Juli 2024

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK



Die Strommengen, denen per Redispatch über die Engpässe geholfen werden musste, erhöhten sich 2023 um weitere 1162 GWh gegenüber dem Vorjahr. Dennoch waren die Gesamtkosten um 37 Prozent geringer. Das lag freilich nur daran, dass sich das exorbitante Preisniveau des Jahres 2022 inzwischen wieder einigermaßen normalisiert hatte. Eine nähere Betrachtung zeigt indessen, dass auch die Kosten pro Gigawattstunde seit 2019 um etwa 42 Prozent gestiegen sind.

Die Börsen-Fiktion vom engpassfreien Netz belastet die Strompreise immer stärker

(zu 240704 /240705)

Im vergangenen Jahr verstopfte eine Strommenge von 34.297 Gigawatttunden die Engpässe im deutschen Netz. Damit sie dennoch zum Empfänger gelangen konnte, war ein aufwendiges Netzmanagement notwendig, das als "Redispatch" bezeichnet wird und zusätzliche Kosten von über drei Milliarden Euro verursachte. Trotz der eingeleiteten Netzausbaumaßnahmen ist mit einem weiteren Anstieg der Netzengpässe und der Redispatch-Kosten zu rechnen. Vor diesem Hintergrund kam es jetzt zu einer öffentlich geführten Auseinandersetzung um mögliche weitere Anpassungen der deutschen Stromhandelszone an die physikalischen Realitäten durch Einführung lokaler Preise an bestimmten Netzknotenpunkten (240705). Zum besseren Verständnis dieser aktuellen Kontroverse wird hier ein Blick auf die bisherige Entwicklung der Problematik geworfen.

Die Netzkosten steigen unentwegt, obwohl der Stromverbrauch nicht höher ist als 1990

Das Netzproblem ist seit langem chronisch und eine baldige Behebung nicht in Sicht. Die drei großen HGÜ-Trassen A-Nord/Ultranet, SuedLink und SuedOstLInk, die den Norden und Süden Deutschlands mit einer Kapazität von insgesamt 10 Gigawatt direkt miteinander verbinden sollen, werden erst Ende des Jahrzehnts zur Verfügung stehen. Mit der Fertigstellung der acht anderen HGÜ-Leitungen, die teilweise auch in Ost-West Richtung die bestehenden Netzengpässe überbrücken, ist nach bisherigem Planungsstand erst zwischen 2032 bis 2037 zu rechnen (240310).

Mit der Überbrückung von Netzengpässen durch HGÜ-Stromautobahnen ist es indessen nicht getan. Auch das nachgelagerte Drehstrom-Transportnetz sowie die Verteilnetze bedürfen vieler Veränderungen. Nicht nur der Laie fragt sich deshalb, wie dieser riesige Bedarf an Netzausbau überhaupt entstehen konnte und ob es nicht einfachere Lösungen gibt. Immerhin war der deutsche Bruttostromverbrauch im vergangenen Jahr mit 525,5 Terawattstunden sogar niedriger als im Jahr 1990 mit 549,9 TWh. Auch im Durchschnitt dieser 34 Jahre nach der Wiedervereinigung lag er nur bei 580 TWh (240308). Kann es denn so schwer sein, ein Land mit derart konstantem Stromverbrauch ohne Netzengpässe zu versorgen?

Energiepolitik setzte einseitig auf Erdgas-Kraftwerke statt auf Speichertechniken

