November 2023 |
Hintergrund |
ENERGIE-CHRONIK |
Das Karlsruher Urteil zur "Schuldenbremse" kommt nicht aus heiterem Himmel, sondern war für jeden sichtbar im Koalitionsvertrag angelegt
(zu 231101)
Als "Schuldenbremse" wird umgangssprachlich eine Schuldenregelung bezeichnet, die am 29. Mai 2009 von einer Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundestags beschlossen wurde, die aus den Abgeordneten der damaligen Regierungsparteien CDU, CSU und SPD bestand. Grüne und Linke stimmten gegen das Gesetz, während die FDP sich enthielt.
Da die Vorschrift in den Artikeln 109 und 115 des Grundgesetzes verankert wurde, kann sie auch nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit wieder abgeschafft oder geändert werden. Sie hatte deshalb bis heute Bestand, obwohl sie durchaus umstritten war und blieb. Sie begrenzt den finanziellen Spielraum von Bund und Ländern durch die Verpflichtung, dass sie ihre Haushalte " grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen" haben. Daraus ergibt sich nach dem jetzt ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch ein Verbot der Übertragung jener ungenutzten Kreditermächtigungen, die zu Beginn der Corona-Epidemie (200502) mit dem am 27. März 2020 vom Bundestag beschlossenen "Wirtschaftsstabilisierungsfondsgesetz" zur Stützung von Unternehmen vorgesehen wurden.
Da die Ampelkoalition über keine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag verfügt, kam sie auf die Idee, diese ungenutzt gebliebenen Kreditermächtigungen des Corona-Wirtschaftsstabilisierungsfonds durch einfachen Mehrheitsbeschluss des Bundestags in den bisherigen "Energie- und Klimafonds" zu überführen, der dann ab 22. Juli 2022 die neue Bezeichnung "Klima- und Transformationsfonds" bekam.
Diesen "Energie- und Klimafonds" gab es seit dem Jahr 2010. Ursprünglich war er von der damaligen schwarz-gelben Koalition gegründet worden, um mit der "Brennelementesteuer" gefüllt zu werden, welche die KKW-Betreiber als Gegenleistung für die enorme Laufzeiten-Verlängerung aller deutschen Atomkraftwerke zahlen sollten (101002). Diese Einnahmen brachen dann aber weg, weil die Laufzeiten-Verlängerungen nach der Reaktor-Katastrophe in Fukushima zurückgenommen wurden (110403). Dem Fonds wurden daraufhin neue Einnahmen und Ausgaben zugewiesen (110606). Zu den Einnahmen gehörten nun vor allem die Erlöse aus dem Handel mit Emissionszertifikaten. Die Ausgaben flossen in Maßnahmen wie die Wärmedämmung bei Altbauten (121202), Strompreis-Beihilfen für Industrie (130708), Subventionen für den Kauf von Elektroautos (180102) oder in die Absenkung der EEG-Umlage (220410). Nach ihrem atompolitischen Schwenk wollte die schwarz-gelbe Koalition aus dem Klimafonds sogar den Bau von fossil befeuerten Kraftwerken fördern (110709).
Die Überführung ungenutzter Corona-Kredite in den "Energie- und Klimafonds" hatten SPD, Grüne und FDP bereits bei ihren Koalitionsverhandlungen in Betracht gezogen. Der Anstoß kam vom heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), als dieser noch geschäftsführender Bundesfinanzminister der schwarz-roten Koalition war. Scholz und sein Staatssekretär Werner Gatzer hatten nämlich schon mit dem zweiten Nachtragshaushalt für 2020, den der Bundestag am 2. Juli 2020 beschloss, noch ungenutzte Mittel in Höhe von 26,166 Milliarden Euro aus dem Corona-Fonds in den Energie- und Klimafonds umgeschichtet, wovon elf Milliarden der damaligen Senkung der EEG-Umlage (231102) dienten.
