Oktober 2016

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


 


Im Februar 2009 unternahm der EU-Kommissionspräsident Barroso (links) einen letzten Versuch, den Kremlchef Putin (rechts) doch noch zur Ratifizierung der "Energie-Charta" zu bewegen, die damals schon seit elf Jahren als Totgeburt galt. Putin machte ihm aber unmißverständlich klar, daß er das nicht tun wird, obwohl dieses Vertragswerk speziell für die Erschließung der russischen Gas- und Ölvorkommen durch westliches Kapital geschaffen worden war. Der Kreml veröffentlichte dazu dieses Foto, das optisch die Distanz zwischen den beiden unterstreicht.

Auferstanden von den Toten: Die gespenstische Neubelebung der "Energie-Charta"

(zu 161007)

Im Grusel-Genre gibt es die Untoten, die ihr eigentliches Leben verloren haben, aber als Gespenster ihr Unwesen treiben und einfach nicht totzukriegen sind. Daran erinnert die "Energie-Charta", die jetzt zum wiederholten Male in einem Verfahren vor dem Schiedsgericht der Weltbank (ICSID) in Washington bemüht wird. Im aktuellen Fall will der schwedische Vattenfall-Konzern von der Bundesrepublik Deutschland rund fünf Milliarden Euro dafür, daß er 2011 die beiden Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel abschalten mußte.

Vattenfall gehört dem schwedischen Staat. Letztendlich prozessiert hier also die schwedische gegen die deutsche Regierung. Beide gehören der Europäischen Union an. Die Schweden berufen sich aber nicht etwa auf EU-Recht und bemühen den dafür zuständigen Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, sondern strapazieren ein Instrument, das ursprünglich gar nicht für derartige Schadenersatzklagen gegenüber demokratischen Staaten mit intakter Rechtsordnung gedacht war.

Ursprünglich sollte das Abkommen nur vor der Rechtsunsicherheit in Rußland schützen

Als vor nunmehr 25 Jahren die "Europäische Energie-Charta" in Den Haag unterzeichnet wurde (911204), geschah dies vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs und der Auflösung der ehemaligen Sowjetunion. Sie war auch nur für diese Situation gedacht. Es ging darum, den westlichen Energiekonzernen den Zugriff auf die riesigen Gas- und Ölvorkommen in Rußland zu ermöglichen. Der scheiterte nämlich vorerst daran, daß Rußland noch nie ein Rechtsstaat war und es auch nach dem Ende der Sowjetherrschaft nicht wurde. In der Wirtschaft herrschte das reinste Raubrittertum. Die Justiz war gelenkt und korrupt.

Auf dieser Basis konnte und wollte man keine Investitionen tätigen. Größere Verläßlichkeit versprach man sich dagegen von den Dompteuren, die diesen russischen Staatszirkus mit seinem Raubtierkapitalismus scheinbar zusammenhielten. Schließlich hatten auch deren Vorgänger im Kreml die mit dem Westen geschlossenen Wirtschaftsverträge stets verläßlich eingehalten, obwohl die Konfrontation der beiden Blöcke mitunter bis an den Rand eines atomaren Weltkriegs führte.

Beim Inkrafttreten fehlte ausgerechnet Rußland

So kam es zu Erfindung jenes Investitionsschutzabkommens, das zunächst "Europäische Energie-Charta" hieß, mittlerweile aber nur noch als "Energie-Charta" bezeichnet wird. Die Absichtserklärung, die 1991 in Lissabon von 36 Staaten unterzeichnet wurde, gedieh bis Ende 1994 zu einem Vertragswerk mit 54 Artikeln (940601, 941204). Im April 1998 konnte es schließlich in Kraft treten, nachdem es 36 der insgesamt 49 Unterzeichnerstaaten ratifiziert hatten. Dazu gehörten die meisten EU-Staaten und die Mehrheit der ehemaligen Sowjetrepubliken (980405).

Aber ausgerechnet Rußland hatte den Vertrag nicht ratifiziert. Die Szene glich damit einer Hochzeit, bei der kurz vor dem Trautermin die Braut abhanden gekommen war. Die Peinlichkeit wurde vorläufig damit überspielt, daß Rußland das Verlöbnis offiziell noch nicht aufgekündigt hatte. Bei einem Treffen der G-8-Energieminister in Moskau stellte der Kreml die baldige Ratifizierung durch die Duma in Aussicht. Unterdessen zeigten auch die USA, Kanada, Australien und Japan kein Interesse mehr an dem Investitionsschutzabkommen, obwohl sie anfangs mit dabei gewesen waren.

