März 2011 |
110302 |
ENERGIE-CHRONIK |
Unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe in Japan (110301) hat die Bundesregierung am 14. März die vorübergehende Abschaltung der sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke und eine Sicherheitsüberprüfung aller Anlagen beschlossen. Als rechtliche Grundlage nannte sie § 19, Ab. 3 des Atomgesetzes, der die Aufsichtsbehörden in sehr allgemeiner Form zur Ergreifung von "Schutzmaßnahmen" ermächtigt. Der Beschluß wurde am folgenden Tag mit den CDU-MInisterpräsidenten der betroffenen Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein abgestimmt und bis zum 18. März über entsprechende Anordnungen der Landesaufsichtsbehörden umgesetzt. Bei der EnBW gingen Neckarwestheim 1 und Philippsburg 1 vom Netz, bei E.ON Isar 1 und Unterweser. RWE schaltete Biblis A ab; der Block Biblis B sowie das Vattenfall gehörende Kernkraftwerk Brunsbüttel standen ebenfalls auf der Liste, waren aber bereits aus anderen Gründen abgeschaltet. Die Maßnahme ist auf drei Monate befristet. Wahrscheinlich werden aber nach der Sicherheitsüberprüfung nicht mehr alle Reaktoren ans Netz gehen.
Die sieben stillgelegten KKW und die Anzahl der meldepflichtigen Ereignisse seit ihrer Inbetriebnahme |
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Kernkraftwerk/Standort | Typ | Elektr. Leistung (netto) MW |
Jahr der Inbetriebnahme | Auftraggeber | Heutiger Eigentümer | Ereignisse seit Inbetriebnahme1) | |
GKN 1 |
Neckarwestheim 1 | DWR | 785 | 1976 |
Deutsche Bundesbahn, Neckarwerke Elektrizitätsversorgungs-AG, Technische Werke der Stadt Stuttgart AG, Württembergisches Portland-Cement-Werk zu Lauffen a.N. | EnBW | 427 |
KKB | Brunsbüttel | SWR | 771 | 1976 |
Hamburgische Electricitäts-Werke AG (66,66 %), PreussenElektra AG (33,33%) | Vattenfall, E.ON | 462 |
KKI 1 | Isar 1, Essenbach | SWR | 870 | 1977 |
Bayernwerk AG (50%), Isar-Amperwerke AG (50%) | E.ON | 279 |
KKP 1 | Philippsburg 1 | SWR | 864 | 1979 |
Badenwerk AG (50%), Energie-Versorgung Schwaben AG (50%) | EnBW | 337 |
KKU | Unterweser, Esenshamm | DWR | 1230 | 1978 |
PreussenElektra AG | E.ON | 337 |
KWB A | Biblis A | DWR | 1146 | 1974 |
Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG | RWE | 419 + 42) |
KWB B | Biblis B | DWR | 1240 | 1976 |
Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG | RWE | 420 |
1) Stand: 31.12.2010 2) Ereignisse in gemeinsamen Einrichtungen der Doppelblockanlage (Quelle: BfS) |
Beim Kernkraftwerk Neckarwestheim 1 ist nicht mehr mit einem Wiederanfahren zu rechnen. "Neckarwestheim I wird abgeschaltet, dauerhaft, und stillgelegt", versicherte der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) am 15. März in einer Sondersitzung des Landtags. Für die neue grün-rote Landesregierung (110306) gilt diese Zusage erst recht. Da das Land Baden-Württemberg neuerdings auch Mehrheitsaktionär der EnBW ist, steht damit das Ende von Neckarwestheim 1 endgültig fest. Die hessische Umweltministerin Lucia Puttrich (CDU) äußerte am selben Tag, daß auch Biblis A "mit großer Wahrscheinlichkeit" nicht mehr in Betrieb genommen werde. Als möglicher Kandidat für eine endgültige Stillegung war ferner Isar 1 im Gespräch.