Die Antwort lautet: Ja. - Leider ist es so schwer geworden, denn ein Vierteljahrhundert nach der Liberalisierung des Energiemarktes wird das Netz in ganz anderer Weise strapaziert als zuvor. Das liegt nicht bloß am Stromhandel, den es früher in dieser Weise gar nicht gegeben hat. Es kommt eine ganze Reihe von Faktoren zusammen, auf der Erzeugungs- wie auf der Nachfrageseite. So schwankt inzwischen nicht mehr nur die Lastkurve, deren Tälern und Höhen die Kraftwerke mit ihrer Stromerzeugung folgen müssen, damit das Gleichgewicht zwischen Verbrauch und Erzeugung erhalten bleibt. Auch ein immer größerer Teil der Stromerzeugung ist schwankend geworden, da er nur in Abhängigkeit vom Wind oder Sonnenlicht zur Verfügung seht. Das verhindert zwar keineswegs eine ganz auf erneuerbare Energien gegründete Stromversorgung, wie vielfach behauptet wird, setzt aber geeignete Techniken voraus, die in den letzten Jahrzehnten sträflich vernachlässigt wurden. Die Energiepolitik setzte nämlich einseitig auf Erdgas-Kraftwerke als flankierende technische Maßnahme statt auf Speicher- und Energieumwandlungstechniken für Grünstrom (210506). Vor allem versäumte man es, von vornherein die elektrolytische Umwandlung von überschüssigen Wind- und Solarstrom zu Wasserstoff anzustreben, der als Speichermedium und absolut sauberer Brennstoff für die noch benötigten Gaskraftwerke dienen kann.

Netzengpass-Kosten stiegen seit 2011 um das Achtzehnfache

Ein noch größerer Fehler war es aber, dem ungebremsten Stromhandel innerhalb der EEX-Börsenzone den Vorrang gegenüber einer immer stärker überlasteten Netzstruktur einzuräumen. Anstatt das Strommarktdesign den physikalischen Realitäten anzupassen, verfuhr man genau umgekehrt, indem man die Netztechnik mit Milliardenaufwand so strapazierte und zurechtbog, dass sie sich mit aller Gewalt doch noch in das Prokrustesbett der Börsen-Fiktion von einem engpassfreien Netz pressen ließ.

Anfangs bewegte sich das alles noch in einer juristischen Grauzone, weil die Politik es weitgehend den wirtschaftlichen Akteuren überließ, die Spielregeln des Geschäfts festzulegen. So konnte die Strombörse EEX ohne Rücksicht auf netztechnische Gegebenheiten einen einheitlichen Großhandelspreis für Deutschland/Österreich/Luxemburg dekretieren. Es gab zunächst auch keine gesetzliche Grundlage für den sogenannten Redispatch, mit dem die prompt auftretenden und sich schnell verschärfenden Netzengpässe scheinbar überwunden wurden. Vielmehr handelte es sich um freiwillige Vereinbarungen zwischen Übertragungsnetzbetreibern und Kraftwerksbetreibern. Die dadurch entstehenden Kosten beliefen sich im Jahr 2007 auf etwa 60 Millionen Euro. Sie verdoppelten sich aber 2011 auf mehr als 120 Millionen, obwohl die Redispatch-Menge deutlich geringer als 2007 war. Das lag daran, dass die Kraftwerksbetreiber über eine stärkere Verhandlungsposition als die Netzbetreiber verfügten und diese ausnutzen konnten, indem sie die spezifischen Kosten pro Redispatch-Megawattstunde um mehr als das Doppelte nach oben trieben (siehe die 3 Grafiken vom November 2012).

Die Bundesnetzagentur erließ daraufhin ein verbindliches Regelwerk für die technische Durchführung und finanzielle Abgeltung solcher Redispatch-Maßnahmen, das Ende 2012 in Kraft trat (121109). Damit wurden die Kraftwerksbetreiber ausdrücklich zum Redispatch verpflichtet und ihre Profite pro Megawattstunde gedeckelt. Zugleich wurde so die Börsen-Fiktion vom engpassfreien Netz erstmals amtlich anerkannt und finanziell abgesichert. Das war nicht nur für die EEX ein großes Geschenk. Auch die Kraftwerksbetreiber profitierten langfristig von dieser neuen Konstruktion, obwohl sie die Beschneidung ihrer auf Marktmacht gestützten Gewinne zunächst nicht akzeptieren wollten und mit Klagen gedroht hatten.

