November 2023

231101

ENERGIE-CHRONIK


Verfassungsgericht kürzt den Klimafonds um 60 Milliarden Euro

Die Ampelkoalition verstieß gegen die im Grundgesetz verankerte "Schuldenbremse", als sie am 27. Januar 2022 den Bundestag beschließen ließ, bisher ungenutzte Kreditermächtigungen von 60 Milliarden Euro, die ursprünglich zur Abwehr von Folgen der Corona-Pandemie gedacht waren, auf den "Energie- und Klimafonds" zu übertragen. So entschied am 15. November der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, bei dem Anfang April 2022 sämtliche 197 Bundestagsabgeordneten der Unionsparteien eine entsprechende Klage eingereicht hatten.

Urteil gefährdet wichtige Verbraucher-Entlastungen

Der Regierungskoalition fehlen damit schlagartig 60 von 212 Milliarden Euro, die sie in den nächsten vier Jahren für eine Vielzahl von Ausgaben im Zusammenhang mit der Energiewende eingeplant hat. Dazu gehören auch Milliarden-Ausgaben, die unmittelbar den Verbrauchern zugute kommen, wie die komplette Übernahme der EEG-Kosten durch den Staat (231102) und die Subventionierung der Netzentgelte (231010). Ebenso betroffen sind Ausgaben wie die Bundeszuschüsse zur Errichtung eines Wasserstoff-Kernnetzes, dessen Planung soeben erst vorgestellt wurde (231104) oder zur Entlastung der Industrie von den Stromkosten (231103).

Auch der "Wirtschaftsstabilisierungsfonds" von 200 Milliarden Euro wackelt

Darüber hinaus stellt das Karlsruher Urteil den "Wirtschaftsstabilisierungsfonds Energie" in Frage. Das ist jener 200 Milliarden Euro umfassende "wirtschaftliche Abwehrschirm gegen die Folgen des russischen Angriffskriegs", den die Bundesregierung am 29. September 2022 beschloss (220904) und den der Bundeskanzler Scholz als "Doppel-Wumms" charakterisierte, nachdem er das zuvor beschlossene Sondervermögen von 100 Milliarden zur Aufrüstung der Bundeswehr als "Wumms" bezeichnet hatte (221101). Aus diesem Wirtschaftsstabilisierungsfonds werden vor allem die "Preisbremsen" für Strom (221201) sowie für Gas und Fernwärme (221203) bezahlt, die im Dezember 2022 beschlossen wurden.

Preisbremsen für Strom und Gas werden nur bis Ende März verlängert

Die Preisbremsen für Strom, Gas und Fernwärme sind vorerst bis Jahresende befristet, können aber durch eine Verordnung der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundestags bis 30. April 2024 verlängert werden. Der entsprechende Verordnungsentwurf der Bundesregierung lag seit Anfang November vor. In der vom Bundestag am 16. November beschlossenen Fassung wurde die Verlängerung aufgrund einer am Vortag gefassten Beschlussempfehlung jedoch auf Ende März verkürzt. Der Ausschuss für Klima und Energie begründete diese Verkürzung nicht mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das am selben Tag bekannt wurde, sondern mit einer angestrebten zeitlichen Angleichung an die von der EU-Kommission geplante Änderung des Befristeten Rahmens für staatliche Beihilfen zur Krisenbewältigung. Da war er aber offenbar schlecht informiert: Fünf Tage später verlängerte die EU-Kommission die Beihilfen zum Ausgleich der hohen Energiepreise bis Ende Juni.

Für die die -zig Millionen Strom- und Gaskunden ist sicher am wichtigsten, dass sie nicht mit einer Rückforderung der Ausgleichsbeträge rechnen müssen, die bereits an die Versorger geflossen sind bzw. bis zum Auslaufen der jetzigen Regelung noch gezahlt werden. Völlig unberührt vom Spruch des Bundesverfassungsgerichts bleibt auch der militärische "Wumms" von 100 Milliarden Euro, weil dieses neugeschaffene "Sondervermögen" zur Aufrüstung der Bundeswehr nicht der allgemeinen Schuldenregelung gemäß den Artikeln 109 und 115 des Grundgesetzes unterliegt, sondern über eine spezielle Ausnahmeregelung in Artikel 87a Abs. 1a der Verfassung eingefügt wurde.

Bundestag befasst sich mit Nachtragshaushalt 2023 und erneuter Aussetzung der Schuldenregel

Als erste Folge des Karlsruher Urteils hat der Haushaltsausschuss des Bundestags am 22. November seine für den folgenden Tag geplante Sitzung abgesagt. Dadurch entfiel bis auf weiteres die vorgesehene Abstimmung über den Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2024 und einen weiteren Regierungsentwurf für ein Haushaltsfinanzierungsgesetz. Stattdessen beschloss das Kabinett am 27. November einen Nachtragshaushalt für das Jahr 2023. Er kürzt nicht nur den "Klima- und Transformationsfonds" um 60 Milliarden, sondern auch die Ausgaben des "Wirtschaftsstabilisierungsfonds" um rund 122 Milliarden und der "Aufbauhilfe 2021" (Ahrtal) um rund elf Milliarden. Zugleich beantragten die Koalitionsfraktionen im Bundestag, die Schuldenregelung für das Jahr 2023 ein weiteres Mal außer Kraft zu setzen. Beide Vorlagen sollten am 1. Dezember vom Bundestag erstmalig behandelt werden.