Putin machte Barroso klar, daß der Kreml nie ratifizieren wird

Mit der kurz darauf erfolgten Machtübernahme durch Wladimir Putin wurde dann immer deutlicher, daß die Braut es sich endgültig anders überlegt hatte. Aus russischer Sicht galt die Energie-Charta nunmehr als einseitig und als Erblast des Jelzin-Regimes, unter dem Staatsvermögen und Bodenschätze regelrecht verschleudert worden waren. Mit der Ablehnung der Ratifizierung verschaffte sich Putin die Handlungsfreiheit, um die russische Energiewirtschaft wieder zu verstaatlichen und die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen als Druckmittel gegenüber Staaten wie der Ukraine einzusetzen. Beides wäre mit der Energie-Charta unvereinbar gewesen, da sie den Schutz von Investitionen sowie den Handel und Transit mit Primärenergieträgern gewährleistet. Beispielsweise hätte Rußland im Januar 2009 die Gaslieferungen durch die Ukraine nicht verringern oder stoppen dürfen, bevor das dafür vorgesehene Streitbeilegungsverfahren eingeleitet und abgeschlossen worden wäre.

Im Februar 2009 reiste die EU-Kommission in großer Besetzung nach Moskau, um nach dem zweiwöchigen Stopp der russischen Gaslieferungen durch die Ukraine (090101) die künftige strategische Ausrichtung der Beziehungen zwischen Russland und der EU für die kommenden Jahre festzulegen. Bei dieser Gelegenheit machte Kremlchef Putin dem Kommissionspräsidenten Barroso unmißverständlich klar, daß Rußland weiterhin nicht bereit war, die Energie-Charta zu ratifizieren oder deren Grundsätze in einem neuen Partnerschaftsvertrag mit der EU zu verankern (090201).


Der Neoliberalismus und die damit zusammenhängende Installierung einer semi-privaten Sonderjustiz zur Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen internationaler Konzerne gegenüber unbotmäßigen Regierungen befinden sich in einer Legitimationskrise. Die Anhörung des Washingtoner Schiedsgerichts zur Klage von Vattenfall gegen den deutschen Staat wurde deshalb auf Wunsch oder zumindest mit Einverständnis beider Parteien per Internet übertragen. Normalerweise tagen solche Schiedsgerichte hinter verschlossenen Türen. Die Übertragung der Eröffnungsverhandlung ist als PR-Coup zu werten. Sie sollte eine "Transparenz" des Verfahrens suggerieren, die es in Wirklichkeit nicht gibt und auch auf diese Weise nicht zustande kam. Auf diesem Bildschirm-Foto spricht gerade der Präsident des dreiköpfigen Tribunals, der Holländer Albert Jan van den Berg.

 

Der alte Vertragstext bekam eine neue neoliberale Stoßrichtung

So versank die Energie-Charta unmittelbar nach ihrem Inkrafttreten in Bedeutungslosigkeit. Ein Jahrzehnt lang wurde praktisch nicht mehr von ihr geredet. Sie existierte zwar weiter, aber nur in einer Art Wachkoma. – Eben als Untote, der das Lebenslicht bis auf ein paar vegetative Funktionen ausgeblasen worden war. Nur auf dem in Portugal hinterlegten Papier blieb sie weiter am Leben.

Aber dann folgte eine Wiederbelebung. Man merkte das an der zunehmenden Zahl von Schiedsgerichtsverfahren, die auf die Energie-Charta Bezug nahmen. Wie es sich für Untote gehört, blieb es bei der alten Hardware. Aber die Software, welche nun die morschen Glieder bewegte, war eine andere: Aus einem Instrument zur Ausbeutung der russischen Rohstoffvorkommen mittels westlicher Technologie und westlichen Kapitals wurde ein Instrument, mit dem die neoliberal entfesselte westliche Wirtschaft ihre eigenen Staaten wechselseitig in Haftung nahm, falls es eine Regierung unverschämterweise wagen sollte, die Profiterwartungen von international agierenden Konzernen zu durchkreuzen.