Die Bundesregierung bezeichnete den dreimonatigen Betriebsstopp als "Moratorium". Sie verwendete damit einen Begriff aus der Finanzsphäre, der im Deutschen eigentlich die Stundung einer fälligen Zahlung durch staatliche Autorität bedeutet (das wohl bekannteste Beispiel ist die einjährige Aussetzung aller internationalen Zahlungverpflichtungen, die 1931 auf Initiative des US-Präsidenten Hoover zustande kam). Unter dem Einfluß des erweiterten angelsächsischen Sprachgebrauchs wird der Begriff aber immer häufiger im allgemeinen Sinne von "Aufschub" und "Aussetzung" verwendet. So vereinbarten Bundesregierung und KKW-Betreiber im Juni 2000 ein Moratorium zur Erkundung des Salzstockes Gorleben (000601), während Union und FDP in ihrem 2009 geschlossenen Koalitionsvertrag die unverzügliche Aufhebung dieses Moratoriums forderten (091001). In der Schweiz gab es 2003 eine Initiative "Moratorium plus", die den Betrieb von Kernkraftwerken auf vierzig Jahre beschränken und zusätzlich einen zehnjährigen Baustopp für Neubauten erreichen wollte (030504). Die Monopolkommission wollte 2007 den vier Energiekonzernen ein Moratorium für Kraftwerksneubauten auferlegen, um die Chancen von Wettbewerbern zu verbessern (071102).
Rechtlich steht das nun verfügte Moratorium für den Weiterbetrieb von sieben Kernkraftwerken auf sehr schwachen Füßen, obwohl die Bundesregierung den § 19 Abs. 3 des Atomgesetzes als angeblich hinreichende Ermächtigung anführt und sich mit den CDU-Ministerpräsidenten auf den Erlaß atomrechtlicher Anweisungen verständigt hat. Denn faktisch hat sich durch die Katastrophe in Japan nichts an der - wie auch immer gearteten - Sicherheitslage der 17 deutschen Kernkraftwerke geändert. In Deutschland sind weder ein Tsunami noch ein Erdbeben dieses Ausmaßes zu befürchten. Verändert hat sich lediglich die Wahrnehmung von Risiken, die es immer gab, die aber von den Energiekonzernen sowie vom Großteil der Politiker und Medien erfolgreich verharmlost und verdrängt wurden. Zum Beispiel wird erst jetzt die Problematik der Not- und Nachkühlung richtig begriffen. Es bedarf keines Tsunami, um die angeblich sicheren Notkühlsysteme lahmzulegen. Das zeigte sich schon Ende 1999 im französischen Kernkraftwerk Blayais, als ein Sturm das Wasser der Gironde ins KKW-Gelände drückte (000121). Ein Jahr später stellte sich heraus, daß bei fünf französischen KKW ein konstruktionsbedingter Defekt das Funktionieren das Notkühlsystems in Frage stellte (010525).
Das Moratorium könnte deshalb einer juristischen Kraftprobe mit den Energiekonzernen kaum standhalten. Es funktionierte vorläufig nur, weil die Energiekonzerne kein Interesse an einer Konfrontation hatten. Die KKW-Betreiber waren zwar sicher nicht erfreut über den taktischen Kurswechsel, den die schwarz-gelbe Regierungskoalition unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe in Japan vollzog. Sie wußten aber, daß vom politischen Erfolg der Regierungsparteien letztendlich auch der Weiterbetrieb ihrer Anlagen abhängt.
Die KKW-Betreiber widersetzten sich deshalb dem "Moratorium" nicht, ließen aber schon mal vorsorglich Zweifel an der Rechtsgrundlage erkennen. Die EnBW bot am 15. März das "freiwillige" Abfahren ihres ältesten Reaktors Neckarwestheim 1 an, dessen Stillegung mit Übertragung der Reststrommenge auf Block 2 sie ohnehin schon erwogen hatte. E.ON betonte, die Abschaltung von Isar 1 sei "nicht durch aktuelle sicherheitstechnische Neubewertungen begründet", sondern werde als "Beitrag zur Versachlichung der aktuellen Diskussion um die Kernenergie" vorgenommen. RWE entsprach mit der Abschaltung von Biblis A einem "Wunsch der Bundesregierung", dessen "technischen und wirtschaftlichen Auswirkungen" noch geklärt werden müßten.
Zunächst dürfte der Schwenk der schwarz-gelben Koalition in der Atompolitik tatsächlich nur wahltaktischen Überlegungen entsprungen sein. Er war gewissermaßen als "Abklingbecken" gedacht, bis sich die Erregung über die Katastrophe in Japan gelegt hat. Inwischen hat aber unter dem fortdauernden Druck der Ereignisse - um bei der Analogie zu bleiben - in diesem Abklingbecken die Kühlung versagt. Vor allem nach der Wahlniederlage in Baden-Württemberg (110306) sieht sich die schwarz-gelbe Koalition zu einer bisher unvorstellbaren Wende in der Atompolitik getrieben, um das eigene politische Überleben zu sichern.
