Mai 2021

210504

ENERGIE-CHRONIK


 


Der einstige EnBW-Chef Utz Claassen wurde hierzulande gelegentlich mit der Filmfigur Rambo (050106) oder gar mit dem afrikanischen Despoten Idi Amin (060318) verglichen. Dagegen erfreute er sich in Russland offenbar hoher Wertschätzung. Dieses EnBW-Pressefoto zeigt ihn am 22. Juli 2005, nachdem er in der russischen Botschaft feierlich mit dem "Kreuz des Ordens des Heiligen Nikolaus" ausgezeichnet wurde.
Neben ihm steht der russische Botschafter Wladimir V. Kotenev, der später Chef der Gazprom Germania wurde (100716), aber sehr schnell in der Versenkung verschwand (110615). Nicht im Bild, aber ebenfalls zugegen, war der dubiose russische Geschäftsmann Andrej Bykov, dem Claassen die wunderliche Auszeichnung verdankte und von dem die EnBW bald darauf ihre im russischen Sumpf versenkten Millionen zurückhaben wollte (siehe Hintergrund).

EnBW zieht Schlussstrich unter Russland-Affäre

Die Hauptversammlung der Energie Baden-Württemberg billigte am 5. Mai den Vorschlag von Aufsichtsrat und Vorstand, einen Vergleich mit dem amtierenden Technikvorstand Hans-Josef Zimmer (63) einzugehen, der zum 31. Mai 2021 in den Ruhestand tritt. Damit soll ein Schlussstrich unter die "Russlandgeschäfte" gezogen werden, mit denen die EnBW von 2001 bis 2008 mindestens 220 Millionen Euro versenkte, ohne die erwartete Gegenleistung zu bekommen (siehe Hintergrund).

Die Affäre trug in mehrfacher Hinsicht possenhafte Züge. Zum einen will der russische Lobbyist Andrey Bykov das Geld, das ihm die EnBW ohne Absicherung zukommen ließ, zur Renovierung von Kirchen ausgegeben haben, um sich über diese Art von "Klimapflege" das geneigte Ohr der russisch-orthodoxen Geistlichkeit und anderer Stützen des Kreml-Regimes zu sichern. Zum anderen wirkte es schizophren, wie die EnBW seit 2010 von ihrem Vorstandsmitglied Zimmer Schadenersatz in Höhe von 87,5 Millionen Euro verlangte, weil er die wertlosen Verträge mit Bykov-Firmen unterschrieben hatte, ihn aber zugleich weiterhin in seiner einflußreichen Stellung als Technikvorstand beließ. Zimmer hatte nach Einreichung der Klage zwar freiwillig seinen Rücktritt erklärt. Er war dann aber eineinhalb Jahre lang als "Generalbevollmächtiger Technik" mit demselben Aufgabenbereich bei der EnBW angestellt und wurde ab 2012 wieder reguläres Vorstandsmitglied.

Leider enthält die nun vorliegende firmenoffizielle Darstellung der Russland-Affäre keine nähere Angaben dazu, auf welche Weise bei der EnBW Entscheidungen zur Unternehmensstrategie getroffen wurden bzw. sich diese oder jene "Erkenntnis durchgesetzt" hat. Auf der Ebene von Vorstand und Aufsichtsrat bleibt alles in Nebel gehüllt. Die EDF, die zehn Jahre lang die Unternehmensführung hatte, wird nicht einmal erwähnt, ebenso alle Vorstandsvorsitzenden, von Gerhard Goll (1997 - 2003), Utz Claassen (2003 bis 2007) und Hans-Peter Villis (2007 bis 2012) bis zu Frank Mastiaux (seit 2012), obwohl die fraglichen "Russlandgeschäfte" in die Amtszeit der beiden ersten fielen und die der beiden anderen als nicht aufgearbeitete Altlasten begleitet haben.