Die gesetzlich verankerte Regelung ermöglichte es nun, sämtliche Netzengpass-Kosten über die Netzentgelte auf die Stromverbraucher abzuwälzen. Neben dem konventionellen Redispatch gehörten dazu das sogenannte Countertrading, die Entschädigungen für die "Ausfallarbeit" von abgeregeltem Erneuerbaren-Strom (161213) sowie die Kosten der neu eingeführten "Netzreserve" (130605). Diese Gesamtkosten beliefen sich 2011 auf vorerst bescheidene 181 Millionen Euro. Bis 2023 wurden daraus aber 3,2 Milliarden Euro. Das war ungefähr das Achtzehnfache (siehe Grafik 2).

Der "Redispatch" ist im Grunde keine "Weiterleitung", sondern ein kostspieliger "Neuversand"

Es sind vor allem die in Norddeutschland und vor der Küste erzeugten Windstrommengen, die an den Netzengpässen scheitern. Genauer gesagt: Sie müssen abgeregelt werden, weil im näheren Umkreis ihrer Erzeugung nicht genügend Bedarf besteht, sie aber auch nicht zu den Verbrauchsschwerpunkten im Süden gelangen können, wo sie durchaus gebraucht würden. Für die Erzeuger ist das insoweit nicht besonders schlimm, als sie für die erzwungene "Ausfallarbeit" entschädigt werden müssen.

Das ist die eine Seite des sogenannten "Redispatch", der auf Deutsch soviel wie "Weiterleitung" oder "Neuversand" bedeutet, wobei der zweite Begriff der Sache näher kommt. Die abgeregelte Strommenge wird nämlich gar nicht weitergeleitet, sondern hinter dem Engpass neu erzeugt, indem dort gelegene Gas- oder Kohlekraftwerke ihre Leistung entsprechend erhöhen. Diese andere Seite kostet dann natürlich nochmals, weil die Kraftwerksbetreiber das nicht umsonst machen. - Aber auch nicht ungern, muss man hinzufügen, denn der Redispatch ist für sie eine ebenso wichtige Einnahmequelle wie für die Windpark-Betreiber die Entschädigungen für die Ausfallarbeit.

Konkret sah das im vergangenen Jahr so aus, dass eine Strommenge von 34,3 Terawattstunden vom "Netzengpassmanagement" erfasst wurde, zu dem außerdem noch Vorhaltung und Einsatz der Netzreserve sowie das "Countertrading" als handelsmäßige Variante des Redispatch gehören. Die Kosten dafür beliefen sich auf 3,1 Milliarden Euro (siehe Grafik 1). Dabei war Windstrom mit 9,7 Terawattstunden der bei weitem am meisten abgeregelte Energieträger, während der Ausgleich in aller Regel durch Gaskraftwerke (5,5 TWh) und Steinkohlekraftwerke (3,2 TWh) erfolgte.

Die Kosten der Börsen-Fiktion werden über die Netzentgelte auf die Stromverbraucher abgewälzt

Funktionieren kann dieses milliardenschwere Bäumchen-wechsel-dich-Spiel freilich nur, weil es vom gegenwärtigen Strommarktdesign vorgesehen ist und die dadurch entstehenden Kosten über die Netzentgelte auf die Stromverbraucher abgewälzt werden können. Zu den Nutznießern gehört dabei nicht zuletzt die in Leipzig ansässige Strombörse EEX mit ihrer Tochter EPEX Spot in Paris, die vor über zwei Jahrzehnten ziemlich eigenmächtig einen einheitlichen Großhandelspreis für ihre Zone einführte, die außer Deutschland noch Österreich und Luxemburg umfasste. Vorbild war dabei unverkennbar der Traum von der "europäischen Kupferplatte", zu dem sich technikfremde Stromhändler und andere Strom-Manager damals noch ziemlich ungeniert bekannten, während er für Fachleute eher ein Alptraum war - zumal für sie schon die Metapher "Kupferplatte" die Vision eines europaweiten Kurzschlusses heraufbeschwört (170310).