Das Schönste dabei war, daß man die Energie-Charta überhaupt nicht zu ändern brauchte. Man mußte sie lediglich anders sehen und interpretieren. Sie war erklärtermaßen auf den Grundgedanken zugeschnitten worden, "das Wirtschaftswachstum durch Maßnahmen zur Liberalisierung der Investitionen und des Handels mit Primärenergieträgern und Energieerzeugnissen zu fördern". Von Rußland war in dem Vertragswerk nur zufällig und beiläufig die Rede (weil der Kreml sich ausdrücklich ausbedungen hatte, daß für das Pachten staatseigenen Vermögens durch Gesellschaften mit ausländischer Beteiligung eine Genehmigung verlangt werden könne). Rein formal war die Energie-Charta von Anfang an ein absolut neutral wirkendes Investitionsschutzabkommen, das alle beteiligten Staaten gleichermaßen haftbar machte, falls sie im Energiegeschäft tätige Investoren diskriminieren sollten.

Vattenfall klagte schon 2009 in Washington, weil in Hamburg ein Kühlturm gebaut werden mußte

Für international agierende Konzerne eröffneten sich damit nun sogar innerhalb der Europäischen Union wunderbare Möglichkeiten, sofern sie ihren Hauptsitz zufällig nicht in dem Staat hatten, in dem sie sich diskriminiert fühlten. Zum Beispiel reichte der schwedische Vattenfall-Konzern im April 2009 gemeinsam mit seiner deutschen Tochter und deren Kraftwerksgesellschaft eine Klage vor dem Internationalen Schiedsgericht der Weltbank in Washington ein, weil Deutschland die Energie-Charta verletzt habe: Er wollte Schadenersatz dafür, daß er nachträglich gezwungen worden war, für das neue Steinkohlekraftwerk Moorburg in Hamburg einen Kühlturm zu errichten, anstatt die Anlage ausschließlich mit Frischwasser aus der Elbe zu kühlen und so eine unzulässige Erwärmung des Flusses zu riskieren. Erst unter dem neuen Konzernchef Oeystein Loeseth wurde das Verfahren zwei Jahre später eingestellt. Zuvor war es zu einer Vereinbarung zwischen Vattenfall und der Bundesregierung gekommen, deren Inhalt geheim blieb (100812).

Notfalls sorgen Briefkastenfirmen für die Klageberechtigung als ausländisches Unternehmen

In einem anderen Fall klagten Investoren gegen den spanischen Staat, weil dieser aufgrund seiner jämmerlichen Finanzlage die zugesagten Subventionen für den Betrieb von Solaranlagen gekürzt hatte. Zu den Klägern, die sich auf die Energie-Charta beriefen und deshalb das Schiedsgericht der Weltbank bemühten, gehören drei deutsche Stromunternehmen (der Fall ist noch anhängig). Zwei weitere ausländische Unternehmen zogen vor das Stockholmer Schiedsgericht. Bei näherer Betrachtung waren das allerdings gar keine ausländischen Unternehmen, sondern in Holland und Luxemburg angesiedelte Briefkastenfirmen, mit denen die Mehrheitsaktionäre eines spanischen Infrastruktur- und Energiekonzerns den eigenen Staat schröpfen wollten. Ihre Klage wurde jedoch nicht aus diesem Grund abgewiesen (160203).

Haager Schiedsgericht verhob sich mit der Verurteilung des Kreml zu 50 Milliarden Dollar Entschädigung

Kurioserweise kam es sogar zu einem Verfahren gegen den russischen Staat, obwohl dieser die Energie-Charta gar nicht ratifiziert hat. Den Hintergrund bildete das brutale Vorgehen, mit dem der Kremlchef Putin den widerspenstigen Ölmagnaten Michail Chodorkowskij in einem Schauprozeß zu neun Jahren Haft verurteilen und in ein Lager stecken ließ (050914, 131211). Die von Putin enteigneten Aktionäre des Ölkonzerns Yukos hatten ihre Aktien größtenteils über Firmen im westlichen Ausland gehalten. Sie klagten deshalb vor dem Ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag, dem auch Rußland seit über hundert Jahren angehört. Bei der Festlegung des Prozedere für das Schiedsverfahren stimmten die Russen unbedachterweise dem Vorschlag zu, die Grundsätze der Energie-Charta anzuwenden. Im Juli 2014 sprach der Schiedsgerichtshof daraufhin den Klägern die gigantische Entschädigung von 50 Milliarden Dollar zu (140701). Es versteht sich, daß der Kreml dieses Urteil nicht akzeptierte. Erfolglos blieben auch Versuche, ersatzweise russisches Staatsvermögen im Ausland beschlagnahmen zu lassen (150513). Knapp zwei Jahre später beendete das für Den Haag zuständige niederländische Bezirksgericht das internationale Spektakel mit der Feststellung, daß der Haager Gerichtshof gar nicht befugt war, auf Grundlage der Energie-Charta zu urteilen, und sein Schiedspruch damit ungültig sei (160417).