Aktionäre billigten auch die Vergleichsvereinbarung mit 99,99 Prozent der Stimmen

Die ordentliche EnBW-Hauptversammlung fand ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten als rein virtuelle Versammlung statt. Die Anteilseigner fassten insgesamt zehn Beschlüsse mit der jeweils überwältigenden Mehrheit von 263.706.696 Ja-Stimmen (99,99 Prozent) bei nur 1.959 Nein-Stimmen (0,01Prozent). Neben der Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat sowie der Ausschüttung einer Dividende von 1,00 Euro pro Aktie gehörte dazu als letzter Punkt die Zustimmung zur Vergleichsvereinbarung mit dem Vorstandsmitglied Hans-Josef Zimmer. Anteilseigner der EnBW sind das Land Baden-Württemberg und der Kommunalverband OEW mit jeweils 46,75 Prozent. Der Rest entfällt auf drei kleinere Kommunalverbände (3,78 Prozent), eigene Aktien der EnBW (2,08 Prozent) und sonstige Aktionäre (0,39 Prozent).

Hintergrund

220 Millionen Euro für den Heiligen Nikolaus

Wie die EnBW viel Geld für russisches Gas ausgab, das dann der Verschönerung von Kirchen oder Wallfahrten zugute kam

(siehe oben)

Der Chef der Energie Baden-Württemberg sah ein bißchen aus wie ein geschmückter Pfingstochse, als ihm am 22. Juli 2005 das "Kreuz des Ordens des Heiligen Nikolaus" verliehen wurde. Es handelte sich aber um eine "hohe russische Auszeichnung für Prof. Dr. Utz Claassen", wie die EnBW in einer Pressemitteilung versicherte. Sie sei ihm "von Anatoli Kulikov, dem ehemaligen stellvertretenden russischen Ministerpräsidenten, im Beisein von Vladmir V. Kotenev, Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland" verliehen worden, und zwar "als erster Ausländer überhaupt".

Das klang so pompös wie halbseiden. Es fing schon mit dem "Professor" an. Claassen legte bei der EnBW großen Wert auf diese Anrede, obwohl sich dahinter nichts weiter verbarg als der Titel eines Honorarprofessors, zu dem ihm die Universität seiner Heimatstadt Hannover verholfen hatte. Die "hohe russische Auszeichnung" war von noch beträchtlich minderer Güte: Claassen hatte sie einem von der EnBW angeheuerten russischen Lobbyisten zu verdanken, der als Präsident einer Stiftung mit dem schönen Namen "Heiliger Nikolaus, der Wundertäter" freigiebig über derartige Auszeichnungen verfügen konnte. Es handelte sich sozusagen um einen religiös verbrämten Karnevalsorden. Es war dem Lobbyisten aber gelungen, für die notwendige politische Staffage zu sorgen, damit der Eindruck einer direkt vom Kreml verliehenen Auszeichnung entstand.

Diesen Eindruck vermittelte auch die Pressemitteilung der EnBW, in der es hieß, Claassen habe seine Dankesrede in der russischen Botschaft "vor Abgeordneten der Duma und Industrievertretern aus Deutschland und Russland " gehalten. Dabei habe er den "fruchtbaren und andauernden Dialog mit Russland" sehr begrüßt und festgestellt: "Seit 33 Jahren kooperieren wir erfolgreich."

Da es die EnBW erst seit acht Jahren gab, kann sich diese Bemerkung nur auf die allgemeinen Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik und der ehemaligen Sowjetunion bezogen haben. Die beiden Vorgänger-Unternehmen EVS und Badenwerk betrieben keine Geschäfte mit Russland. Bei der EnBW gab es sie bisher ebenfalls nicht. Zumindest sah es nach außen so aus. Man durfte deshalb rätseln, weshalb ausgerechnet der kleinste der vier großen Energiekonzerne nun plötzlich bei den energiewirtschaftlichen Beziehungen mit Russland den Vorreiter machte und dafür vom Kreml mit einer "hohen Auszeichnung" bedacht wurde.