Als nach der Bundestagswahl SPD, Grüne und FDP über die Bildung einer gemeinsamen Regierung verhandelten, fanden alle drei beteiligten Parteien Gefallen an der Wiederholung einer solchen Umschichtung zur Lösung der sich abzeichnenden Finanzprobleme. Man hielt die Vorgehensweise auch für legitim und wollte sie keineswegs verheimlichen. Auf Seite 127 des Koalitionsvertrags, der am 7. Dezember 2020 unterzeichnet wurde, hieß es unmißverständlich:
"Wir werden den Energie- und Klimafonds (EKF) zu einem Klima- und Transformationsfonds weiterentwickeln. Wir werden im Haushalt 2021 Mittel aus bereits veranschlagten und nicht genutzten Kreditermächtigungen über einen Nachtragshaushalt dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) zweckgebunden für zusätzliche Klimaschutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Transformation der deutschen Wirtschaft zur Verfügung stellen. Damit sollen die Folgen der Corona-Pandemie und die zeitgleich bestehenden Risiken für die Erholung der Wirtschaft und der Staatsfinanzen durch die weltweite Klimakrise bekämpft werden und aufgrund der Pandemie nicht erfolgte Investitionen in den Klimaschutz nachgeholt werden können."
Und so geschah es dann auch: In einem zweiten Nachtragshaushalt für 2021, den der Bundestag am 27. Januar 2022 mit den Stimmen der Ampelkoalition beschloss, wurden die ungenutzten Kreditermächtigungen für Corona-Hilfen dem "Energie- und Klimafonds" übertragen. Zuvor billigten die Abgeordneten in namentlicher Abstimmung einen Antrag der Koalitionsfraktionen, diese Übertragung von der "Schuldenbremse" im Grundgesetz auszunehmen. Der Artikel 115 des Grundgesetzes erlaubt dies nämlich mit einfacher Mehrheit allerdings nur "im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen".
Bei der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf bekam die Ampelkoalition erstmals kräftigen Gegenwind von kompetenter Seite. Er kam vom Bundesrechnungshof, dem in seiner Stellungnahme vom 6. Januar 2022 die Zuweisung der 60 Milliarden Euro an den Energie- und Klimafonds "unter mehreren Aspekten verfassungsrechtlich zweifelhaft" erschien: Der Klimawandel stelle keine außergewöhnliche Notsituation im Sinne des Artikels 115 dar. Dieser setze vielmehr voraus, "dass es sich um eine akute, plötzlich auftretende Krise handelt, deren Bewältigung schnelle, zeitlich begrenzte Finanzierungsanstrengungen erfordert". Beim Klimawandel handele es sich dagegen "um eine dauerhafte Herausforderung, der außerhalb der Notlagenindikation der Schuldenregel dauerhaft finanzwirtschaftlich zu begegnen ist".
In ihrer Begründung zu dem Gesetz versuche die Regierung zwar, einen solchen unmittelbaren Zusammenhang herzustellen, hieß es in der Stellungnahme des Bundesrechnungshofs weiter. Es handele sich dabei aber nur um die dürftige Behauptung, die 60 Milliarden seien zur Überwindung der pandemiebedingten Notsituation erforderlich. "Würde man eine solche pauschale Begründung als stichhaltig anerkennen, würde damit einer uferlosen Neuverschuldung der Weg bereitet." Außerdem sei dann zuerst einmal die in den Jahren 2015 bis 2019 angesammelte Rücklage von insgesamt 48,2 Milliarden Euro zu verwenden.
Der Rechnungshof kritisierte noch einen weiteren Punkt des Gesetzes, den die Koalitionäre ebenfalls schon in ihrem Vertrag angekündigt hatten und mit wohlklingenden Worten so umschrieben: "Die Berücksichtigung der Sondervermögen in der Schuldenregel erfolgt künftig 1:1 in dem verfassungsrechtlich erforderlichen Umfang. Als Ausgaben im Rahmen der Schuldenregel werden dann die Zuführungen des Bundes erfasst, nicht mehr doppelt auch die Mittelabflüsse aus den Sondervermögen."
Aus Sicht der Rechnungsprüfer ergab diese euphemistische Formulierung im Klartext jedoch folgenden Sinn: "Der Grundsatz der Jährlichkeit sowie die Funktion des Haushaltsplans als Instrument zur Deckung des für das Planungsjahr erwarteten Ausgabebedarfs werden im 2. Nachtragsetat 2021 missachtet. Unter Ausnutzung aufgeblähter Notlagenkredite wird das verfassungsrechtliche Verbot der Bildung von Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung ausgehebelt."