Internationale Konzerne sprechen lieber vom Freihandel statt von Profiten

Die Selbstverständlichkeit, mit der hier ein ordentliches nationales Gericht ein internationales Schiedsgericht desavouierte, wäre nachahmenswert. Die Verfechter einer Parallel- und Sonderjustiz für die Interessen des Großkapitals lassen nämlich nicht locker. Sie reden natürlich nicht von Profiten, sondern vom hehren Ziel des Freihandels. Zum Beispiel sind solche internationalen Schiedsgerichte auch Bestandteil der beiden Handelsabkommen, welche die EU mit den USA (TTIP) und Kanada (CETA) abschließen will bzw. bereits unterzeichnet hat. Die Politiker scheint dabei nicht zu stören, daß sie auf diese Weise die Souveränität der Mitgliedsstaaten untergraben. Das betrifft nicht nur die Gesetzgebung und die darauf aufbauende Rechtsprechung, sondern auch die Handlungsfreiheit von Parlamenten und Regierungen: Wer wird schon etwas gegen die Interessen mächtiger internationaler Konzerne beschließen, wenn er damit rechnen muß, anschließend erfolgreich auf Schadenersatz in Millionen- und Milliardenhöhe verklagt zu werden?

Zyniker könnten diese Frage auch anders formulieren: Was kümmert es wohlbestallte und vielleicht sogar korrupte Politiker, wenn für die Zeche der Steuerzahler aufkommen muß? – Dabei trifft die Entscheidung nicht einmal ein ordentliches Gericht, sondern ein von beiden Parteien vereinbartes Tribunal. In der Regel sind das drei Juristen, die hinter verschlossenen Türen tagen. Es gibt auch keine Berufungsmöglichkeit. Der geheim zustande gekommene Spruch ist für den unterlegenen Staat bindend, sofern er sich auf diese Art von Privatjustiz erst einmal eingelassen hat.

Deutschland hat unterzeichnet und bekommt dafür jetzt die Quittung

Die Bundesrepublik hat sich darauf eingelassen, als sie die Energie-Charta ratifizierte. Nun präsentiert ihr der Vattenfall-Konzern vor dem Schiedsgericht der Weltbank in Washington eine weitere Schadenersatzforderung über rund fünf Milliarden Euro, weil ihm 2011 die Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel abgeschaltet wurden. Die Schweden berufen sich auf Artikel 13 der Energie-Charta, der Enteignungen oder ähnlich wirkende Maßnahmen nur gegen eine Entschädigung zuläßt, die dem "angemessenen Marktwert der enteigneten Investition" entspricht. In Artikel 26 regelt der Vertrag ferner das Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen einem Investor und einer Vertragspartei. Im vorliegenden Fall ist demnach das Schiedsgericht bei der Weltbank zuständig, da sowohl Deutschland als auch Schweden das ICSID-Abkommen unterzeichnet haben.

Die Rechtswidrigkeit des "Moratoriums" konnte nur ein ordentliches Gericht feststellen

Die drei anderen KKW-Betreiber E.ON, RWE und EnBW klagen ebenfalls gegen die damals erfolgte Änderung des Atomgesetzes. Sie sind dabei aber auf den ordentlichen Rechtsweg angewiesen. Damit sind sie keineswegs schlecht bedient, wie das von RWE erstrittene höchstinstanzliche Urteil zeigt, das den schwarz-gelben Politikern rechtswidriges Handeln bescheinigt, als sie nach der Katastrophe von Fukushima per "Moratorium" die dreimonatige Abschaltung der sieben ältesten Kernkraftwerke durchsetzten (140110). Für diesen Theaterdonner gab es weder eine rechtliche Handhabe noch einen sachlichen Grund (siehe Hintergrund). Die dritte Gewalt hat damit ihre Unabhängigkeit von der Exekutive unter Beweis gestellt. Ebenso unabhängig hat sie die ähnlich lautenden, aber dennoch anders gelagerten Klagen der KKW-Betreiber E.ON und EnBW abgewiesen (160704).