Tatsächlich unterhielt die EnBW aber schon seit einigen Jahren Beziehungen mit Russland, um ihre fünf Reaktoren in Philippsburg, Neckarwestheim und Obrigheim mit billigen Brennelementen aus russischer Fertigung bestücken zu können. Das blieb allerdings geheim. Die Kontaktaufnahme erfolgte auch nicht unter Claassen, der erst seit Mai 2003 der EnBW vorstand, sondern unter dessen Vorgänger Gerhard Goll. Als Türöffner diente dabei ein Lobbyist namens Andrej Bykov, der aufgrund seiner früheren Tätigkeit im russischen Staatsdienst über beste Beziehungen auf politischer und geschäftlicher Ebene zu verfügen schien. Jedenfalls kam es unter Mitwirkung dieses Herrn Bykov zu den Lieferverträgen für Brennstäbe mit dem russischen Atomministerium (Rosatom) bzw. dem Ministerium der Russischen Föderation für Nuklearenergie (Minatom).

Dass nun der amtierende EnBW-Chef Claassen diesen Nikolaus-Orden umgehängt bekam, hatte mit anderen Geschäften neueren Datums zu tun, die ebenfalls mit dem besagten Bykov vereinbart wurden. Laut der Darstellung, mit der Aufsichtsrat und Vorstand auf der jüngsten Hauptversammlung den vorgeschlagenen Vergleich mit dem amtierenden Technikvorstand Hans-Josef Zimmer begründeten, sah die EnBW infolge des Atomausstiegs ihr bisheriges Geschäftsmodell gefährdet und wollte deshalb verstärkt auf Gas setzen:

"Im Jahr 2000 vereinbarte die Bundesregierung mit den deutschen Energieversorgungsunternehmen vertraglich den Ausstieg aus der Kernenergie. Aufgrund ihres hohen Kernenergieanteils von damals mehr als 50 Prozent sah die EnBW AG in der Folge ihr Geschäftsmodell als gefährdet an. Bei der EnBW AG setzte sich daher die Erkenntnis durch, dass die bislang rein Nuklearbrennstoff-bezogenen Geschäftsverbindungen mit russischen Partnern ausgebaut und der Zugang in das russische Upstream-Gasgeschäft gesucht werden sollte. Denn der nun angestrebte Betrieb von Gaskraftwerken war wirtschaftlich nur dann sinnvoll zu realisieren, wenn eine langfristige und kostengünstige Gasbelieferung gesichert war. Die Gasbelieferung sollte idealerweise durch eine direkte Beteiligung an einem russischen Gasfeld sichergestellt werden."

Die Direktbeteiligung an einem russsischen Gasfeld war damals noch kein unrealistisches Ziel. Zum Beispiel hatten Shell und BP in den neunziger Jahren sogar Mehrheitsbeteiligungen an sibirischen Gasfeldern erworben. Dass die EnBW nicht ganz in derselben Liga spielte, war auch kein Hindernis, sondern ein eher oberflächlicher Eindruck. Hinter dem südwestdeutschen Energiekonzern stand nämlich inzwischen der französische Staatskonzern EDF. Dieser war Anfang 2000 als Großaktionär bei der EnBW eingestiegen (010201). Gemeinsam mit dem Kommunalverband Oberschwäbische Elektrizitätswerke (OEW) kontrollierte er 69 Prozent der Stimmrechte (020417). Außerdem hatte er sich gegen Zahlung von 100 Millionen Mark von der OEW die unternehmerische Führung einräumen lassen (010201). Fortan tauchte die EnBW in den Geschäftsberichten der EDF als "filiale" auf. Sie wurde also als deutsche Tochter des französischen Staatskonzerns betrachtet.

