen Pipeline sein konnte. Sie hätte zumindest das Endstück der Leitung vor der deutschen Küste einer speziellen Betreibergesellschaft übertragen müssen, die ihrerseits den EU-Regulierungsvorschriften unterworfen gewesen wäre.
Die Mehrheit der EU-Staaten lehnte "Nord Stream 2" ab, weil sie Nachteile für sich, für die Ukraine oder für die gesamteuropäische Situation befürchteten. Klare Befürworter waren nur Deutschland, Frankreich, Österreich, die Niederlande und Belgien. In diesen Staaten sind auch die fünf Energiekonzerne angesiedelt, die zunächst als Minderheitsgesellschafter der Gazprom in das Projekt einsteigen wollten (150905), sich dann aber wegen der starken Widerstände auf die Rolle von Geldgebern beschränkten (170406). Es handelt sich um BASF/Wintershall, Uniper (vormals E.ON), Engie (vormals GDF Suez), OMV und Shell.
Mit dem Gesetzgebungsvorschlag der Kommission vom November 2017 errangen die Gegner des Projekts einen ersten Erfolg in der EU-internen Auseinandersetzung. Die Unterstützer von Nord Stream 2 spielten demgegenüber auf Zeit, indem sie eine Beschlussfassung über die Änderung der Gasrichtlinie so lange wie möglich verzögerten. Die Gazprom begann unterdessen schon mit dem Bau der Leitung, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Bis Ende 2019 sollte die Verlegung sämtlicher Röhren abgeschlossen sein.
Die deutsche Regierung trat unverhüllt als Beschützer der Gazprom auf, um dieser auch bei der neuen Pipeline die Alleinverfügung zu sichern. Angesichts des Kräfteverhältnisses im Europäischen Rat konnte es ihr zwar nicht gelingen, sich gegen die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs durchzusetzen, die die Richtlinie unterstützten. Sie konnte aber eine Beschlussfassung zumindest verhindern. Der Europäische Rat fasst nämlich seine legislativen Beschlüsse nicht mit einfacher Stimmenmehrheit. Vielmehr bedürfen diese der Zustimmung von mindestens 55 Prozent der Mitgliedsstaaten, die überdies mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen. Damit lief die Situation im Rat auf ein Patt hinaus, da keines der Lager beide Bedingungen zugleich erfüllen konnte.
Die Bundesregierung versuchte deshalb zunächst, weiterhin auf Zeit zu spielen, indem sie die in der Ratssitzung am 8. Februar 2019 anstehende Beschlussfassung über den Änderungsvorschlag der EU-Kommission vom November 2017 einfach abblocken wollte. Die dafür erforderliche Sperrminorität hätte sie mit Hilfe Frankreichs, der Niederlande, Österreichs und Belgiens erreicht, weil die restlichen 23 EU-Staaten dann zusammengenommen höchstens 63,47 Prozent der EU-Bevölkerung auf die Waage bringen konnten. Unerläßlich war dabei allerdings die Unterstützung Frankreichs, das 13,09 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentierte und damit nach Deutschland (16,10 Prozent) die gewichtigste Stimme hatte. Mit der Unterstützung Großbritanniens, das damals noch der EU angehörte und mit 12,85 Prozent das drittgrößte Mitspracherecht hatte, durfte sie dagegen nicht rechnen (190201).
Der französische Präsident Macron war es indessen leid, mit einem Partner durch dick und dünn zu gehen, dessen Position er in dieser Frage nicht teilte und der ihn außerdem wiederholt bei Angelegenheiten, die ihm selber wichtig waren, im Stich gelassen hatte. Anfang Februar 2019 ließ die Pariser Regierung deshalb die Berliner Kollegen wissen, dass sie den Vorschlag der Kommission unterstützen werde. Damit blieb der deutschen Regierung nichts anderes übrig, als eine Abstimmungsniederlage im Europäischen Rat zu riskieren oder endlich von ihrem hohen Ross abzusteigen.
