Januar 2022 |
220101 |
ENERGIE-CHRONIK |
Während die Strompreise am Spotmarkt weiterhin um ein vielfaches höher als im langjährigen Durchschnitt lagen und um die 200 Euro pro Megawattstunde pendelten, explodierten sie ab 20. Januar auch für Regelenergie und erreichten bis zu hunderttausend Euro für eine einzige Megawattstunde. Der Grund dafür war, dass die von der Bundesnetzagentur am 16. Dezember 2020 verfügte Herabsetzung der technischen Obergrenze für die Preise am Regelarbeitsmarkt (201203) durch eine Eilentscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 11. Januar wieder aufgehoben wurde. Auf Anweisung der Bundesnetzagentur erhöhten die vier Übertragungsnetzbetreiber daraufhin die technische Obergrenze bei den täglichen Ausschreibungen für Regelenergie ab 20. Januar wieder auf 99.999,99 Euro/MWh. Und schon am ersten Tag wurde dieses zehnfach erhöhte Limit von einem oder mehreren der insgesamt 52 Anbieter von Regelenergie (siehe Liste) nicht nur voll ausgeschöpft, sondern auch beim Abarbeiten der Merit-Order-Liste (MOL) mehrfach bezuschlagt.
Der Kraftwerksbetreiber Uniper, der einer der größten Anbieter von Regelenergie ist, hatte gegen den Beschluss der Bundesnetzagentur am 5. Februar 2021 Beschwerde beim Oberlandesgericht Düsseldorf (OLG) eingelegt und am 8. November zusätzlich den Antrag auf aufschiebende Wirkung gestellt, dem das Gericht am 18. November stattgab. Die Verzehnfachung der Preisobergrenze auf 99.999,99 Euro/MWh dauerte aber nur ein paar Tage, weil die Bundesnetzagentur ihrerseits am 24. November beim Bundesgerichtshof gegen diese Entscheidung klagte. Da das OLG die aufschiebende Wirkung nur bis zur Einlegung eines Rechtsmittels beim BGH angeordnet hatte, entfiel diese zunächst automatisch. Die Übertragungsnetzbetreiber teilten deshalb am 25. November mit, dass weiterhin die alte Preisobergrenze von 9.999,99 Euro/MWh zur Anwendung komme.
Fast gleichzeitig entschied jedoch das OLG Düsseldorf am 24. November, die Bundesnetzagentur habe mit der Herabsetzung der Preisobergrenze auf ein Zehntel "eine in die Preisbildung eingreifende und damit regulatorische Preisobergrenze eingeführt, ohne dass eine entsprechende Ermächtigungsgrundlage besteht". Dies ergebe sich aus dem Artikel 5, Abs. 4, Buchstabe c in Verbindung mit Artikel 18, Abs. 1, Buchstabe a der EU-Verordnung vom 23. November 2017 zur Festlegung einer Leitlinie über den Systemausgleich im Elektrizitätsversorgungssystem (EB-VO). Aus Artikel 6, Abs. 3, Satz 1 dieser Verordnung lasse sich ebenfalls keine Ermächtigung der nationalen Regulierungsbehörde ableiten, selbständig und einseitig eine inhaltlich weitreichende Änderung der genehmigten "Modalitäten für Regelreserveanbieter" (MfRRA) vorzunehmen. Auch durch nationale Rechtsvorschriften werde die Bundesnetzagentur nicht ermächtigt, eine marktregulierende Preisobergrenze anstelle der in § 38 Abs. 4 der MfRRA enthaltenen technischen Preisobergrenze zu etablieren.