Aber auch das gut ausgebaute deutsche Stromnetz, das bis zur Liberalisierung allein der Versorgung von Haushalten, Gewerbe und Industrie mit elektrischer Energie diente, war keineswegs unbeschränkt belastungsfähig. Dasselbe galt für die netztechnische Verflechtung Deutschlands mit Österreich und Luxemburg, die aus historischen Gründen enger war als an anderen Grenzen. Die Börsen-Fiktion von einer grenzüberschreitenden Handelszone ohne Netzengpässe musste deshalb zu einem immer kostspieligeren Konflikt mit der netztechnischen Realität führen, je mehr Liberalisierung und Stromhandel voranschritten. Und natürlich auch zu einer entsprechenden Aufblähung der Netzkosten.

"Nutzen statt abregeln" nach § 13k EnWG ändert am Problem so gut wie nichts

Insofern hatte der Abgeordnete Ralph Lenkert recht, als er im November vorigen Jahres für die inzwischen zur "Gruppe" geschrumpfte Fraktion der LInken im Bundestag die Einfügung des neuen Paragraphen 13k ins Energiewirtschaftsgesetz ablehnte, der zwar vielversprechend mit "nutzen statt abregeln" betitelt ist, im Grunde aber nur eine weitere und ziemlich aufwendige Flickschusterei darstellt. "Ich will, dass diese Bundesregierung anfängt, zu denken", sagte Lenkert. "Dann würde sie endlich mehrere Stromgebotszonen einführen, statt 5,5 Milliarden Euro für eine einheitliche Stromgebotszone auszugeben, die nur süddeutschen Großkonzernen nutzt."

Ob die Aufteilung der einheitlichen EEX-Handelszone in mehrere Gebotszonen die beste Lösung wäre, ist allerdings auch unter Kritikern des aktuellen Strommarktdesigns umstritten. Schon vor drei Jahren erschien ein von zwanzig Autoren und mehreren Forschungsinstituten erarbeitetes "Whitepaper Electricity Spot Market Design 2030 - 2050" (PDF), das anstelle der Aufteilung in mehrere Preiszonen eine schrittweise Einführung von standortbezogenen Grenzpreisen empfahl. "Häufiges Zonensplitting ist mit wiederkehrenden politischen Debatten sowie kurz- und langfristigen Instabilitäten verbunden, die zum Beispiel die Grundlage für finanzielle Verträge beeinflussen", gaben die Verfasser zu bedenken. "Außerdem ist die Festlegung stabiler Preiszonen mit dem zunehmenden Anteil dezentraler und erneuerbarer Energiequellen eine große Herausforderung."

Diese Grafik veranschaulicht, wie die Netzengpass-Kosten sich von 2013 bis 2023 vervielfachten. Nebenbei lässt sie erkennen, wie die Kosten für den konventionellen Redispatch (blau) nach der 2018 erfolgten Auflösung der deutsch-österreichischen Stromhandelszone zwei Jahr lang zurückgingen, aber durch einen Anstieg der Vergütungen für die "Ausfallarbeit" von Windkraftanlagen kompensiert wurden (gelb). Die darauf folgenden Verschiebungen im Kostenspektrum waren auf "Redispatch 2.0" und die im Jahr 2022 kulminierende Gaspreiskrise zurückzuführen (231009).

(Hinweis: Die für 2022 und 2023 angegebenen Einzelwerte waren nur in auf- oder abgerundeter Form verfügbar, weshalb ihre Addition von den in Grafik 1 angegebenen Gesamtkosten nach oben bzw. unten abweicht).