Das Umschwenken Frankreichs in der Auseinandersetzung um Nord Stream 2 löste ein lebhaftes Medienecho aus, zumal Präsident Macron auch seine Teilnahme an der 54. Münchner Sicherheitskonferenz abgesagt hatte, auf der er Mitte Februar zusammen mit der Bundeskanzlerin Merkel auftreten sollte. "Schwere Verstimmung zwischen Berlin und Paris wegen Nord Stream 2" titelte die "Frankfurter Allgemeine" (8.2.). Die Pariser Entscheidung überraschte auch deshalb, weil Merkel und Macron am 22. Januar in Aachen soeben erst einen "Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration" unterzeichnet hatten, der den sogenannten Elysée-Vertrag aus dem Jahr 1963 bekräftigt und aktualisiert.
Notgedrungen einigte sich so die deutsche Regierung mit den Franzosen auf einen informellen Kompromiss zur Ausweitung der seit 2009 geltenden Gas-Richtlinie auf die Territorialgewässer der Mitgliedsstaaten, wie sie am 8. November 2017 von der Kommission vorgeschlagen wurde (171109). Nach überaus zähen Verhandlungen und einigen Änderungen wurde dieser Kompromiss am 12. Februar 2019 auch vom Europäischen Rat und dem EU-Parlament akzeptiert. Die Entflechtungsbestimmungen und andere Regeln des EU-Rechts galten damit auch für solche Gasleitungen, die aus Drittstaaten durchs Meer ins Gebiet der Europäischen Union führen, sobald sie das Küstenmeer jenes Mitgliedsstaats erreichen, in dem der erste Kopplungspunkt mit dem Gasnetz der EU liegt (Artikel 2, Nummer 17). Der Vorschlag der Kommission wurde aber unter anderem so modifiziert, dass über Ausnahmeregelungen für derartige Leitungen derjenige EU-Staat entscheidet, an dessen Küste sie anlanden (Artikel 34, Abs. 4 und Artikel 41, Abs. 1). Das war als Schlupfloch für "Nord Stream 2" gedacht. Damit blieb die deutsche Regierung für die derzeit im Bau befindliche zweite Ostsee-Pipeline zuständig. Die russische Gazprom brauchte somit nicht zu befürchten, dass ihr die Kommission mit dem verschärften Instrumentarium in die Quere kommt und eventuell sogar das ganze Projekt stoppt, wie das von etlichen Mitgliedsstaaten verlangt wurde.
Aber auch den Gegnern von Nord Stream 2 gelang es, eine vorläufig verdeckte Fußangel in der neugefassten Gasrichtlinie unterzubringen, die am 23. Mai 2019 in Kraft trat (siehe PDF). Zum Beispiel galt das für den Artikel 49a, der die Befreiung von der eigentumsrechtlichen Entflechtung auf Gasfernleitungen beschränkt und in der endgültigen Fassung der Richtlinie folgendermaßen lautet:
Für Gasfernleitungen zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittland, die vor dem 23. Mai 2019 fertiggestellt wurden, kann der Mitgliedstaat, in dem der erste Kopplungspunkt einer solchen Fernleitung mit dem Netz eines Mitgliedstaats gelegen ist, beschließen, in Bezug auf die Abschnitte einer solchen in seinem Hoheitsgebiet und Küstenmeer befindlichen Gasfernleitung aus objektiven Gründen, wie etwa, um eine Amortisierung der getätigten Investitionen zu ermöglichen, oder aus Gründen der Versorgungssicherheit, von den Artikeln 9, 10, 11 und 32 und von Artikel 41 Absätze 6, 8 und10 abzuweichen, sofern die Abweichung den Wettbewerb auf dem Erdgasbinnenmarkt der Union, dessen effektives Funktionieren des Erdgasbinnenmarktes oder die Versorgungssicherheit in der Union nicht beeinträchtigen würde.