Die Erweiterung der Geschäftsbeziehungen mit Russland auf Gaslieferungen wegen des Ausstiegs aus der Kernenergie wird deshalb wohl kaum ohne Wissen und Billigung der französischen Unternehmensführung erfolgt sein können. Möglicherweise kam der Anstoß dazu sogar von der EDF, die einen Großteil ihres radioaktiven Mülls schon seit den neunziger Jahren in Russland entsorgen ließ (091006). Wie stark der Einfluss der Franzosen in Karlsruhe war, zeigte der damalige Versuch der EnBW, den viertgrößten spanischen Stromversorger Hidrocantabrico zu übernehmen. Einziger Nutznießer dieses sinnlosen Abenteuers wäre die EDF gewesen. Die EU-Kommission genehmigte deshalb der EnBW diese Übernahme nur mit Auflagen, die ausschließlich von der EDF zu erfüllen waren (010912). Letztendlich scheiterte das Vorhaben aber am subversiven Widerstand der spanischen Behörden und hinterließ bei der EnBW einen beträchtlichen finanziellen Schaden (040713).

Das Vorhaben, einen direkten Zugang zur russischen Gasförderung zu erlangen, wäre da schon sinnvoller gewesen. Noch ahnte man nicht, dass Putin bald nach seinem Machtantritt die ausländischen Mehrheitsbeteiligungen wieder einkassieren würde (061220, 070611). Sogar Minderheitsbeteiligungen, wie sie E.ON (090605) und der BASF (060403) nach jahrelangem Feilschen zugestanden wurden, gab es dann nur noch als besonderer Gunstbeweis für wichtige Geschäftspartner der Gazprom.

Der Weg zum eigenen Gasfeld in Sibirien führte freilich schon damals durch den typisch russischen Dschungel aus Korruption und Willkür, in dem man ohne Pfadfinder verloren war. Die spanischen Behörden, an deren Ränken die Übernahme von Hidrocantabrico scheiterte, waren da vergleichsweise eine preussisch-korrekte Bürokratie. Und so griff die EnBW erneut auf die Dienste des Andrej Bykov zurück, dessen Waldläufer-Kenntnissen im Wilden Osten sie blindlings vertraute.

Laut der erwähnten Darstellung von Vorstand und Aufsichtsrat ging es nun darum, "den beabsichtigten Einstieg ins russische Gasgeschäft zu erreichen, gleichzeitig die Belieferung mit nuklearen Brennstoffen zu sichern und auch die Zusammenarbeit mit russischen Partnern im Bereich der Entsorgung von Kernbrennstoffen und des Rückbaus von Kernkraftwerken zu intensivieren". – Und wie der Zufall es so wollte, verfügte der Tausendsassa Bykov gleich über mehrere Gesellschaften, die zielgerichtet die jeweiligen Lobby-Leistungen anboten. Die EnBW schloss deshalb mit diesen Firmen zwischen dem 30. März 2001 und dem 28. Januar 2008 eine Vielzahl von Verträgen ab.

Unter anderem ging es um ein sogenanntes EasyToll-System, zu dem am 3. Juli 2004 in der Berliner EnBW-Vertretung ein geheimes Treffen mit dem Generalsekretär der Regierungspartei Einiges Rußland, Valery Bogomolov, stattfand. Dieser bat die westdeutschen KKW-Betreiber um Hilfe bei der Bewältigung der nuklearen Hinterlassenschaften, die Rußland kaum noch vor Diebstählen und anderem Mißbrauch schützen könne. So entstand die Idee für das "Accounting- und Monitoringsystem für radioaktive Abfälle und Spaltmaterialien", für das die EnBW 12 Millionen Euro locker machte. Auch RWE war bei diesem Gespräch dabei. E.ON und Vattenfall bekamen zumindest die Protokolle der Sitzung, ließen sie aber anscheinend im Panzerschrank verschwinden, weil das Horrorgemälde von der russischen Nuklearwirtschaft überhaupt nicht zu ihrer Absicht paßte, aus dem 2001 besiegelten Kernenergie-Kompromiß möglichst schnell wieder auszusteigen.