 

Monopolkommission plädierte schon 2011 für mindestens zwei Preiszonen in Deutschland

Bemerkenswert bleibt, dass ausgerechnet die neoliberal ausgerichtete Monopolkommission schon 2011 für die Einführung von Preiszonen in Deutschland plädierte. In ihrem dritten Sondergutachten nach § 62 EnWG hielt sie es ökonomisch für falsch, Netzengpässe allein durch den Bau neuer Hochspannungsleitungen beseitigen zu wollen. Sie befürchtete, daß die dadurch entstehenden Kosten höher als der Nutzen sein könnten. Ersatzweise schlug sie die Einführung von mindestens zwei Preiszonen in Deutschland vor. Kraftwerke und Stromhändler könnten dann ihre Lieferungen nicht mehr von jedem beliebigen Punkt aus zum selben Preis ins Transportnetz einspeisen. Vielmehr würde der zu transportierende Strom zusammen mit der verfügbaren Transportkapazität versteigert. Bei Engpässen zwischen den Preiszonen würden so Stromlieferungen von außen teuerer als solche Einspeisungen, die innerhalb der Preiszone erfolgen. Durch diese Preisdifferenzen könnten Kraftwerksbetreiber veranlaßt werden, neue Anlagen bevorzugt an den Schwerpunkten des Verbrauchs zu errichten. Der Bau neuer Transportleitungen zur Heranführung des Stroms von verbrauchsfernen Kraftwerken könnte so vermieden und die Netzstabilität erhöht werden (siehe Hintergrund, September 2011).

Die Bundesnetzagentur hielt dagegen überhaupt nichts von solchen Vorschlägen. "Die Diskussion über die Schaffung mehrerer Großhandelspreiszonen für Strom in Deutschland gefährdet den geplanten Netzausbau und schadet dem Wettbewerb in Deutschland und Europa", befand sie im Oktober 2011 barsch (111011). Sie berief sich dabei auf die Ergebnisse eines Gutachtens, dass sie zur Abwehr entsprechender Pläne der EU-Kommission in Auftrag gegeben hatte. In diesem Gutachten wurde auch ausdrücklich die aktuell diskutierte Abtrennung Österreichs von der EEX-Handelszone abgelehnt. Fünf Jahre später musste die Behörde zumindest in diesem Punkt ihren Widerstand aufgeben und die deutschen Übertragungsnetzbetreiber auffordern, die Abtrennung Österreichs vorzubereiten (161016).

Ringflüsse erzwangen 2018 die Auflösung der deutsch-österreichischen Stromhandelszone

Die Abtrennung Österreichs von der EEX-Handelszone war die erste und bisher einzige Anpassung des Strommarktdesigns an die tatsächliche physikalische Belastung des Netzes. Sie ergab sich ab 2012 daraus, dass Polen und Tschechien ihre Kuppelstellen mit dem deutschen Stromnetz nicht mehr unbeschränkt zur Verfügung stellen wollten (120102). Der Grund waren die Engpässe bei den deutschen Netzverbindungen mit Österreich, die zu Ringflüssen über die Netze dieser beiden Länder führten und die Stabilität ihrer Übertragungsnetze gefährdeten. Die nationalen Netzbetreiber sahen sich deshalb zu technischen Abwehrmaßnahmen veranlasst, die auch von der europäischen Regulierungsbehörde ACER unterstützt wurden (150907, 170904, 180112). Bei diesen Ringflüssen handelte es sich hauptsächlich um Windstrom, der im Norden Deutschlands erzeugt wurde, wegen der Netzengpässe aber großteils nicht auf regulärem Wege nach Österreich gelangen konnte.

Vor allem die österreichische Wirtschaft sträubte sich damals heftig gegen die Auflösung der länderübergreifenden Strompreiszone (161102). Indessen wurde immer klarer, dass kein Weg darum herumführen würde, weil der internationale Druck einfach zu groß war und die Abwehrmaßnahmen gegen die Ringflüsse die Engpässe in Deutschland noch mehr belasteten (170501). Ab 1. Oktober 2018 verblieb deshalb neben Deutschland nur noch Luxemburg in der EEX-Handelszone. Die knapp ein Jahr zuvor von ACER beschlossene Auftrennung verlief völlig problemlos, wobei der Großhandelspreis für Österreich nun erwartungsgemäß höher war als der für die verbleibende Zone Deutschland/Luxemburg (181003). Dieser erreichte im November 2018 mit einem stundengewichteten Durchschnittspreis von 56,68 Euro/MWh nochmals einen Höhepunkt, sank dann aber bis April 2020 auf einen noch nie erreichten Tiefstand von 14,51 Euro/MWh. - Ein traumhaft niedriger Preis, wenn man bedenkt, dass im Juni 2024 der "Phelix base" noch immer bei 77,26 Euro/MWh lag, nachdem er zwei Jahre zuvor sogar bis auf 465,18 Euro hochgeschnellt war.