Das Datum 23. Mai 2019 taucht so noch mehrfach in der Richtlinie auf (Artikel 1, Abs. 8; Artikel 9, Abs. 8 und Abs. 9; Artikel 14, Abs. 1). Die Intention war dabei – zumindest seitens der deutschen Regierung und ihrer Unterstützer – , die Gazprom von neu eingeführten Restriktionen zu befreien. Vor allem sollte es ihr durch zusätzliche Schlupflöcher ermöglicht werden, auch bei der neuen Ostsee-Pipeline sowohl Eigentümer als auch Betreiber zu sein, was ihr nach der neugefaßten Gasrichtlinie nun auch im Offshore-Bereich untersagt worden wäre, soweit die Leitung durch Hoheitsgewässer der EU-Staaten verläuft.
Erreicht wurde freilich genau das Gegenteil: Das Datum 23. Mai 2019 geriet zum Ausschlussdatum. Die Gazprom war ja mit den Verlegungsarbeiten noch lange nicht fertig. Damit wurden diese vermeintlichen Schlupflöcher zu ausweglosen Fallen. Die Gegner von Nord Stream 2 konnten sich nun gleich mehrfach auf die neue EU-Richtlinie berufen, um der Gazprom die Alleinverfügung streitig zu machen, wenn sie die neue Gaspipeline schon nicht mehr verhindern konnten.
Was war da passiert? Weshalb hatte die deutsche Regierung einer derartigen Regelung zugestimmt, die genau das verhinderte, was sie erreichen wollte? Hatte sie etwa ernsthaft damit gerechnet, dass die Pipeline bis zu diesem Datum fertig sein würde?
Das wohl nicht. Aber sie hatte anscheinend bei dem zähen Fingerhakeln um die Details der neuen Richtlinie schlicht den Überblick über das Ganze verloren. Schaut man sich nämlich die ursprüngliche Fassung des Richtlinienvorschlags vom 11. Februar 2019 an – beispielsweise den oben zitierten Artikel 49a – wird man feststellen, das das Datum 23. Mai 2019 nirgendwo auftaucht. Stattdessen findet man überall nur einen scheinbar unverfänglichen Platzhalter, der "Datum des Inkrafttretens dieser Richtlinie" lautet.
Offenbar bemerkten die Berliner Ministerialbürokraten die so entstandene Fußangel auch dann noch nicht, als sie die Richtlinie in nationales Recht umsetzten und im neuen § 28b des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) eine Befreiung der Gazprom von der eigentumsrechtlichen Entflechtung nur ermöglichten, wenn "die Leitung vor dem 23. Mai 2019 fertiggestellt wurde". Erst kurz vor der Beschlussfassung im Bundestag muss jemandem gedämmert haben, dass es damit der Bundesnetzagentur unmöglich gemacht wurde, den Antrag der Nord Stream 2 AG auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung von den geltenden Entflechtungsvorschriften zu genehmigen. Die Behörde verfügt zwar nur über eine beschränkte Eigenständigkeit gegenüber der Bundesregierung und dem Bundeswirtschaftsministerium, dem sie untersteht (180705). Ihre Dienstbarkeit gegenüber Weisungen und Wünschen der politischen Instanzen hört aber spätestens dort auf, wo es an den erforderlichen gesetzlichen Grundlagen fehlt. Und das wäre ganz klar der Fall gewesen, wenn die Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes in der vorgesehenen Weise erfolgt wäre.
"Die Änderung dient der Klarstellung", begründete der Wirtschaftsausschuss des Bundestags die in letzter Minute vorgenommene Streichung. In Wirklichkeit diente diese "Klarstellung" der Vernebelung des Originaltextes der neuen EU-Gasrichtlinie. Die EU-Richtlinie wurde damit nicht mehr "eins zu eins umgesetzt", wie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier fälschlicherweise versicherte. Sie wurde vielmehr auf anfechtbare Weise so zurechtgebogen, dass die Gazprom auch bei der zweiten Ostsee-Pipeline – wie schon bei der ersten – zugleich Eigentümer und Betreiber der Leitungen sein kann. Der 23. Mai 2019 taucht jetzt im Energiewirtschaftsgesetz nur noch in den neugefaßten Bestimmungen über "Unabhängige Transportnetzbetreiber" (§ 10) und "Unabhängige Systembetreiber" (§ 9) auf. Die Bezugnahme auf das Inkrafttreten der EU-Richtlinie ist hier unverfänglicher.
