Dezember 2017

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


 

 

Das Geschäft mit Regelenergie ist nicht unbedingt eine Goldgrube. Diese Erfahrung machte der Kommunalkonzern Thüga, als er 2014 fünfzig Blockheizkraftwerke zu einem "virtuellen Kraftwerk" zusammenfaßte, das in drei Regelzonen sowohl Sekundärregelleistung als auch Minutenreserve anbot. Auf diesem Foto verfolgt der zuständige Projektleiter der Thüga-Tochter Syneco die Leistungsverfügbarkeit der fünfzig Anlagen in Echtzeit auf dem Bildschirm und strahlt noch voller Zuversicht. Aber schon im Lagebericht für das Geschäftsjahr 2014, den die Thüga Trading GmbH wenig später ablieferte, klang herbe Enttäuschung an: "Die Komplexität und Kleinteiligkeit verursachen hohe personelle und technische Ressourcenbindung. Der Einbruch der Regelenergiepreise erschwert das Erreichen der Wirtschaftlichkeit." Zum Jahresende 2016 zog sich die Thüga endgültig aus dem unrentablen Geschäft zurück (151115).

Foto: Thüga

Mondpreise für Minutenreserve

Am Markt für Regelenergie geht nicht alles mit rechten Dingen zu

(zu 171201)

Alles hat seinen Preis. Es kommt aber auf die Umstände an, ob dasselbe Gut billig zu haben ist oder ob dafür Mondpreise verlangt werden können. Zum Beispiel hat ein Schluck Wasser in der Wüste einen vielfach höheren Wert als unter normalen Umständen. Wenn dann Ganoven als Wasserverkäufer auftreten, sind Verdurstende der Erpressung schutzlos ausgesetzt.

So ähnlich ist es auch bei den Preisen für die Ausgleichsenergie, die von den Übertragungsnetzbetreibern eingesetzt werden muß, damit Stromerzeugung und -verbrauch übereinstimmen. Die Minutenreserve kostete 2016 im Durchschnitt 50,17 Euro/MWh, wenn sie positiv war, und 14,12 Euro/MWh, wenn sie negativ war. Im ersten Fall wird ein zu hoher Verbrauch durch vermehrte Einspeisung ins Netz oder die Abschaltung von Großverbrauchern mit der Erzeugung ins Gleichgewicht gebracht. Im zweiten Fall erfolgt die Anpassung einer zu hohen Erzeugung an den Verbrauch durch das Zurückfahren von Kraftwerkskapazitäten oder die Aktivierung zusätzlicher Verbraucher.

Das sind eigentlich recht moderate Sätze, zumal der Durchschnittspreis für positive Minutenreserve, der bei der Abrechnung besonders zu Buche schlägt, von 2009 bis 2012 noch mehr als doppelt so hoch war. – Trotzdem schossen am Abend des 17. Oktober die Preise für positive Minutenreserve in die schwindelerregende Höhe von bis zu 24.455 Euro/MWh. Das war sage und schreibe 487-mal soviel wie der erwähnte Durchschnittspreis und lag auch weit außerhalb der Bandbreite, aus der sich dieser Durchschnittspreis üblicherweise ergibt. Wie konnte das passieren?

Formale Korrektheit der Preisermittlung schließt nicht aus, daß getrickst und manipuliert wurde

Sogar die Bundesnetzagentur weiß darauf bisher noch keine Antwort. Zumindest nicht amtlich. Sie hat aber eine Untersuchung eingeleitet, wieweit diese Preisexplosion durch verbotene Praktiken verursacht worden sein konnte. Sie will ferner das bestehende Regelwerk für die Beschaffung und den Einsatz von Regelenergie einer eingehenden Prüfung unterziehen. Vorsorglich machte sie die ganze Affäre auch noch publik und drohte mit "kurzfristigen" Gegenmaßnahmen, falls sich solche Situationen wiederholen sollten.