Bundesregierung dekretierte vorsichtshalber eine "einheitliche Stromgebotszone" für Deutschland

Parallel zur Auseinandersetzung um die Auflösung der deutsch-österreichischen Handelszone gab es schon damals eine Diskussion darüber, ob es nicht auch zweckmäßig wäre, innerhalb Deutschlands eine weitere Teilung der verbleibenden Zone vorzunehmen, die ungefähr entlang der Main-Linie verlaufen müsste. Von österreichischer Seite war dies sogar für vordringlich gehalten worden, weil die eigentlichen Netzengpässe gar nicht die deutsch-österreichischen Kuppelstellen seien, sondern zwischen Nord-und Süddeutschland liegen würden. Der Anreiz zum Handeln war in dieser Angelegenheit jedoch schwächer, weil der internationale Druck fehlte. Zudem beschloss die damalige Bundesregierung im November 2017 eine Änderung der Stromnetzzugangsverordnung, die seitdem durch den neu eingefügten § 3a ausdrücklich eine "einheitliche Stromgebotszone" innerhalb Deutschlands vorschreibt (171101). Damit wollte sie verhindern, dass nach der bereits terminierten Auflösung der deutsch-österreichischen Handelszone auch noch ein Neuzuschnitt der verbliebenen EEX-Handelszone auf quasi technokratischem Wege über EU-Kommission, Regulierungsbehörden und Übertragungsnetzbetreiber zustande kommt.

Als Alternative zu weiteren Aufteilungen der EEX-Handelszone wurde schon 2015 ein Nodalpreissystem vorgeschlagen, wie es jetzt die Gemüter erhitzt

Indessen gab es auch begründete Zweifel, ob ein solche Zweiteilung der Handelszonen ausreichen und nicht zu viele negative Effekte mit sich bringen würde. So vertrat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schon damals die Ansicht, dass "eine gezielte engpassorientierte Preisbildung für das gesamte deutsche Stromsystem" die bessere Lösung sei (150907). Gemeint war damit ein sogenanntes Nodalpreissystem, wie es jetzt zwölf Energieökonomen in dem Artikel forderten, der am 10. Juli unter der Überschrift "Der deutsche Strommarkt braucht lokale Preise" im Wirtschaftsteil der "Frankfurter Allgemeinen" erschien. Zur Begründung hieß es in diesem Artikel unter anderem:

"Die Redispatch-Reparatur beraubt Deutschland der Effizienz und Effektivität einer marktwirtschaftlichen Preissteuerung. Anstatt also einen Markteingriff mit seinen resultierenden physikalisch unmöglichen Entscheidungen mühselig und unvollständig zu reparieren, sollte der Weg freigemacht werden für Strompreise, die Angebot und Nachfrage regional ausgleichen und dadurch den lokalen Stromwert widerspiegeln. Der Strompreis an der Börse sollte dort höher sein, wo gerade hohe Nachfrage herrscht, und dort niedrig, wo in diesem Moment ein Überangebot vorliegt. Diese Verhältnisse ändern sich im Minutentakt, sodass die Preisunterschiede dynamisch variieren. Auf Grundlage solcher Preise können Kraftwerke, Speicher, Importe und Exporte sowie intelligenter Stromverbrauch netzdienlich optimiert werden und die durchschnittlichen Stromkosten senken."

