Januar 2022

220102

ENERGIE-CHRONIK


EU-Kommission will Kernenergie und Gas für nachhaltig erklären

Gewissermaßen als Silvester-Kracher zur Begrüßung des Beginns der französischen Ratspräsidentschaft hat die EU-Kommission am 31. Dezember ihren "Taxonomie"-Vorschlag zur grünen Reinwaschung der Kernenergie vorgelegt. Mit dem "delegierten Rechtsakt" sollen Kern- und Gaskraftwerke unter Einhaltung bestimmter Bedingungen als umweltfreundliche Investitionen anerkannt werden, was hauptsächlich dem französischen Interesse am Festhalten und weiteren Ausbau der Kernenergie dienen würde (211008). Zugleich würde es Polen erleichtert, den seit langem geplanten Einstieg in die Nuklearwirtschaft zu vollziehen (120306), und Staaten wie Tschechien (030418), Slowakei (130809), Ungarn (170304), Rumänien (960406) oder Bulgarien (160617) würden ermuntert, inzwischen begrabene oder zumindest auf Eis gelegte Pläne zum Bau weiterer Reaktoren wieder hervorzuholen. Allerdings würde dies voraussetzen, dass private Investoren tatsächlich ihr Geld für eine derart teuere, unwirtschaftliche und hoch riskante Form der Stromerzeugung riskieren. Das bloße "Greenwashing" der Kernenergie durch die Kommission genügt dafür sicher nicht.

Ablehnung durch Rat oder Parlament wäre möglich, gilt aber als unwahrscheinlich

Um die endgültige Billigung dieses "legislativen Rechtsakts" durch die Kommission zu verhindern, müssten 20 der 27 EU-Staaten widersprechen, denen er jetzt übermittelt wurde. Die dafür gesetzte Frist wurde inzwischen vom 12. auf den 21. Januar verlängert. Die ursprünglich für den 18. Januar geplante Annahme des Vorschlags kam deshalb bis Monatsende nicht zustande. Der Rat und das Parlament haben dann noch vier Monate Zeit, um ihm zu widersprechen. Gemäß der Taxonomieverordnung können beide Organe eine Verlängerung der Frist um weitere zwei Monate beantragen. Der Rat hat das Recht, ihn mit verstärkter qualifizierter Mehrheit abzulehnen. Dies bedeutet, dass der entsprechende Beschluss von mindestens 72 Prozent der Mitgliedstaaten (also mindestens 20) unterstützt werden muss, die zugleich mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der EU vertreten. Das Europäische Parlament könnte den Vorschlag mit der einfachen Mehrheit von 353 seiner 705 Abgeordneten stoppen. Beides gilt aber als unwahrscheinlich.

Alte Bundesregierung handelte die Miteinbeziehung von Gas aus

Als treibende Kraft beim Zustandekommen des Vorschlags gilt neben Frankreich die amtierende deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Dass außer der Kernenergie auch Gas in das "Greenwashing" einbezogen wurde, ist als Zugeständnis an die schwarz-rote Bundesregierung zu sehen, die bei den vorausgegangenen Verhandlungen der nun vorgelegten Fassung zugestimmt hat. Schon im Oktober ließ Ursula von der Leyen wissen, dass der Vorschlag diese Kombination von Kernenergie und Gas enthalten werde – und zwar per "Twitter".

Neue Regierung lehnt den Vorschlag in punkto Kernenergie ab

Die jetzige Bundesregierung ist dagegen nicht bereit, den Vorschlag in der vorliegenden Form zu unterstützen. Das könnte sich zumindest der grüne Koalitionspartner auch gar nicht leisten. In ihrer Stellungnahme, die sie kurz vor Ablauf der verlängerten Frist am 21. Januar nach Brüssel übermittelte, lehnt sie deshalb die Einbeziehung der Kernkraft ab und meldet kleinere Änderungswünsche bei Gas an. "Als Bundesregierung haben wir unsere Ablehnung zur Einbeziehung von Atomenergie noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht", ließen Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke dazu verlauten. "Sie ist risikobehaftet und teuer. Auch neue Reaktorkonzepte wie Mini-Reaktoren bringen ähnliche Probleme mit sich und können nicht als nachhaltig eingestuft werden."

"Kommission betreibt Greenwashing und erweist nachhaltigen Finanzmärkten einen Bärendienst"

Deutlichere Worte als die beiden grünen Minister fand die von dem ehemaligen Grünen-Politiker Gerhard Schick gegründete Bürgerbewegung "Finanzwende" (211014), die gemeinsam mit den Organisationen Campact und BUND binnen vier Tagen 220.000 Unterschriften für einen Eil-Appell unter der Überschrift "Nein zu Atom und Gas" sammelte. In ihrer Stellungnahme hieß es:

"Die EU-Kommission betreibt mit diesen Vorschlägen Greenwashing. Mit ihrem Einknicken vor nationalen Interessen erweist die Kommission nachhaltigen Finanzmärkten in Europa einen Bärendienst. Die Versendung zu diesem Zeitpunkt zeigt, dass die EU-Kommission ihre eigene Politik nicht rechtfertigen kann und vor der Öffentlichkeit versteckt. Das ist kein gutes Zeichen, weder für den Inhalt der Vorschläge, noch für die Demokratie. Mit der Einstufung von Atomkraft und Gas untergräbt die Kommission letztlich ihre eigenen Ziele, nämlich Kapital in nachhaltige Investitionen zu lenken und Greenwashing einzudämmen. Die Entscheidung der Kommission beschädigt die Glaubwürdigkeit der Taxonomie erheblich. Da Anlegerinnen und Anleger in vielen europäischen Ländern weder Atomkraft noch fossiles Gas als nachhaltig bewerten, wird das Wirrwarr verschiedener Standards auf absehbare Zeit bleiben und Greenwashing begünstigen."

Der Begriff "Taxonomie" gehört zu der in Brüssel gebräuchlichen Kunstsprache und ist wie beispielsweise "Faszilität" für normale Ohren überaus gewöhnungsbedürftig. Ursprünglich bezeichnete er in der Biologie die Erfassung von Lebewesen in systematischen Kategorien. Mittlerweile wird er auch generell für die Einordnung in ein bestimmtes System verwendet. Die EU-Bürokratie versteht darunter ein Instrument, das zur Neuausrichtung privater Investitionen auf nachhaltigere Technologien und Unternehmen entwickelt wurde. Die EU soll auf diese Weise bei der Festlegung von Standards für ein nachhaltiges Finanzwesen eine "globale Führungsrolle" übernehmen. Außerdem will sie damit die beihilferechtlichen Genehmigungen vereinfachen. Die Kernenergie hat solche Hilfestellung freilich nicht nötig, weil staatliche Beihilfen schon aufgrund des 1957 in Kraft getretenen Euratom-Vertrags genehmigt werden können, dessen Revision bzw. Abschaffung seit 65 Jahren nicht gelungen ist (170314).

 

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