Internet-Übertragung aus Washington sollte von fehlender Transparenz ablenken

Von dem Schiedsgericht in Washington ist weder diese Unabhängigkeit einer über den Parteien stehenden Judikative mit mehreren Rechtszügen noch eine vergleichbare Transparenz des Verfahrens zu erwarten. Daran ändert auch die Internet-Übertragung der Eröffnungsverhandlung nichts, die vorsichtshalber zeitversetzt erfolgte, damit "vertrauliche oder sensible Informationen" herausgeschnitten werden konnten. Um den monoton-ermüdenden Vorträgen der Parteien überhaupt folgen zu können, mußte ein deutscher Steuerzahler nicht nur perfekt Englisch verstehen, sondern über juristische und technische Spezialkenntnisse verfügen. Und selbst dann hätte er vor lauter Bäumen noch lange nicht den Wald gesehen. Insgesamt handelte es sich eher um einen PR-Coup und den Versuch, die Öffentlichkeit über die fehlende Transparenz des Verfahrens zu täuschen. Viel informativer, einfacher und weniger zeitaufwendig wäre die Internet-Veröffentlichung der wichtigsten Schriftsätze beider Parteien gewesen. Stattdessen hat man lediglich Transparenz-Theater gespielt.

 


Die Vattenfall-Klage steht schon deshalb auf wackligen Beinen, weil das Atomgesetz die Reststrommengen für die beiden Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel keineswegs ersatzlos gestrichen hat, sondern ihre Übertragung auf andere Kernkraftwerke erlaubt. Wie diese Grafik erkennen läßt, verfügte E.ON bei Inkrafttreten der Neuregelung über genügend Spielraum, um die auf Krümmel und Brunsbüttel entfallenden 99.245 Gigawattstunden zu 88 Prozent abzuarbeiten. Davon sind 47.785 GWh ohnehin E.ON als Miteigentümer zuzurechnen. Lediglich der Rest von 51.460 GWh entfällt auf den Betreiber und Miteigentümer Vattenfall. Für die Abarbeitung der noch verbleibenden 1.214 GWh kämen die EnBW-Reaktoren in Betracht, deren mögliche Erzeugung die verfügbare Reststrommenge um 11.383 GWh übersteigt.

 

Rückkehr zur alten Ausstiegsregelung wurde mit Zutaten versehen, die den KKW-Betreibern Angriffspunkte boten

Sicher war es kein Glanzstück, was die schwarz-gelbe Koalition damals ablieferte: Zuerst hatte sie die Laufzeiten sämtlicher deutschen Kernkraftwerke um bis zu vierzehn Jahre verlängert, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung dagegen war. Als sich ein paar Monate später die Katastrophe von Fukushima ereignete, bekam sie soviel Bammel vor der Wut der Wähler, daß sie diese Verlängerung wieder zurücknahm. Sie beließ es aber nicht bei der Wiederinkraftsetzung der alten Reststrommengen. Sie fügte vielmehr ein paar Knalleffekte hinzu, weil es nicht so aussehen sollte, als würde sie reumütig zu der 2001 von der rot-grünen Koalition beschlossenen Regelung zurückkehren. Neben dem dreimonatigen "Moratorium" für die sieben ältesten Kernkraftwerke gehörte dazu deren dauerhafte Abschaltung zuzüglich des Kernkraftwerks Krümmel. Ferner enthielt die im August 2011 in Kraft getretene Neufassung des Atomgesetzes feste Schlußtermine, bis zu denen die noch in Betrieb befindlichen neun Kernkraftwerke ihre Reststrommengen abgearbeitet haben müssen (110601).

Diese drei Knalleffekte änderten nichts daran, daß mit der Revision der Revision im wesentlichen nur die alte Ausstiegsregelung wiederhergestellt wurde. Sie lieferten den betroffenen KKW-Betreibern indessen vordergründig eine Handhabe, um Schadenersatzforderungen zu stellen. Gegen eine bloße Rücknahme der exzessiven Laufzeiten-Verlängerung hätten sie schlecht klagen können, denn die 2001 gesetzlich festgelegten Reststrommengen und andere Modalitäten des Atomausstiegs basierten auf einer mit den KKW-Betreibern ausgehandelten und öffentlich besiegelten Vereinbarung (000601). Das "Moratorium" war dagegen von Anfang an erkennbar rechtswidrig. Und die vorzeitige Abschaltung der acht Kernkraftwerke sowie die festen Schlußtermine für die neun weiter in Betrieb befindlichen Reaktoren warfen zumindest die Frage auf, ob unter diesen Umständen die Abarbeitung der zugebilligten Reststrommengen überhaupt noch möglich war.