Vorab läßt sich schon sagen, daß die Mondpreise vom 17. Oktober formal korrekt zustande kamen. Insofern ist es tatsächlich höchste Zeit, das bestehende Regelwerk für die Beschaffung und den Einsatz von Regelenergie einer eingehenden Prüfung unterziehen. Das schließt allerdings nicht aus, daß zugleich getrickst und manipuliert wurde, damit die Mondpreise für Minutenreserve im Rahmen dieses Regelwerks nicht nur angeboten und auf den hinteren Teil der Merit-Order-Liste geraten konnten, sondern tatsächlich auch aktiviert wurden.

Seit 2012 läuft in den deutschen Regelzonen auch die Tertiärregelung voll elektronisch ab

Im dreistufigen System der Regelenergie, mit dem kurzfristige Schwankungen des Stromverbrauchs ausgeglichen werden, bildet die Minutenreserve die letzte Stufe nach der Primärregelung und der Sekundärregelung (siehe Hintergrund, Juni 2008). Sie entlastet nach spätestens 15 Minuten die Sekundärregelung, falls das Ungleichgewicht zwischen Verbrauch und Nachfrage weiterhin besteht. Sie wird deshalb auch als Tertiärregelung bezeichnet.

Im Unterschied zur Primär- und Sekundärregelung, die automatisch einsetzen, wurde die Minutenreserve früher von den Übertragungsnetzbetreibern manuell angefordert. In Österreich oder der Schweiz ist das heute noch so. In Deutschland hat man dagegen seit gut fünf Jahren auch die Tertiärregelung automatisiert. Damit läuft das Management der Minutenreserve von der Ausschreibung bis zum Abruf der bezuschlagten Angebote voll elektronisch ab. Dafür sorgt ein "Merit-Order-List-Server" (MOLS), der in der Zentrale von Amprion steht, auf den aber ebenso TenneT, 50Hertz und TransnetBW zugreifen können.

"Merit-Order" für Abruf der Minutenreserve wird jeweils am Vortag erstellt

Die Ausschreibung des voraussichtlichen Bedarfs an Minutenreserve erfolgt über die gemeinsame Internetplattform der vier Übertragungsnetzbetreiber unter regelleistung.net, und zwar von montags bis freitags für den jeweils nachfolgenden Tag (zuzüglich Sonn- und Feiertagen). Sie gilt für alle vier Regelzonen, sofern sie aus technischen Gründen nicht ausnahmsweise als "Kernanteil" einer bestimmten Regelzone zugeordnet sein muß. Zur Einreichung von Angeboten sind alle Unternehmen berechtigt, die ein entsprechendes Präqualifizierungsverfahren als Anbieter von Regelenergie absolviert haben. Die 24 Stunden eines Tages sind in sechs Zeitscheiben mit jeweils vier Stunden unterteilt. Die angebotene Leistung muß innerhalb einer solchen Zeitscheibe im Viertelstunden-Takt ein oder mehrere Male abgerufen werden können.

Abgabeschluß ist um 10 Uhr am Vortag. Das elektronische System entscheidet dann binnen einer Stunde über die Erteilung des Zuschlags. Kriterium ist dabei der Leistungspreis pro Megawatt, der für die bloße Vorhaltung einer bestimmten Kapazität verlangt wird, die jeweils über einen Zeitraum von vier Stunden viertelstündlich aktivierbar sein muß. Dieser Leistungspreis ist in jedem Falle zu zahlen, auch wenn die Leistung gar nicht abgerufen wird. Er ist aber eher die Ausnahme als die Regel. Es erhöht nämlich die Chancen für den Zuschlag, wenn ganz auf ihn verzichtet wird.

Die so zustande gekommene Liste der bezuschlagten Angebote wird dann nach der Günstigkeit des jeweils verlangten Arbeitspreises pro Megawattstunde sortiert: Die billigsten zuerst, die teuersten zuletzt. Bei der Abarbeitung dieser "Merit-Order" steigt deshalb der Preis überproportional zur Menge der abgerufenen Minutenreserve. Wie der jetzige Alarmruf der Bundesnetzagentur zeigt, kann er sogar irrwitzige Höhen erreichen, wenn man das gesamte Management der Minutenreserve allzu vertrauensselig dem Computer und den Marktteilnehmern überläßt.