Weil am Wortlaut der EU-Richtlinie nun mal nicht zu rütteln war, unterstellte der von Union und SPD dominierte Wirtschaftsausschuss einfach, dass sie in diesem Punkt nicht wortwörtlich verstanden werden dürfe. Seine Argumentation lautete, dass der europäische Gesetzgeber mit dem Artikel 49a hauptsächlich den Vertrauensschutz für bereits getätigte Investitionen bezweckt habe. Daraus ergebe sich wiederum, dass "bei der Bestimmung, ob die Leitung vor dem Inkrafttretenstermin fertiggestellt worden ist, allen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen" sei. Es komme also weniger auf den Wortlaut als auf die eigentliche Intention des Gesetzgebers an. Und diese eigentliche Intention sei nun mal der Vertrauensschutz für die Milliarden gewesen, die von der Gazprom und ihren fünf westlichen Finanzpartnern in der Ostsee versenkt wurden, bevor die geänderte Gasrichtlinie in Kraft trat (191101).
Natürlich wäre die Richtlinie so nie zustande gekommen, wenn der deutschen Regierung klar gewesen wäre, welche Sprengkraft in dem scheinbar unverfänglichen Platzhalter "Datum des Inkrafttretens dieser Richtlinie" steckte. Ihr nachträgliches Herumdeuteln ändert aber nichts daran, dass ihr das einfach entgangen ist. Außerdem heisst das keineswegs, dass ihre Verhandlungspartner genauso schlafmützig waren. Die werden sich aber gehütet haben, sie auf die verborgene Fußangel aufmerksam zu machen. Vielleicht haben sie sogar so getan, als würden sie nur widerwillig der geplanten Privilegierung der Gazprom zustimmen, obwohl sie sich insgeheim schon über das Gegenteil freuten. Jedenfalls läßt sich von vornherein und pauschal nicht behaupten, dass der europäische Gesetzgeber eigentlich etwas anderes gemeint habe, als er das Datum des Inkrafttretens der Richtlinie zum Fallbeil für die vorgesehenen Privilegierungen der Gazprom machte.
Im Unterschied zur Bundesregierung stellte die Nord Stream 2 AG sehr schnell fest, dass da etwas schief gelaufen sein musste. Im Juli beantragte sie beim Gericht der Europäischen Union in Luxemburg die Nichtigkeitserklärung der Richtlinie, weil sie die EU-Grundsätze der Gleichbehandlung und Verhältnismäßigkeit verletze. Im September reichte sie zusätzlich eine Investorenschutzklage bei einem Schiedsgericht ein, weil die EU gegen gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 10 und 13 der sogenannten Energie-Charta verstoßen habe. Außerdem fragte sie schon im Juni bei der EU-Kommission an, ob die zweite Ostsee-Pipeline trotz der noch laufenden Bauarbeiten als "vor dem 23. Mai 2019 abgeschlossen" angesehen werden könne und deshalb für eine Ausnahmeregelung nach § 49a in Frage komme. Die Kommission antwortete darauf ausweichend, dass eine solche Entscheidung in die Zuständigkeit der deutschen Regierung falle, sofern dieser ein derartiger Antrag vorgelegt werde (190905).
Ziemlich schlafmützig war übrigens auch die Berichterstattung der deutschen Medien zu Nord Stream 2. Unkritisch wurde die Behauptung der Regierung übernommen, sie habe die neue Gasrichtlinie "eins zu eins" in nationales Recht umgesetzt. Völlig unerwähnt blieb die ganze Posse mit der verborgenen Fußangel, welche die Regierung übersehen hat, als sie der Neufassung der EU-Gasrichtlinie zustimmte.