Spätestens jetzt hätte der Koalition dämmern müssen, dass sie sich auf einem Irrweg befand und nicht mehr in Anspruch nehmen konnte, guten Gewissens zu handeln, wenn sie ihn weiter beschritt. Stattdessen trat sie jedoch die Flucht nach vorn an und präsentierte nach demselben Muster einen Gesetzentwurf zur "Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens ,Energie- und Klimafonds‘“, über den der Bundestag erstmals am 12. Mai 2022 debattierte. Dieses Gesetz vollzog die Umbenennung des bisherigen "Energie- und Klimafonds" (EKF) in "Klima- und Transformationsfonds" (KTF). Zugleich enthielt es erneut die bloße Behauptung, zur Überwindung einer pandemiebedingten Notsituation die Gelder aus dem Corona-Fonds für andere Zwecke verwenden zu müssen, obwohl diese bereits vom Bundesrechnungshof zerpflückt worden war.
So trug der neu eingefügte Paragraph 2a des Klimafonds-Gesetzes nun die Überschrift "Verwendung der Mittel zur Überwindung der Folgen der COVID-19-Pandemie", obwohl er eigentlich nur auf die Verwendung des neu strukturierten "Sondervermögens" zu anderen Zwecken zielte. Um dennoch eine scheinbare Verbindung herzustellen, war zunächst von "zielgerichteten wachstumsfördernden Maßnahmen zur Abfederung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie" die Rede. "Im Rahmen dieses Zwecks" so ging es dann mit brüchiger Logik weiter – sollten die Corona-Kredite auch für eine ganze Reihe von Maßnahmen verwendet werden dürfen, welche "die notwendige Transformation zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Volkswirtschaft unterstützen und Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft langfristig sichern und stärken". Im einzelnen wurden dann aufgeführt:
1. Förderung von Investitionen in Maßnahmen der Energieeffizienz und erneuerbarer Energien im Gebäudebereich,
2. Förderung von Investitionen für eine kohlendioxidneutrale Mobilität,
3. Förderung von Investitionen in neue Produktionsanlagen in Industriebranchen mit emissionsintensiven Prozessen über Klimaschutzverträge,
4. Förderung von Investitionen zum Ausbau einer Infrastruktur einer kohlendioxidneutralen Energieversorgung oder
5. Stärkung der Nachfrage privater Verbraucherinnen und Verbraucher und des gewerblichen Mittelstands durch die Abschaffung der EEG-Umlage.
Diese Verknüpfung von zwei unterschiedlichen Ausgabenbereichen unter dem Dach eines "Klima- und Transformationsfonds" erfolgte ausschließlich mittels sprachlicher Kosmetik. Juristisch durchdacht war sie nicht. Die Chuzpe, mit der hier unterschiedliche Zwecke durch die leere Worthülse "im Rahmen dieses Zwecks" kurzerhand zwangsverknüpft wurden, musste auf Juristen sogar provozierend wirken.
Vor allem gab der Bundesrechnungshof nicht einfach klein bei, nachdem das Bundesfinanzministerium seine Anfang 2022 geäußerte Kritik als unbegründet zurückgewiesen hatte und gerade so weiter machte. Eineinhalb Jahre später, am 25. August 2023, veröffentlichte die unabhängige Behörde einen 32 Seiten umfassenden Bericht unter der Überschrift "Sondervermögen gefährden parlamentarisches Budgetrecht und Wirksamkeit der Schuldenregel" (PDF). Demnach bestehen beim Bund insgesamt 29 solche "Sondervermögen". Drei davon darunter das für den Wiederaufbau einst sehr wichtige ERP-Sondervermögen stammen aus den fünfziger Jahren, acht weitere aus der Zeit bis zur Jahrtausendwende und die restlichen 18 kamen anschließend bis heute zustande.
