März 2011 |
110304 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die 27 Staats- und Regierungschefs der EU beschlossen am 25. März bei einem Gipfeltreffen in Brüssel unter anderem, die Sicherheit aller kerntechnischen Anlagen der EU "mittels einer umfassenden und transparenten Risiko- und Sicherheitsbewertung" prüfen zu lassen. Diese "Stresstests" bleiben jedoch freiwillig und erfolgen ausdrücklich "unter Hinweis darauf, daß der Energiemix in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt". Die von der deutschen Regierung geforderte Selbstverpflichtung aller EU-Staaten zur Beteiligung an dem Test wird es nicht geben. Sie scheiterte vor allem am Widerstand Großbritanniens.
Unter dem Eindruck der noch immer unbewältigen Reaktorkatastrophe in Japan (110301) folgte der Rat damit doch noch einem Vorschlag von EU-Energiekommissar Günther Oettinger, der zunächst auf wenig Gegenliebe gestoßen war. Die meisten der 14 EU-Länder, in denen Kernkraftwerke in Betrieb sind - insgesamt handelt es sich um 143 Reaktoren - , witterten hinter dem Vorschlag vor allem eine innenpolitische Schützenhilfe für Oettingers Parteifreundin Angela Merkel und den Versuch, diese bei ihrem abrupten Kursschwenk in der Atompolitik zu unterstützen (110303).
Mit dem Ratsbeschluß erhält die EU-Kommission nun grünes Licht, um die im Juni 2009 verabschiedete Richtlinie zur Sicherheit kerntechnischer Anlagen (090603) enger zu ziehen und ihre Kompetenzen auf diesem Gebiet zu erweitern. Sie wird "den bestehenden Rahmen der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Sicherheit kerntechnischer Anlagen überprüfen und bis Ende 2011 alle erforderlichen Verbesserungen vorschlagen". Die Mitgliedstaaten sollen ferner dafür sorgen, daß die geltende Richtlinie "vollständig umgesetzt" und der seit November 2010 vorliegende Vorschlag für eine Richtlinie über die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle (101111) "so rasch wie möglich verabschiedet" wird.
Bereits am 12. März, als die Katastrophe bekannt wurde, hatte Oettinger Vertreter der nationalen Atomaufsichtsbehörden sowie der Kernkraftwerksindustrie und der Betreiber zu einem Treffen am 15. März in Brüssel eingeladen, um die Folgen des Unfalls zu bewerten und gegebenenfalls "proaktiv Maßnahmen zu ergreifen". Viele EU-Staaten, darunter auch Deutschland, entsandten zu diesem Treffen keine Minister, sondern nur höhere Beamte. Als Ergebnis konnte Oettinger am 16. März vermelden: "There was consensus among all stakeholders to take joint work forward on voluntary stress test of nuclear power plants. The EU will also look into possibilities to commit neighbouring countries and the international level towards undertaking such voluntary stress tests as well." (Wie so oft gab es den Text nur auf englisch, obwohl Deutsch offiziell zu den drei Amtssprachen gehört und überhaupt die meistgesprochene Sprache in der EU ist.)
Mit dem "consensus" über die "stress tests" war es dann aber doch nicht so weit her, wie sich bei einem weiteren Sondertreffen der Energieminister am 21. März in Brüssel herausstellte. Vor allem Großbritannien wollte nichts davon wissen. Auch Frankreich wollte seine 58 Reaktoren lieber nicht einer wie immer gearteten Überprüfung unterziehen. Unverständnis sollen ferner Polen, Italien und die baltischen Staaten bekundet haben, die zwar keine Kernkraftwerke besitzen, aber den Bau solcher Anlagen planen. Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) räumte nach dem Treffen ein, daß die Situation in Europa "sehr heterogen" sei.
Uneingeschränkte Unterstützung erhielt Oettinger lediglich von Österreich, das selber keine Kernkraftwerke betreibt und auch keinesfalls welche haben möchte, sowie von der deutschen Regierung. In ihrer Regierungsklärung vor dem Bundestag am 17. März übernahm Bundeskanzlerin Angela Merkel die Forderung nach einem "EU-weiten Stresstest für alle Kernkraftwerke" und lobte den Parteifreund ausdrücklich für sein "schnelles Handeln".
