Oktober 2021 |
211008 |
ENERGIE-CHRONIK |
Der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte am 12. Oktober einen Investitionsplan in Höhe von 30 Milliarden Euro an, um in den nächsten fünf Jahren Frankreichs industrielle Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftstechnologien zu entwickeln. Vor allem verfolgt er das Ziel, Frankreich ab dem Jahr 2030 mit kleinen modularen Kernreaktoren bestücken zu können, die mit Leistungen unterhalb von 300 Megawatt angeblich sicherer sind und bei der Entsorgung der radioaktiven Abfälle weniger Probleme bereiten. Im Zusammenhang damit werde der Bau von "zwei Gigafactories oder Elektrolyseuren" erwogen, um bis 2030 "führend im Bereich des grünen Wasserstoffs" zu werden. Ein weiteres ZIel sei, "bis 2030 fast zwei Millionen Elektro- und Hybridfahrzeuge in Frankreich zu produzieren".
Macrons Ankündigung ist vor dem Hintergrund der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zu sehen, die im April 2022 stattfinden und bei denen er voraussichtlich wieder antreten wird. Dass er dabei den "Small Modular Reactor" (SMR) als Wahlschlager einsetzt, hat mit den großen Problemen zu tun, die der überalterte KKW-Bestand und der Neubau von ähnlich dimensionierten Ersatzanlagen bereiten. Der Reaktor vom Typ EPR, auf den die französische Nuklearwirtschaft seinerzeit alle Hoffnungen setzte und der besonders sicher sein sollte, erwies sich inzwischen als grandioser Flop. Das erste Kernkraftwerk dieses Typs, mit dessen Bau 2005 in Finnland begonnen wurde, ist auch nach 16 Jahren noch nicht fertiggestellt und wird voraussichtlich erst im kommenden Jahr in Betrieb gehen. Der erste EPR-Neubau in Frankreich, an dem in Flamanville seit 2007 gewerkelt wird, ist ebenfalls noch nicht fertig. Zum Bau eines weiteren EPR, der ab 2012 in Penly entstehen sollte, kam es deshalb erst gar nicht. Lediglich in China gelang es bisher, zwei EPR-Reaktoren ans Netz zu bringen, wobei aber auch da die Bauzeit um fünf Jahre und die Kosten um 60 Prozent überschritten wurden (siehe Hintergrund, August 2020).
Wenn Macron jetzt ankündigt, die angeblich weniger problematischen Kleinreaktoren bis 2030 ans Netz zu bringen, ist dies deshalb mit Skepsis zu betrachten, zumal die Pläne für die SMR-Reaktoren noch in den Kinderschuhen stecken und sie sich ohnehin erst nach Ablauf von Macrons zweiter fünfjährigen Amtszeit allmählich der versprochenen Realisierung nähern würden. Da die elektrische Leistung der SMR mindestens mehr als fünfmal kleiner ist als beim EPR, würde sich außerdem die Anzahl der notwendigen Ersatzbauten entsprechend vervielfachen.
Dem derzeit mit 56 aktiven Reaktoren bestückten Frankreich würden deshalb in den kommenden Jahrzehnten mehr als zweihundert Reaktoren beschert, falls die Leistungen der Bestandsanlagen, die zwischen 900 und 1500 Megawatt liegen, restlos durch SMR mit 300 MW ersetzt würden. Bei SMR des untersten Leistungsbereichs, der bis 1,5 MW reicht, wären es sogar mehr als vierzigtausend – rund zehntausend mehr als die gegenwärtige Anzahl von Windkraftanlagen in Deutschland beträgt.
Macron scheint den SMR indessen mehr die Rolle eines propagandistischen Beiwerks zugedacht zu haben, denn demnächst dürfte die Regierung offiziell das seit längerer Zeit vorliegende Neubauprogramm für sechs EPR-Blöcke beschließen. Die Kosten dafür wurden von der EDF mit insgesamt 46 Milliarden Euro veranschlagt, was ungefähr 7,7 Milliarden Euro pro Block entspräche. Schon vor Baubeginn bezweifelte der französische Rechnungshof, dass Zeitplan und Kosten realistisch sind (200806).