Von einer Viertelstunde zur nächsten wurde die Megawattstunde 113-mal so teuer

Konkret geht es im vorliegenden Fall um die Merit-Order-Liste vom 17. Oktober. Genauer gesagt um die Zeitscheibe zwischen 16 und 20 Uhr. Wie schon erwähnt, wird die Minutenreserve täglich für sechs Zeitscheiben zu jeweils vier Stunden ausgeschrieben. Der Abruf erfolgt dann für jeweils mindestens eine Viertelstunde. Die Mindestgrenze für diese viertelstündigen Angebote – die über die ganze Zeitscheibe von vier Stunden hinweg vorgehalten werden müssen – wurde neuerdings auf 1 MW herabgesetzt. In dem hier betrachteten Zeitabschnitt betrug die kleinste und am häufigsten angebotene Kapazität aber weiterhin 5 MW, gefolgt von 10 und 15 MW.

Die irrsinnigen Preise vom 17. Oktober ergaben sich aus einem ungewöhnlich hohen Bedarf an positiver Minutenreserve, der aufgrund anhaltender Ungleichgewichte zwischen Stromerzeugung und -abnahme in der Zeit zwischen 19:15 Uhr und 19:45 Uhr erforderlich wurde. Er erreichte bis zu 1.537 MWh viertelstündlich und überschritt damit den prognostizierten Regel-Höchstbedarf von 1.131 MWh erheblich. Entsprechend stärker wurde die Merit-Order-Liste für die Zeitscheibe von 16 bis 20 Uhr in Anspruch genommen. Vor allem wurde dadurch automatisch eine Zone mit exzessiven Wucherpreisen aktiviert. Der bereits sehr hohe Preis von zuletzt 5.999 Euro/MWh stieg in diesem Moment schlagartig um das Zwölffache auf 71.000 Euro/MWh.

Wie das Informationssystem "Smard" erkennen läßt (siehe Grafik), war der Bedarf an Minutenreserve zunächst negativ, ehe er um 18.45 mit 344 MW positiv wurde. In den beiden folgenden Viertelstunden kletterte er bis auf 1.537 MW, wodurch der Preis pro Megawattstunde binnen einer halben Stunde von 182 auf 24.445 Euro hochschnellte. Er stieg also von einer Viertelstunde zur nächsten um das 113-fache, und eine Viertelstunde später war er sogar 134-mal so hoch:

 

Zeit
abgerufene Minutenreserve in Megawattstunden (MWh)
Arbeitspreis der abgerufenen Minutenreserve in Euro/MWh
18:45
344
86,32
18:30
1340
219,53
19:00
1537
182,01
19:15
991
20614,97
19:30
796
24445,05
19:45
543
74,77

 

Der Sprengsatz, der die Preis-Explosion auslöste, war programmiert

Die plötzliche Vervielfachung des Arbeitspreises für die abgerufene Minutenreserve kam nicht aus heiterem Himmel. Der Sprengsatz, der die Preisexplosion auslöste, war vielmehr in der Merit-Order-Liste programmiert und wurde gezündet, sofern ein bestimmter Bedarf überschritten wurde. Dies zeigt eine nähere Betrachtung der Ausschreibungsergebnisse für die Minutenreserve am 17. Oktober, die unter regelleistung.net abgerufen werden kann. Von den insgesamt 4.305 Einträgen sind dabei nur die 341 Angebote für die Zeitscheibe von 16 bis 20 Uhr relevant, und von diesen nur die 261, die tatsächlich in die Merit-Order-Liste aufgenommen wurden.