Vermutlich wollte Oettinger nicht nur Merkel zu Hilfe eilen. Schon seit acht Jahren strebt die Kommission ganz allgemein nach Erweiterung ihres Zuständigkeitsbereichs auch auf Fragen der nuklearen Sicherheit. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs ist diese Zuständigkeit auch ohne ausdrückliche Erwähnung durch den seit 1958 geltenden Euratom-Vertrag begründet worden (021205). Die von der Spanierin Loyola de Palacio vorgelegten beiden Richtlinien-Entwürfe zur Sicherheit kerntechnischer Anlagen und Entsorgung radioaktiver Abfälle (021103) scheiterten jedoch trotz Billigung durch das EU-Parlament (040103) am Widerstand der nationalen Regierungen im Rat (040520). Aus einer überarbeiteten Fassung des Nuklearpakets (040906) wurde ebenfalls nichts, weil die Amtszeit der Prodi-Kommission kurz darauf ablief.
Der neue Energiekommissar Andris Piebalgs betrieb das Vorhaben weiter. Als erstes erließ er eine Richtlinie für die "Überwachung und Kontrolle der Verbringungen radioaktiver Abfälle und abgebrannter Brennelemente", die eine alte Richtlinie für grenzüberschreitende Nukleartransporte aus dem Jahr 1992 ersetzte und erweiterte. Anfang 2007 veröffentlichte er dann ein "Hinweisendes Nuklearprogramm" der EU-Kommission, das auch eine "gemeinsame Gefahrenabwehr" vorsah (070118). Außerdem ließ er im Juli 2008 eine Umfrage veröffentlichen, die belegen sollte, daß die EU-Bürger mehr Kompetenzen für Brüssel bei der Beseitigung von Atommüll wünschen (080707). Im November 2008 legte Piebalgs schließlich eine EU-Richtlinie zur Sicherheit von Kernkraftwerken vor, die nach der Billigung durch Rat und Parlament im Juli 2009 in Kraft trat (090603).
Unter Oettinger verfolgt die Kommission die von Loyola de Palacio und Andris Piebalgs betriebene Kompetenzerweiterung beim Betrieb von Kernkraftwerken weiter. So hat Oettinger im November 2010 die Einführung von europaweit verbindlichen Sicherheitsstandards für die Endlagerung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle aus Kernkraftwerken sowie aus Medizin und Forschung vorgeschlagen (101111). In einem jüngst veröffentlichten Papier ließ die Kommission außerdem keinen Zweifel daran, daß sie auf den weiteren Ausbau der Kernenergie setzt, die "Führungsrolle" der EU auf diesem Gebiet verteidigen möchte und europaweit eine "stärkere Harmonisierung der Kraftwerkskonstruktion" anstrebt (110204).
Die nunmehr beschlossenen "Stress-Tests" bieten eine hervorragende Gelegenheit, den hier aufgezeigten Zielen näherzukommen. Natürlich bleibt die Teilnahme jedem Staat anheim gestellt, da Brüssel (noch) nicht befugt ist, den Mitgliedern in diesem Bereich Vorschriften zu machen. Zur Durchführung der Tests müssen sich die EU-Staaten aber erst einmal auf einheitliche Kriterien verständigen. Laut Ratsbeschluß übernimmt das nun die Kommission in Abstimmung mit der 2007 geschaffenen European Nuclear Safety Regulators' Group (ENSREG). In diesem Gremium sind die Atomaufsichtsbehörden der Mitgliedsländer vertreten, zum Beispiel das Bundesumweltministerium für Deutschland. Die so gewonnenen Erkenntnisse will der Europäische Rat bis Ende 2011 auf der Grundlage eines Berichts der Kommission beurteilen. Es wird also einige Zeit dauern, bis es einheitliche Kriterien für die freiwilligen "Stresstests" gibt. Es wäre dann nur noch ein kleiner Schritt, diese Kriterien in Form einer Richtlinie oder gar per Verordnung für alle Mitgliedsstaaten verbindlich zu machen.
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