Scholz: "Mit dem Wissen um die aktuelle Entscheidung hätten wir andere Wege beschritten"

Am 28. November gab Bundeskanzler Scholz zur Eröffnung der 139. Sitzung des Bundestags eine Regierungserklärung zur Haushaltslage ab (PDF). "Vieles im Umgang mit der Schuldenbremse war bislang rechtlich eher nicht eindeutig geklärt", erklärte er dabei unter Verweis auf die Begründung, mit der das Bundesverfassungsgericht am 22. November 2022 den Eilantrag der 197 Unionsabgeordneten zwar für zulässig gehalten, ihm aber nicht stattgegeben hatte. Indirekt wies er damit auch den Vorwurf der "Trickserei" zurück, der nun ihm und der Regierung generell gemacht wird, obwohl die von den Karlsruher Richtern beanstandete Verfahrensweise zumindest bis zur massiven Kritik des Bundesrechnungshofs als legal gelten konnte und bereits im Koalitionsvertrag angekündigt wurde (siehe das Kapitel "Haushaltspolitik" im Koalitionsvertrag).

"Mit dem Wissen um die aktuelle Entscheidung hätten wir im Winter 2021 andere Wege beschritten", räumte Scholz jetzt ein. Das Urteil betreffe die Haushaltspraxis "auch früherer und künftiger Regierungen" sowie die bisherige Praxis vieler Länder, die "zum Teil in ganz ähnlicher Weise wie der Bund Sondervermögen nutzen". Tatsächlich scheinen die Koalitionäre zunächst noch "bona fide" gehandelt zu haben. Getrickst – und zwar sehr stümperhaft – wurde erst, als das Bundesfinanzministerium die Warnungen des Bundesrechnungshofs in den Wind schlug und in der Begründung der am 23. Juni 2022 vom Bundestag beschlossenen "Weiterentwicklung" des Energie- und Klimafonds (EKF) zum Klima- und Transformationsfonds (KTF) die unzulässige Verschmelzung von Corona-Geldern und Klimafonds mit sprachlicher Kosmetik zu kaschieren versuchte (siehe Hintergrund).

Lindner schickt seinen Staatssekretär Werner Gatzer vorzeitig in den Ruhestand

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) versetzte am 24. November seinen Staatssekretär Werner Gatzer zum Jahresende in den einstweiligen Ruhestand. Zugleich dankte er ihm für seinen jahrzehntelangen Dienst im Finanzministerium: "Mit hohem persönlichen Einsatz und Tatkraft hat sich Staatssekretär Werner Gatzer um unser Land verdient gemacht."

Der 65-jährige Beamte mit SPD-Parteibuch gilt als Konstrukteur jener Verwendung ungenutzter Kreditermächtigungen für andere Zwecke, die Olaf Scholz als Bundesfinanzminister der schwarz-roten Koalition 2020 erstmals praktizierte (siehe Hintergrund). Dem Volljuristen und Fachmann müsste das juristische Konfliktpotential bekannt gewesen sein, das sich mit Blick auf die Schuldenregel ergab, zumal er an deren Ausarbeitung beteiligt war, als sie vor 14 Jahren dem Grundgesetz eingefügt wurde. Unklar bleibt jedoch, wie hoch er dieses "Restrisiko" veranschlagte und mit welcher Intensität er darauf hingewiesen haben könnte. Die politische Entscheidung lag jedenfalls nicht bei ihm, sondern bei dem amtierenden Finanzminister, der sich jetzt auf diese Weise von ihm distanziert und ihn quasi als Bauernopfer benutzt. Als politische Beamte können Staatssekretäre jederzeit ohne Begründung in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden.

Die Leitsätze des Karlsruher Urteils

Wer genau wissen will, wie der zweite Senat seine juristisch nachvollziehbare, aber politisch äußerst fatale Entscheidung begründet, kann sich den 62 Seiten umfassenden Text herunterladen (PDF). Im wesentlichen geht es darum, dass das oben erwähnte Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 nach Feststellung des Gerichts nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an notlagenbedingte Kreditaufnahmen entspricht. Die zu Beginn des Urteils angeführten Leitsätze lauten folgendermaßen:

1. a) Über den Wortlaut von Art. 109 Abs. 3 Satz 2 und Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG hinaus ist ein sachlicher Veranlassungszusammenhang zwischen der Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notsituation und der Überschreitung der Kreditobergrenzen erforderlich. Bei dessen Beurteilung kommt dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu.

b) Diesem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum korrespondiert eine Darlegungslast im Gesetzgebungsverfahren.

2. a) Die Geltung der Grundsätze der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit im Staatsschuldenrecht erstreckt sich auf die Ausnahmeregelung des Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG für Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen.

b) Sie können nicht dadurch außer Kraft gesetzt werden, dass der Haushaltsgesetzgeber eine Gestaltungsform wählt, bei der Kreditermächtigungen für ein juristisch unselbständiges Sondervermögen nutzbar gemacht werden.

3. Das Gebot der Vorherigkeit ist grundsätzlich auch bei der Aufstellung von Nachtragshaushalten zu beachten. Ein Nachtragsentwurf ist demnach bis zum Jahresende parlamentarisch zu beschließen.

Außerdem verstoße das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 im Hinblick auf den Zeitpunkt seines Erlasses gegen Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG, heißt es auf Seite 31 der Urteilsbegründung. Auf einen möglichen Verstoß gegen die Grundsätze der Haushaltsklarheit und -wahrheit gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG komme es deshalb nicht mehr an.

 

Links (intern)

zum "Energie- und Klimafonds"

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