Es hätte viel Ärger vermieden, Krümmel die Reststrommenge abarbeiten zu lassen

Ausgerechnet gegen das "Moratorium" wehrte sich aber nur RWE. Die drei anderen Konzerne verpaßten die Chance, rechtzeitig an dieser Stelle einzuhaken, die am ehesten Aussichten auf eine erfolgreiche Schadenersatzklage bot. Was ihnen jetzt noch bleibt, ist die Argumentation mit den angeblich zu knapp bemessenen Schlußterminen. Der Vattenfall-Konzern kann ferner geltend machen, daß er die Reststrommengen für Krümmel und Brunsbüttel nicht mehr selber abarbeiten kann, weil er mit der Schließung beider Anlagen aus dem Kreis der aktiven KKW-Betreiber in Deutschland ausgeschieden ist.

In der Tat war es ein weiterer Fehler der schwarz-gelben Koalition, unbedingt auch die beiden von Vattenfall betriebenen Reaktoren vorzeitig stillzulegen. Brunsbüttel wäre wegen Ausschöpfung der Reststrommengen sowieso in Kürze vom Netz gegangen. Der sieben Jahre jüngere Reaktor Krümmel verfügte dagegen noch über ein erhebliches Polster. Altersmäßig und technisch war der Siedewasserreaktor an der Elbe mit den Blöcken B und C in Gundremmingen vergleichbar, die gemäß § 7 Abs. 1a AtG erst Ende 2017 bzw. Ende 2021 abgeschaltet werden müssen. Das Kernkraftwerk Krümmel hätte bei einer ungestörten durchschnittlichen Jahresproduktion ebenfalls noch bis 2021 laufen können. Die Pannen, deretwegen es seit Sommer 2007 praktisch ununterbrochen vom Netz war, betrafen nicht den nuklearen Teil, sondern die konventionelle Kraftwerkstechnik (070701, 090701). Es gab jedenfalls keine plausible Erklärung dafür, weshalb es nachträglich mitsamt den sieben "Moratoriums"-Reaktoren auf die Liste der sofort stillzulegenden KKW gesetzt wurde. Wahrscheinlich hatte diese politische Entscheidung mit den seit Jahren kursierenden, aber niemals bewiesenen Verdächtigungen zu tun, der Reaktor sei für eine Häufung von Leukämie-Fällen in der gegenüberliegenden Elbmarsch verantwortlich (siehe Link-Liste zu den Leukämie-Vorwürfen gegen das KKW Krümmel).

Vattenfall behielt sämtliche Reststrommengen und konnte diese verkaufen

Es war aber keineswegs so, daß Vattenfall mit dem Ausscheiden aus dem Kreis der aktiven KKW-Betreiber seine Reststrommengen in den Wind schreiben mußte. Diese konnten und können auf jedes andere Kernkraftwerk in Deutschland übertragen werden. Vor allem der langjährige Geschäftspartner E.ON, mit dem Vattenfall das Eigentum an vier Kernkraftwerken teilte (Krümmel, Brunsbüttel, Brokdorf und Stade), verfügt über zu wenig Reststrommengen, um diese bei einer durchschnittlichen Jahresproduktion bis zu den festgegesetzten Schlußterminen abarbeiten zu können. Auch bei der EnBW ist noch Luft drin (siehe Grafik). Vattenfall hatte sowieso schon überlegt, die Betriebsführung in Krümmel und Brunsbüttel dem Miteigentümer E.ON zu überlassen (101202). Die großzügige Festlegung der Schlußtermine für die E.ON-Reaktoren dürfte von vornherein in der Erwartung erfolgt sein, daß diese auch die Reststrommengen von Vattenfall abarbeiten.