Das Öko-Institut hat in einer umfangreichen Studie das Konzept der "Small Modular Reactors" im Auftrag des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) untersucht (siehe PDF). Es stellte dabei fest, dass die Kinderschuhe, in denen es noch steckt, schon ziemlich alt sind: Die Entwicklung derartiger Kernkraftwerke mit geringer Leistung geht bis in die fünfziger Jahre zurück. Der erste SMR diente 1953 zum Antrieb eines U-Boots. In den sechziger Jahren entwickelte das US-Energieministerium einen Siedewasserreaktor mit 22 MW, den man grundsätzlich mit Schwerlasttransportern an jeden Ort hätte bewegen können. Neben wassergekühlten Reaktoren gab es die Hochtemperatur-Konzepte, die in Deutschland den AVR Jülich (15 MW) und den THTR-300 (300 MW) hervorbrachten, die aber beide kläglich scheiterten (siehe Buchbesprechung).
Die Studie betrachtet 31 von insgesamt 136 ermittelten SMR-Konzepten im Detail. Die Bandbreite reicht dabei von dem heute weltweit dominierenden Leichtwasser-Prinzip bis hin zu andersartigen Verfahren, für die bislang wenig oder keine industrielle Vorerfahrung vorliegt, beispielsweise Hochtemperatur- oder Salzschmelze-Reaktorkonzepte. Small Modular Reactors versprechen durch ihre Modularität kürzere Produktionszeiten sowie geringere Produktionskosten. Einzelne Komponenten oder auch der gesamte SMR sollen industriell in großer Stückzahl gefertigt und bei Bedarf zu den ausgewählten Standorten zur Installation transportiert werden (daher das Adjektiv "modular").
Solchen Vorteilen stehen aber Nachteile gegenüber: Durch die geringe elektrische Leistung sind bei SMR die Baukosten – relativ betrachtet – höher als bei großen Atomkraftwerken. Eine Produktionskostenrechnung unter Berücksichtigung von Skalen-, Massen- und Lerneffekten aus der Atomindustrie legt nahe, dass sehr viele SMR – im Mittel mehrere Tausend – produziert werden müssten, bevor sich der Einstieg in die SMR-Produktion lohnen würde.
Eine weitere wesentliche Begründung für die Entwicklung von SMR-Konzepten ist die Erwartung kürzerer Zeithorizonte, insbesondere geringerer Bauzeiten und unter Umständen auch ein weniger komplizierter Rückbau. Die Betrachtung von aktuell im Bau oder in Betrieb befindlichen Anlagen lässt diese Vermutung als nicht empirisch fundiert erscheinen: Planungs-, Entwicklungs- und Bauzeiten übersteigen die ursprünglichen Zeithorizonte in der Regel um ein Vielfaches. Spezielle Einsatzszenarien wie die Modularität, neue Herstellungsverfahren, Materialien und technologische Lösungen für die Sicherheitsfunktionen erfordern vielfach neue regulatorische Ansätze. Bei einer geplanten, weltweiten Verbreitung von SMR ergeben sich damit vollkommen neue Fragestellungen für die zuständigen Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden.
Insgesamt könnten SMR sicherheitstechnische Vorteile gegenüber Atomkraftwerken mit großer Leistung erzielen, da sie ein geringeres radioaktives Inventar pro Reaktor aufweisen und durch gezielte Vereinfachungen und einen verstärkten Einsatz der Nutzung passiver Systeme ein höheres Sicherheitsniveau anstreben. Die hohe Anzahl an Reaktoren, die zur Bereitstellung signifikanter Mengen an elektrischer Leistung erforderlich ist, und die geplante weltweite Nutzung werden das Risiko jedoch wiederum um ein Vielfaches erhöhen. Hinzu gehen viele SMR-Konzepte davon aus, dass manche der heutigen Sicherheitsanforderungen entbehrlich seien, beispielsweise bei der Diversität von Sicherheitssystemen, im Bereich des anlageninternen Notfallschutzes oder der externe Notfallschutzplanung.
Im Falle einer weltweiten Verbreitung von Small Modular Reactors steigt überdies die Gefahr der Proliferation – also der Nutzung für militärische Zwecke wie der Herstellung von Kernwaffen. Die vielen SMR erleichtern naturgemäß den Zugang zu Beständen an spaltbaren Materialien und den Zugriff auf Produktionstechnologien, die zweckentfremdet werden können. Historisch war es schon häufig der Fall, dass Staaten die Zwiespältigkeit von zivilen Nuklearenergieprogrammen ausgenutzt haben, um nach der Etablierung von notwendigen Anlagen, Know-how, Materialien und Fertigungsverfahren diese nukleare Infrastruktur parallel oder später für ein militärisches Kernwaffenprogramm zu nutzen. Zudem wächst die Gefahr der Entwendung spaltbaren Materials durch nichtstaatliche Akteure.