August 2021 |
210801 |
ENERGIE-CHRONIK |
Das durch deutsche Hoheitsgewässer verlaufende Endstück der zweiten russischen Ostsee-Gaspipeline unterliegt den am 23. Mai 2019 in Kraft getretenen Vorschriften der neuen EU-Gasrichtlinie, weil "Nord Stream 2" bis zu diesem Datum noch nicht fertiggestellt war, was nach Artikel 49a der Richtlinie die Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Befreiung von der Regulierung wäre. Mit dieser Begründung wies am 25. August das Oberlandesgericht Düsseldorf die Beschwerde zurück, die von der Gazprom-Tochter Nord Stream 2 AG gegen die Bundesnetzagentur erhoben wurde, weil diese den Gazprom-Antrag auf Freistellung von der Regulierung im Mai 2020 abgelehnt hat (200501). Die Nord Stream 2 AG hat nun noch die Möglichkeit, gegen diese Entscheidung Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof einzulegen.
Da dieses Urteil zu erwarten war, verfolgt die Gazprom schon seit längerem eine mehrgleisige Strategie. Zum einen ließ sie die in der Schweiz angesiedelte Nord Stream 2 AG schon vor zwei Jahren auch eine Klage beim Gericht der Europäischen Union in Luxemburg einreichen, weil die EU-Richtlinie die Grundsätze der Gleichbehandlung und Verhältnismäßigkeit verletze. Zwei Monate später teilte sie mit, dass sie außerdem eine Schiedsgerichtsklage betreibe, weil die EU ihre Verpflichtungen aus Artikel 10 und 13 der "Energie-Charta" verletzt habe (190905). Die zweite Klage ist besonders pikant, weil dieses internationale Investitionsschutzabkommen vor drei Jahrzehnten nur deshalb geschaffen wurde, um Investoren vor der Rechtsunsicherheit in Russland zu schützen. Es wurde dann aber ausgerechnet von Russland nicht ratifiziert (siehe Hintergrund, Oktober 2016). In Gestalt der Nord Stream 2 AG gesellt sich nun dieser notorisch rechtsunsichere russische Staat zu den internationalen Konzernen, welche die "Energie-Charta" zur Umgehung des normalen Rechtswegs und zur Erpressung von Regierungen missbrauchen. Neuerdings ist diese Altlast aus den neunziger Jahren ein ganz besonderes Ärgernis geworden, weil sie nicht nur europäisches Recht unterminiert, sondern auch dem Klimaschutz im Wege steht (siehe Hintergrund, Mai 2021).
Die Gazprom hat aber auch bereits einen Plan B: Falls sie mit allen Klagen scheitert, will sie der von der EU verlangten Entflechtung formal genügen, indem sie die Nord Stream 2 AG ins Gewand eines "Unabhängigen Transportnetzbetreibers" schlüpfen lässt. Am 24. Juni teilte ihre Tochter mit, dass sie bei der Bundesnetzagentur "vorsorglich" einen entsprechenden Antrag auf Zertifizierung nach den Paragraphen 4b und 10 des Energiewirtschaftsgesetzes gestellt habe. Dieser Antrag bedeute jedoch "in keiner Weise eine Änderung oder Relativierung der mit den Gerichtsverfahren bzw. dem Schiedsverfahren verfolgten Ziele".
Die operative und buchhalterische Trennung des Pipeline-Betriebs von Gasförderung und -verkauf würde an der bisherigen Situation nicht viel ändern und wäre für Gazprom nur ein kleines Zugeständnis. Sie müsste aber von der Bundesnetzagentur genehmigt werden, wobei es entscheidend auf die Stellungnahme des Bundeswirtschaftsministeriums ankäme. Beim gegenwärtigen Amtsinhaber wäre grünes Licht nicht auszuschließen. Vor den Bundestagswahlen dürfte jedoch nicht mit einer Entscheidung zu rechnen sein. Das erklärt vielleicht die gegenwärtige Leere in den deutschen Gazprom-Speichern, die sich als politisches Signal an die alte wie an die neue Bundesregierung deuten lässt (210804).