Anstelle des bisher bundesweit einheitlichen Großhandelspreises halten die Verfasser also lokale Preise für erforderlich, welche die physikalische und ökonomische Realität widerspiegeln, anstatt diese Realität mit Milliardenaufwand der Strombörsen-Fiktion von einem engpassfreien Netz anzupassen. Im Grunde stimmt ihre Sichtweise mit dem bereits erwähnten Forschungspapier "Whitepaper Electricity Spot Market Design 2030 - 2050" überein, löste nun aber ein unvergleichbar größeres Echo aus. Das dürfte damit zu tun haben, dass dieses "Whitepaper" nur in englischer Sprache erschien, obwohl es letztendlich das deutsche Strommarktdesign betraf, überwiegend von deutschen Autoren und Forschungsinstituten erarbeitet wurde und mit Förderung durch das Bundesforschungsministerium zustande kam. Selbst in Fachkreisen wird die Bereitschaft zur Rückübersetzung von 61 Seiten englischem Wissenschafts-Esperanto nicht übermäßig groß gewesen sein.

Elf Wirtschaftsverbände und drei Gewerkschaften lehnen weitere Korrekturen an der EEX-Handelszone kategorisch ab

Das wurde nun aber ganz anders, nachdem dieselbe Sichtweise der Dinge unter der durchaus allgemeinverständlichen und auf manche sogar provozierend wirkenden Überschrift "Der deutsche Strommarkt braucht lokale Preise" in einer bundesweit verbreiteten Tageszeitung vertreten wurde. Gleich elf Wirtschafts- und Branchenverbände (siehe 240705) reagierten auf diesen Artikel unverzüglich und ziemlich allergisch mit einem "Gemeinsamen Appell führender Wirtschaftsverbände zum Erhalt der deutschen Stromgebotszone" (PDF). Dieser Appell war im wesentlichen identisch mit einer Stellungnahme, die am 20. Juli ebenfalls im Wirtschaftsteil der "Frankfurter Allgemeinen" veröffentlicht wurde. Neu war hier allerdings, dass die elf Wirtschaftsverbände nun zusätzlich noch vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) sowie seinen tonangebenden Einzelgewerkschaften IGM, IGBCE und Verdi unterstützt wurden. Entsprechend hieß es einleitend:

"Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände warnen gemeinsam vor der Aufteilung der einheitlichen deutschen Stromgebotszone. Die negativen Auswirkungen auf die Realwirtschaft sind nicht abzusehen und überlagern etwaige Vorteile."

Das war dann eigentlich schon die Quintessenz der gesamten Stellungnahme, denn über die Nachteile und Risiken, die anschließend ins Feld geführt wurden, lässt sich trefflich streiten. Letztendlich bleibt es jeweils eine Frage der Gewichtung, ob bei diesem Streit über ziemlich komplizierte ökonomisch-technische Sachverhalte in der Theorie die Vor- oder Nachteile überwiegen. Grundsätzlich dürften die Befürworter eines Nodalpreissystems gewisse Nachteile und Risiken des von ihnen favorisierten Verfahrens ebenso einräumen und im Auge behalten wie es die Wirtschaftsverbände in ihrer Stellungnahme vermieden haben, das von ihnen abgelehnte "Nodal Pricing" grundsätzlich als ungeeignet abzutun. Damit haben sie auch gut getan, denn lokale Preise an bestimmten Netzknoten oder regionale Strompreiszonen sind kein Novum. Vielmehr handelt es sich um probate Mittel, um in liberalisierten Märkten den Stromfluss mit den netztechnischen Gegebenheiten in Übereinstimmung zu bringen. Es gibt sie deshalb schon längst in den USA und auch in mehreren europäischen Ländern.

Die gemeinsame Stellungnahme von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften in der FAZ war betitelt mit "Die Energiewende braucht ein stabiles Fundament". Diesen Allgemeinplatz wird sicher jeder unterschreiben können. In diesem Fall klingt er aber eher wie: "Nur nicht dran rühren, denn es könnte noch schlimmer kommen." Stabil ist das derzeitige Fundament jedenfalls nicht.

Links (intern)

zu Netzengpässen und Redispatch

zur Auflösung der deutsch-österreichischen Strompreiszone

 

Links (extern, ohne Gewähr)