Ganz ähnlich argumentierte der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs in seiner Entscheidung vom 11. Januar, mit der er dem Antrag des Kraftwerksbetreibers Uniper stattgab, die aufschiebende Wirkung seiner Beschwerde gegen den Beschluss der Bundesnetzagentur vom 5. Februar 2021 bis zur höchstinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache wieder anzuordnen. Die Richter stützten die erneute Verzehnfachung der Preisobergrenze auf das formale Argument, dass die Bundesnetzagentur die Senkung auf 9.999,99 Euro/MWh ohne die notwendige vorherige Konsultation der Betroffenen beschlossen habe. Der Art. 6 Abs. 3 EB-VO erlaube ihr dies jedoch in seiner neuesten Fassung nicht. Er sei so gefasst, "dass die Regulierungsbehörde Vorschläge für eine Änderung der Modalitäten oder Methoden verlangen und eine Frist für die Vorlage dieser Vorschläge festlegen kann". Dagegen enthalte er "keine Befugnis der Regulierungsbehörde, genehmigte Modalitäten und Methoden ohne ein vorheriges Änderungsersuchen an die Übertragungsnetzbetreiber zu ändern".
Die zehnfach höhere Preisobergrenze von 99.999,99 Euro/MWh mutet nicht bloß wie eine "Schnapszahl" an. Man müsste auch schon sehr viel Schnaps trinken oder zumindest Uniper-Aktien besitzen, um sie für angemessen zu halten. Dennoch wurde sie von beiden Gerichten unter Berufung auf europarechtliche Konsultations-Vorgaben bis auf weiteres restauriert. Es sieht demnach fast danach aus, als ob die Bundesnetzagentur mit dem EuGH-Urteil vom September vorigen Jahres, das ihr eine allzu enge Anbindung an nationalstaatliche Vorgaben vorwirft und stattdessen eine stärkere Beachtung des EU-Rechts verlangt (210901), vom Regen in die Traufe geraten könnte. Zumindest können beide Arten von gesetzlichen Vorgaben gleichermaßen realitätsblind sein.
Dasselbe gilt indessen auch für Gerichte, die dann solche Vorgaben mehr oder weniger spitzfindig interpretieren. Bereits seit dem Start des Regelarbeitsmarkts erreichten die Bundesnetzagentur verschiedene Schreiben, in denen mit Blick auf die hohen Gebotspreise im Regelarbeitsmarkt die erneute Einführung einer vierstelligen technischen Preisgrenze gefordert wurde. Anfang Dezember 2020 gingen weitere Schreiben von Bilanzkreisverantwortlichen und eines Verbandes ein, mit denen nochmals nachdrücklich die Einführung einer vierstelligen Preisgrenze gefordert wurde. Ohne eine solche Preisgrenze sei man einer ständigen Wiederholungsgefahr ausgesetzt, die letztlich existenzbedrohend sei. Denn die irrsinnig hohen Preise für Regelenergie führten zu entsprechend erhöhten Kosten für die Ausgleichsenergie, die von den Bilanzkreisverantwortlichen aufzubringen waren.
Die Bundesnetzagentur mag daraufhin zwar kein förmliches "vorheriges Änderungsersuchen an die Übertragungsnetzbetreiber" gestellt haben. Die zuständige Beschlusskammer 6 hatte aber sicher gute Gründe, von diesem umständlichen Prozedere abzusehen, um den bereits eingetretenen Schaden zu Lasten der Bilanzkreisverantwortlichen (und letzten Endes der Stromverbraucher) nicht noch größer werden zu lassen. In ihrem Beschluss vom 16. Dezember 2020 hatte sie deshalb penibel aufgelistet, zu welch horrenden Ergebnissen diese fatale Preisobergrenze führte und weshalb sie die Stellungnahme der Übertragungsnetzbetreiber zu der beabsichtigten Absenkung in einer Telefonkonferenz einholte anstatt ein langwieriges Konsultationsverfahren zu starten. Aus der Begründung dieses Beschlusses ergibt sich unter anderem, dass bei der vorangegangen Konsultation zur Preisobergrenze von 99.999,99 €/MWh von einigen Marktteilnehmern – die sicher nicht zu den Anbietern von Regelenergie gehörten – sogar eine Absenkung auf 1.000 €/MWh verlangt worden war:
"Den Beteiligten wurde gem. § 67 Abs. 1 EnWG vor der Entscheidung durch die am 15.12.2020 geführte Telefonkonferenz Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.Von der nach Art. 6 Abs. 3 EB-VO grundsätzlich vorgesehenen öffentlichen Konsultation der Interessensträger (Art. 10 EB-VO) hat die Beschlusskammer in Ausübung des ihr nach §§ 56 Abs. 1 S. 3, 67 Abs. 2 EnWG zustehenden Ermessens im vorliegenden Falle ausnahmsweise abgesehen. Hierbei war zunächst zu berücksichtigen, dass im Rahmen einer öffentlichen Konsultation keine weiteren Informationen und Gesichtspunkte zu erwarten waren, die der Beschlusskammer nicht schon bereits aus der Vergangenheit und den bei ihr nach Start des Regelarbeitsmarkts unaufgefordert eingegangenen Schreiben der interessierten Wirtschaftskreise vorlagen. So hat die Beschlusskammer auch vor Erlass des Beschlusses BK6-18-004-RAM bereits eine Marktkonsultation durchgeführt. In dieser hatten sich die Marktteilnehmer zu der bisher geltenden technischen Preisgrenze von 99.999,99 €/MWh äußern können und diese Möglichkeit umfangreich wahrgenommen. Damals nahmen die aus dem Markt kommenden Vorschläge ein Spektrum von einem vollständigen Verzicht auf jede Form von technischer Preisgrenze bis hin zur Vorgabe einer 'technischen Preisgrenze von 1.000 €/MWh' ein. Ebenfalls wurde zu den ökonomischen Vor- und Nachteilen von Preisgrenzen in verschiedenen Höhen eingegangen und es wurden konkrete Berechnungsmethoden vorgeschlagen. Zudem wurde von den ÜNB in Absprache mit der BNetzA bereits in der Vergangenheit in Folge des Abrufs extremer Arbeitspreisgebote am 17.10.2017 und nach gerichtlich verfügter Wiedereinführung des Leistungspreissystems eine Preisobergrenze eingeführt. Damals wie heute positionierten sich sowohl die Regelreserveanbieter als auch die Bilanzkreisverantwortlichen öffentlich und auch gegenüber der Beschlusskammer zu dem Thema. Mithin sind die wesentlichen Argumente sowohl für das Für und Wider als auch für verschiedene Höhen und Berechnungsmöglichkeiten technischer Preisgrenzen der Beschlusskammer hinreichend bekannt. Weiter war zu berücksichtigen, dass durch eine (weitere) Konsultation ein erheblicher Zeitverlust eingetreten wäre, der einseitig zu Lasten der Bilanzkreisverantwortlichen gegangen wäre. Diese sehen sich letztlich seit dem Start des Regelarbeitsmarkts erneut der Gefahr von sehr hohen Ausgleichsenergiepreisen ausgesetzt, die sich nunmehr auch am 02.12.2020 realisiert hat. Mit Blick auf die bis zur Einführung einer neuen Preisgrenze permanent drohende Wiederholungsgefahr von extremen Ausgleichsenergiepreisen infolge von hohen Arbeitspreisen hat das Interesse der berührten Wirtschaftskreise an einer Konsultation gegenüber den Interessen der Bilanzkreisverantwortlichen an einem schnellen Handeln zurückzutreten. Zudem stand zu befürchten, dass eine vorherige Konsultation die Gefahr des Eintritts extremer Ausgleichsenergiepreise noch zusätzlich erhöht hätte. So hätten sich Marktteilnehmer angesichts einer „drohenden“ Änderung der technischen Preisgrenze dazu veranlasst sehen können, während der Konsultation und bis zu einer Einführung noch extremer zu bieten. Damit hätte die Gefahr bestanden, dass hohe Arbeitspreise noch tiefer als schon bisher in die Merit-Order-Liste eindringen, so dass auch bei geringen Abrufmengen hohe Ausgleichsenergiepreise zu befürchten gewesen wären."