Wie zu erwarten war, kritisierte der Bundesrechnungshof vor allem die beiden "Wirtschaftsstabilisierungsfonds" zur Corona-Krise (2020) und zur Wirtschaftskrise (2022) sowie den aus dem Jahr 2010 stammenden Energie- und Klimafonds, der seit einem Jahr "Klima- und Transformationsfonds" hieß. Durch solche "Sondervermögen" werde der Bundeshaushalt entkernt und laufe Gefahr, seine zentrale Funktion einzubüßen. "Auch der bis dahin beispiellose Schritt der Einrichtung des Sondervermögens Bundeswehr im Wege einer Verfassungsänderung bei gleichzeitiger Ausklammerung der von diesem Sondervermögen aufzunehmenden Schulden aus den Restriktionen der Schuldenregel sollte sich nicht wiederholen", hieß es weiter.
Um alle Mißverständnisse auszuräumen, was das so schön klingende Wort "Sondervermögen" eigentlich bedeutet, stellte die Behörde klipp und klar fest: "Ihre Werthaltigkeit suggerierende Bezeichnung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sondervermögen tatsächlich weit überwiegend entweder ausgelagerte Schuldentöpfe sind oder finanziell am 'Tropf' des kreditfinanzierten Bundeshaushaltes hängen. In der Gesamtschau ist es deshalb zutreffender von 'Sonderschulden' als von Sondervermögen zu sprechen."
Diese Kritik des Rechnungshofs wurde vom Bundesfinanzministerium wie schon zuvor zurückgewiesen, dürfte aber zumindest in Karlsruhe beachtet worden sein. Die Klage der 197 Unionsabgeordneten hatte deshalb bessere Chancen, als die Koalition bis zum Schluss erwartete. In Regierungskreisen rechnete man allenfalls mit einem ziemlich verschwiemelten Urteil, das letztendlich doch den Zugriff auf die Corona-Kreditermächtigung erlaubt hätte. Es gab ja durchaus schon Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die eher von einer wie auch immer gearteten Staatsräson als von streng juristischer Sicht auf den Wortlaut der Verfassung geprägt waren. Das wohl krasseste Beispiel sind die Urteile, mit denen die Karlsruher Richter zur Zeit des Kalten Kriegs den "Radikalenerlass" rechtfertigten (siehe "Der Radikalenerlass").
Sogar die 197 Kläger der Unionsparteien dürften keinen großartigen Erfolg erwartet haben, nachdem das Gericht ihren Eilantrag am 22. November 2022 zwar für zulässig erklärte, aber eine sofortige Entscheidung ablehnte, "weil die Tatbestandsvoraussetzungen der maßgeblichen Verfassungsnormen in der Rechtsprechung des Senats bislang noch keine Konturierung erfahren haben". Anschließend ließ sich das Gericht ein ganzes Jahr Zeit, bevor es zu dem jetzigen Paukenschlag ausholte.
Wahrscheinlich ging es den Unionsparteien mit ihrem Antrag hauptsächlich darum, sich publikumswirksam als Verfechter der "Schuldenbremse" zu profilieren so wie das innerhalb der Koalition auch die FDP immer wieder tat, ohne jedoch die großzügige Auslegung dieser Schuldenregelung durch die Bundesregierung grundsätzlich in Frage zu stellen, wie sich das die oppositionelle Union leisten konnte. Im Gegenteil: Die nun beanstandete Finanzpolitik wurde von der FDP bis zum Karlsruher Urteil aktiv mitgetragen und durch ihren Bundesfinanzminister Christian Lindner repräsentiert. Das ständige Bekenntnis zur Schuldenbremse und deren faktische Mißachtung gingen bei der FDP eine schizophrene Verbindung ein. Als im August der Berliner Regierungschef Kai Wegner (CDU) aus der Reihe tanzte und ein Aussetzen der Schuldenbremse forderte, hieß es von Lindner sogar: "Zum Glück hat die Schuldenbremse Verfassungsrang und ist nicht ins Belieben von Politikern gestellt."
Vermutlich wäre das Karlsruher Urteil etwas anders ausgefallen, wenn schon zu Zeiten der schwarz-roten Koalition eine der Oppositionsparteien gegen die Umschichtung der 26 Milliarden Euro aus dem Corona- in den Klimafonds geklagt hätte, die der damalige Bundesfinanzminister Scholz und sein Staatssekretär Gatzer ungehindert vornehmen konnten. In jedem Fall wären die Folgen nicht so desaströs gewesen wie jetzt.