Eine geradezu tollkühne Volte vollführte die FDP, die von allen Parteien der eifrigste Befürworter der Kernenergie war und nach Angaben ihres ehemaligen Bundesgeschäftsführers Goergen zumindest zeitweise von der Atomindustrie finanziert worden ist: Ihr Generalsekretär Christian Lindner verlangte am 29. März die dauerhafte Abschaltung der sieben vorübergehend stillgelegten Reaktoren sowie des KKW Krümmel (Inbetriebnahme 1983), das zur Zeit ebenfalls abgeschaltet ist. Die offene Konfrontation mit den KKW-Betreibern dürfte unter diesen Umständen unvermeidlich sein. Die Energiekonzerne sind schon aus aktienrechtlichen Gründen gezwungen, gegen eine gravierende Beeinträchtigung ihrer Unternehmensinteressen mit allen juristischen Mitteln vorzugehen.
Zugleich wollen sich alle Parteien nun noch publikumswirksamer als Verfechter einer "Energiewende" präsentieren. Es ist aus diesem Grund zu befürchten, daß sie unter Berufung auf Klima, Umweltschutz und Förderung erneuerbarer Energien sowie mit kräftiger Nachhilfe durch die jeweils profitierende Lobby eine Reihe fragwürdiger und kontraproduktiver Maßnahmen mit gesetzgeberischer Brachialgewalt durchsetzen werden. Dazu gehören etwa die Verschlechterung des Landschaftsschutzes beim Bau von Windkraftanlagen (071013) und der Wärmedämmungs-Zwang für Altbauten (100902).
Entgegen sonstiger Übung scheint die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihren plötzlichen Schwenk in der Energiepolitik nicht zuvor mit den Chefs der Energiekonzerne abgesprochen zu haben. Jedenfalls sah sich Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) veranlaßt, um Verständnis für den Kurswechsel zu werben, als er am 14. März zufällig vor den Chefs von RWE und E.ON sowie anderen führenden Vertretern des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) referierte. Sein Hinweis, daß es sich mehr oder weniger um ein wahltaktisches Manöver handele, gelangte durch eine Indiskretion zehn Tage später an die Öffentlichkeit und löste erhebliche politische Turbulenzen aus (110305). Im Grunde sprach Brüderle aber nur aus, was ohnehin jeder zu wissen glaubte, der einigermaßen mit den Gepflogenheiten des Politikbetriebs vertraut ist.
Als weitere Konsequenz aus der Nuklearkatastrophe kündigte Merkel am 22. März die Einsetzung einer "Ethik-Kommission" ein. Nach ihren Worten wird sich die Kommission mit Fragen der nuklearen Sicherheit und eines "Ausstiegs mit Augenmaß" befassen. Den Vorsitz übernehmen Klaus Töpfer und Matthias Kleiner. Der frühere Bundesumweltminister Töpfer (CDU) ist Gründungsdirektor des Instituts für Klimawandel, Erdsystem und Nachhaltigkeit in Potsdam. Kleiner ist Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Außerdem sollen der Kommission weitere Persönlichkeiten aus Kirche, Politik und Wissenschaft angehören. Genannt wurden unter anderen der Soziologe Ulrich Beck, der Münchener Kardinal Reinhard Marx und der IGBCE-Chef Michael Vassiliadis.
Mit den Stimmen der schwarz-gelben Regierungsmehrheit lehnte der Bundestag am 24. März einen gemeinsamen Antrag von SPD und Grünen ab, keine Bürgschaften mehr für den Export nuklearer Technologie zu gewähren. Ferner sollte die Bundesregierung die Anfang 2010 gemachte Zusage einer Bürgschaft für die Vollendung des brasilianischen Kernkraftwerks Angra 3 (100115) rückgängig machen, die zuvor geltenden Richtlinien für Export-Bürgschaften wieder in Kraft setzen sowie die Atomverträge mit Brasilien und Argentinien durch eine Kooperation bei erneuerbaren Energien und Energieeffizienz ersetzen. Der Antrag war auch von der Linken unterstützt worden.