Allerdings hat Vattenfall keinen Anspruch darauf, daß seine Reststrommengen von anderen KKW-Betreibern übernommen und angemessen honoriert werden. Außerdem ist Atomstrom mittlerweile nicht mehr so lukrativ wie früher. Das drückt Bedarf und Preise. Die potentiellen Käufer E.ON und EnBW wären dumm, wenn sie sich diese Situation nicht zunutze machen und kräftig pokern würden. RWE kommt als Käufer schwerlich in Frage, weil dieser Betreiber sich sowieso anstrengen muß, um seine gesamte Reststrommenge bis zu den Schlußterminen abzuarbeiten. Das liegt allerdings nur an der fiktiven Reststrommenge, die RWE schon vor 16 Jahren von der rot-grünen Koalition für Mülheim-Kärlich zugebilligt bekam, obwohl dieses Kernkraftwerk nur kurze Zeit in Betrieb war und nach der 1988 erfolgten Abschaltung nie mehr ans Netz gegangen ist (030906).

Bei Berücksichtigung der Entsorgungskosten hätte Vattenfall auch seine KKW verschenken und zusätzlich ein Milliarden-Aufgeld zahlen müssen

Andererseits darf kein Kraftwerksbetreiber erwarten, daß ihm der Staat eine bestimmte Rendite oder die dafür erforderlichen politischen Rahmenbedingen garantiert, soweit dies nicht – wie bei der EEG-Förderung – gesetzlich festgeschrieben ist. Genau das will der Vattenfall-Konzern jedoch erreichen, wenn er unter Berufung auf die Energie-Charta einen staatlichen Eingriff beklagt, der einer Enteignung gleichkomme. Die Neuordnung der Rahmenbedingungen für die Atomstromproduktion war nicht nur seit langem absehbar, sondern seit 2001 geltendes Gesetz. Sie kam auch weitaus weniger überraschend als der Niedergang der Kohlestromproduktion, der jetzt dazu führte, daß Vattenfall seine Braunkohle-Kraftwerke in Ostdeutschland samt Tagebauen quasi verschenkte und dem Erwerber noch ein hohes Aufgeld zahlte (160401).

Übrigens sieht Artikel 13 der Energie-Charta bei Enteignungen oder ähnlich wirkende Maßnahmen eine Entschädigung vor, die dem "angemessenen Marktwert der enteigneten Investition" entspricht. Die beiden Vattenfall-Kernkraftwerke hätten auch mit fortdauernder Betriebserlaubnis gewiß keinen höheren Marktwert als die 13 Braunkohle-Blöcke gehabt. Wenn man die Kosten für die Entsorgung mitrechnet, hätte ein Erwerber ebenfalls ein Milliarden-Aufgeld bekommen müssen.

Es wäre an der Zeit, der Energie-Charta ein gnädiges Ende zu bereiten

Der schwedische Staatskonzern sieht das aus begreiflichen Gründen anders. Er scheint seine Entschädigungsforderungen sogar auf die paar Monate zu gründen, in denen die schwarz-gelbe Koalition die Reststrommengen für Krümmel und Brunsbüttel kräftig aufgestockt hatte. Mit kabarettreifer Exaktheit veranschlagte er sie auf 4.675.903.975,32 Euro zuzüglich Zinsen (141001). Wenn man das auf die anteilige Reststrommenge von 51.460 Gigawattstunden unrechnet, die Vattenfall als Miteigentümer der beiden Reaktoren beanspruchen kann, ergäbe das einen Schadenersatz von exakt 90,86 Euro pro nicht erzeugter Megawattstunde. Das entspräche dem Dreifachen des derzeitigen Börsenpreises für Grundlaststrom. Die Großhandelspreise bestehen aber nur zu einem Bruchteil aus Gewinnen. Der Konzern würde also ein Vielfaches der möglicherweise entgangenen Gewinne kassieren – abgesehen von den Reststrommengen, die ihm weiterhin zustünden und die er dann endlich verkaufen könnte, was sich derzeit aus prozeßtaktischen Gründen verbietet.

Falls das Washingtoner Schiedsgericht der Vattenfall-Klage dennoch stattgibt, ist es höchste Zeit, der Energie-Charta ein gnädiges Ende zu bereiten. In Grusel-Filmen muß den Untoten zumindest mit einem Pfahl das Herz durchbohrt werden, damit ihr gespenstisches Unwesen ein Ende findet. Bei der Energie-Charta würde es ausreichen, den Rücktritt zu erklären. Gemäß Artikel 47 bliebe die Bundesrepublik Deutschland dann nach Ablauf eines Jahres von weiteren Zumutungen wie der Vattenfall-Klage verschont.