Diese 261 Zuschläge für Minutenreserve-Angebote entsprachen einer Gesamtleistung von 1.619 MW. Einigermaßen günstig waren aber aber nur 91 Angebote im Umfang von 759 MW, für die sich ein Durchschnittspreis von 286 Euro/MWh ergab. Es folgte ein kräftiger Preissprung zu insgesamt 46 Angeboten mit 232 MW und einem durchschnittlichen Arbeitspreis von 3.863 Euro/MWh. Sobald auch dieses Potential ausgeschöpft war und der Bedarf die Grenze von 991 MW überschritt, mußte ein dritter Preisblock in Anspruch genommen werden, der 125 Angebote im Umfang von 628 MW mit einem Durchschnittspreis von 77.925 Euro/MWh umfaßte.

Merit-Order bestand zu 48 Prozent aus Mondpreisen

Diese dritte Zone enthielt also exzessive Wucherpreise. Sie begann mit drei Angeboten zu 71.000 Euro/MWh. Es folgten 120 Angebote zum Preis von jeweils exakt 77.777 Euro/MWh. Den krönenden Abschluß der Zuschlag-Liste bildeten dann zwei Angebote mit 94.500 Euro/MWh bzw. 99.999 Euro/MWh. Die Aktivierung von einem Megawatt Minutenreserve kostete somit in diesem dritten Preisblock mindestens 71.000 Euro pro Stunde oder 17.750 Euro viertelstündlich.

Die Merit-Order bestand so zu 48 Prozent aus Angeboten, die preislich in einem Bereich lagen, für den die Bezeichnung "Wucher" eigentlich eine Untertreibung wäre. Es handelte sich schlicht um das, was der Volksmund als Mondpreise bezeichnet. Mit 99.999 Euro/MWh reizten sie sogar die technische Höchstgrenze des "Merit-Order-List-Servers" bis zum letzten Euro aus. Auch Arbeitspreise wie 77.777 Euro/MWh oder 88.888 Euro/MWh, die in der Angebotsliste für den 17. Oktober massenhaft auftauchen, wirken absolut aus der Luft gegriffen.

Die Bundesnetzagentur wird nun klären müssen, wie es zu einer derart wurmstichigen Merit-Order-Liste kommen konnte, ob dabei Marktmanipulation im Spiel war und wie sich die automatische Abarbeitung einer solchen Liste von vornherein verhindern läßt. Zugleich ist zu prüfen, wie der ungewöhnlich hohe Bedarf an Minutenreserve zustande kam, der die Aktivierung der teuersten Angebote überhaupt erst bewirkte. Die Behörde wird also die Bilanzkreise der Stromhändler, Erzeuger oder Einkäufer der Verteilerunternehmen untersuchen müssen, aus deren Ungleichgewicht der Bedarf an Ausgleichsenergie entstand.

Ausgleichsenergie scheint auch für Arbitrage-Geschäfte mißbraucht worden zu sein

Übrigens kam es schon fast zu Stromausfällen, weil zu wenig Regelenergie vorhanden war: So reichte zwischen Weihnachten und Silvester 2011 die verfügbare negative Leistung für die Sekundär- und Tertiärregelung nicht aus. Ein paar Wochen später fehlte es zwischen dem 6. und 14. Februar 2012 an genügend positiver Regelenergie. Die kritischen Situationen konnten nur mit einer ganzen Palette von Notmaßnahmen gemeistert werden (120503).

In beiden Fällen wollte die Bundesnetzagentur nicht ausschließen, daß der Mangel an Regelenergie auch durch deren Mißbrauch für "Arbitrage"-Geschäfte verursacht wurde. Bei vorübergehend sehr hohen Preisen für die Beschaffung von Börsenstrom kann es nämlich für Stromhändler günstiger sein, den relativ billigeren Preis für Ausgleichsenergie in Anspruch zu nehmen, indem vorsätzlich ein Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch herbeigeführt wird. Dieser Verdacht war vor allem nach dem Regelenergie-Notstand im Februar aufgetaucht (120202). Aufgrund der daraufhin eingeleiteten Untersuchungen gelangte die Bundesnetzagentur allerdings zu dem Ergebnis, das vorsätzliche Arbitrage "bei weitem nicht die alleinige Ursache" sein könne. Es habe sich wohl eher um wetterbedingte Prognosefehler gehandelt.