Beim Oberlandesgericht Düsseldorf pochte die Gazprom auf bereits getätigte Investitionen und den "Vertrauensschutz", den sie angeblich beanspruchen kann, weil sie mit dem Bau schon vor dem Inkrafttreten der geänderten Gasrichtlinie begonnen hatte. Unausgesprochen schwang dabei ein Vorwurf an die Adresse der deutschen Regierung mit, die sich nicht nur gegen den Widerstand der meisten EU-Staaten für den Bau von Nord Stream 2 einsetzte, sondern der Gazprom zusätzlich eine maßgeschneiderte Ausnahmeregelung zur Befreiung von der neuen EU-Gasrichtlinie in Aussicht gestellt hat. Das blieb auch kein leeres Versprechen. Tatsächlich wurden auf Betreiben der Berliner Regierung in die neue EU-Gasrichtlinie zwei Schlupflöcher eingefügt, die keinem anderen Zweck dienten, als Nord Stream 2 von der Regulierung zu befreien. Nur funktionierten sie am Ende nicht.
Die Ausnahmeregelung kam zustande, als sich Rat und Parlament der EU im Februar im Februar 2019 nach zähem Fingerhakeln auf den Wortlaut der neuen Gas-Richtlinie einigten (190201). Die Entflechtungsbestimmungen und andere Regeln des EU-Rechts galten damit zwar grundsätzlich auch für solche Gasleitungen, die aus Drittstaaten durchs Meer ins Gebiet der Europäischen Union führen, sobald sie das Küstenmeer jenes Mitgliedsstaats erreichen, in dem der erste Kopplungspunkt mit dem Gasnetz der EU liegt (Artikel 2, Nummer 17). Der Vorschlag der Kommission wurde aber unter anderem so modifiziert, dass über Ausnahmeregelungen für derartige Leitungen derjenige EU-Staat entscheidet, an dessen Küste sie anlanden (Artikel 34, Abs. 4 und Artikel 41, Abs. 1). Damit blieb die deutsche Regierung für die in Bau befindliche zweite Ostsee-Pipeline zuständig. Das eigentliche Schlupfloch eröffnete dann der Artikel 49a, der es ihr ermöglichte, aus "objektiven Gründen" auf die ansonsten verpflichtende Regulierung zu verzichten. Als hinreichende Begründung genügten schon "eine Amortisierung der getätigten Investitionen" oder ganz allgemein"Gründe der Versorgungssicherheit".
Allerdings gelang es auch den Gegnern von Nord Stream 2, eine vorläufig verdeckte Fußangel in der neugefassten Gasrichtlinie unterzubringen, indem der Artikel 49a in seinem ursprünglichen Wortlaut die Befreiung von der eigentumsrechtlichen Entflechtung davon abhängig machte, dass eine derartige Pipeline bis zum "Datum des Inkrafttretens dieser Richtlinie" fertiggestellt sein müsse. Die deutsche Regierung scheint die Problematik dieses Platzhalters, der beim Inkrafttreten der Richtlinie automatisch durch das Datum 23. Mai 2019 ersetzt wurde, nicht erkannt oder zumindest gewaltig unterschätzt zu haben. Offenbar bemerkten die Berliner Ministerialbürokraten die so entstandene Fußangel auch dann noch nicht, als sie die Richtlinie in nationales Recht umsetzten und im neuen § 28b des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) eine Befreiung der Gazprom von der eigentumsrechtlichen Entflechtung nur ermöglichten, wenn "die Leitung vor dem 23. Mai 2019 fertiggestellt wurde".
Erst kurz vor der Beschlussfassung im Bundestag muss jemandem gedämmert haben, dass es damit der Bundesnetzagentur unmöglich gemacht wurde, den Antrag der Nord Stream 2 AG auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung von den geltenden Entflechtungsvorschriften zu genehmigen. Die Behörde verfügt zwar nur über eine beschränkte Eigenständigkeit gegenüber der Bundesregierung und dem Bundeswirtschaftsministerium, dem sie untersteht (180705). Ihre Dienstbarkeit gegenüber Weisungen und Wünschen der politischen Instanzen hört aber spätestens dort auf, wo es an den erforderlichen gesetzlichen Grundlagen fehlt. Und das war hier ganz klar der Fall, weil der 23. Mai 2019 inzwischen schon ein halbes Jahr zurücklag, ohne dass von einer Fertigstellung der Pipeline die Rede sein konnte.
So erklärt es sich, dass das Datum 23. Mai 2019 kurz vor der Verabschiedung der EnWG-Novelle durch den Bundestag teilweise wieder herausgestrichen wurde. Der Wirtschaftsausschuss des Bundestags sprach dabei von einer "Klarstellung". Zugleich unterstellte das von Union und SPD dominierte Gremium, dass die Richtlinie in diesem Punkt nicht wortwörtlich verstanden werden dürfe. Der europäische Gesetzgeber bezwecke mit dem Artikel 49a hauptsächlich den Vertrauensschutz für bereits getätigte Investitionen. Daraus ergebe sich wiederum: "Vor diesem Hintergrund ist bei der Bestimmung, ob die Leitung vor dem Inkrafttretenstermin fertiggestellt worden ist, allen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen". Dies konnte als Aufforderung an die Bundesnetzagentur verstanden werden, den von der Gazprom gestellten Antrag auf Befreiung von der Regulierung nun doch zu genehmigen (191101).
Die Bundesnetzagentur war sicher gut beraten, als sie diesem Ansinnen nicht folgte und am 15. Mai 2020 den Antrag der Nord Stream 2 AG ablehnte, den im deutschen Hoheitsgebiet verlaufenden Teil der Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 von der Regulierung freizustellen. Vielleicht war das inzwischen sogar einigen der Politiker klar geworden, die sie in den Sumpf einer fragwürdigen Rechtsauslegung schicken wollten. Denn maßgeblich bleibt letztendlich der Wortlaut der neugefassten EU-Richtlinie, unter welchen Umständen er auch immer zustande gekommen sein mag (siehe Hintergrund, Dezember 2019). Und auch im Energiewirtschaftsgesetz, das für die Bundesnetzagentur unmittelbar bindend ist, tauchte das Ausschlussdatum weiterhin auf. Durch die Blitzintervention des Wirtschaftsausschusses wurde es lediglich an einer besonders markanten Stelle in § 28b Abs. 2 Nr. 2 getilgt, die allzu offensichtlich der nachträglich konstruierten These widersprochen hätte, es könne mit Blick auf die Investitionsentscheidung oder den Baufortschritt im Sinne des Vertrauensschutzes zugunsten von Gazprom ausgelegt werden.
Ausser dem angeblich notwendigen Vertrauensschutz für bereits getätigte Investitionen machte Gazprom geltend, dass der Begriff der Fertigstellung sehr weitgehend und so ausgelegt werden müsse, dass der 23. Mai 2019 nicht zum Ausschlussdatum wird. Der für energiewirtschaftsrechtliche Verfahren zuständige 3. Kartellsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf ließ weder den einen noch den anderen Einwand gelten. "Die von der Beschwerdeführerin gewünschte wirtschaftlich-funktionale Auslegung lässt sich dem Wortlaut der Vorschriften, ihrer Systematik, ihrem Sinn und Zweck, den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte nicht entnehmen", heisst es in der zusammenfassenden Pressemitteilung des Oberlandesgerichts. "Eine solche Auslegung ist auch nicht verfassungs- oder europarechtlich geboten." Mit dem Begriff der Fertigstellung werde nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zum Ausdruck gebracht, dass die Herstellung einer Sache abgeschlossen bzw. beendet ist. Der Wortsinn der neuen EU-Regelung sei eindeutig und beschreibe "eine physisch vollständig errichtete oder nahezu vollständig errichtete Leitung". Das damit verbundene baulich-technische Verständnis des Fertigstellungsbegriffs verstoße auch nicht gegen Grundrechte der Beschwerdeführerin, gegen das Rückwirkungsverbot oder den Vertrauensschutz.