Als Vertragspartner dieser Geschäfte mit den Bykov-Firmen fungierten auf Seiten der EnBW die EnBW Kraftwerke AG (KWG), die EnBW Kernkraft GmbH (EnKK) und die Kernkraftwerk Obrigheim GmbH (KWO). Viele dieser Unterschriften leistete Hans-Josef Zimmer, der bis September 2007 Geschäftsführer der EnKK und zugleich Vorstand der KWG war. Anschließend wurde er Technikvorstand des EnBW-Konzerns.

Aber leider waren die meisten Verträge das Papier nicht wert, auf dem sie unterschrieben wurden. Das lag wohl daran, dass Bykov gar nicht – oder zumindest nicht mehr – über die exklusiven Kontakte zu russischen Wirtschafts- und Regierungskreisen verfügte, derer er sich rühmte. Das scheint ihm selber bewußt gewesen zu sein, denn die Verträge waren vorsorglich so allgemein und unverbindlich formuliert, dass von drei Klagen, die später die EnBW wegen Nichterfüllung der geschuldeten Leistungen vor Schiedsgerichten anstrengte, nur eine halbwegs erfolgreich war (130114). Und auch diese 24,5 Millionen Euro mußte die EnBW in den Wind schreiben, weil es bei der im Schweizer Handelsregister angesiedelten Bykov-Firma nichts zu holen gab.

Um die Nichterfüllung der vereinbarten Leistungen plausibel zu machen, hat Bykov im Zuge der Schiedsgerichtsverfahren selber die Behauptung aufgestellt, es habe sich um Scheingeschäfte gehandelt. In Wirklichkeit sei es lediglich darum gegangen, ihn für Lobbyarbeit zur Anbahnung von Gasgeschäften in Rußland zu honorieren. Als Präsident der Stiftung "Heiliger Nikolaus, der Wundertäter" habe er deshalb die EnBW-Gelder für Kirchen, Wallfahrten und andere klerikale Propaganda zur Stützung des Kreml-Regimes verwendet (120601). Auch die 12 Millionen Euro für das EasyToll-System zur Überwachung radioaktiven Materials sind so beim Heiligen Nikolaus gelandet.

Eine gewisse Plausibilität konnte Bykovs kühner Behauptung nicht abgesprochen werden, da er vertraglich offenbar tatsächlich nur für seine Dienstleistung als Türöffner bezahlt wurde, aber nicht für die Erfolglosigkeit derartiger Bemühungen haften musste. Und war es denn nicht sinnvoll, das Ohr der Machthaber in Moskau über die klerikale Schleimspur zu erreichen? – Schließlich war nach dem Ende der Sowjetunion das alte Bündnis zwischen Thron und Altar neu belebt und die russisch-orthodoxe Kirche wieder zu einer wichtigen Stütze der Herrscher im Kreml geworden.

"Dieser Heilige ist in Russland sehr bedeutend", versicherte Bykov in einem Interview mit dem "Handelsblatt" schlitzohrig. "Und jeder, der sich für ihn einsetzt, kann im Gegenzug mit großem Wohlwollen der Behörden und höchsten Spitzen von Politik, Industrie und Militär rechnen. Das nennt man Klimapflege." Bykov überließ der Zeitung zugleich eine ganze Serie von Fotos, um zu belegen, daß das EnBW-Geld tatsächlich in solche "Klimapflege" geflossen sei. (120601)

Bykov widersprach ferner der Vermutung, dass ihn die EnBW im Auftrag oder auch nur mit Wissen der EDF angeheuert habe. Im Gegenteil: Die Franzosen seien gar nicht an Gas als Alternative zum deutschen Atomausstieg interessiert gewesen. Sie hätten nur ihren eigenen Atomstrom verkaufen wollen. Deshalb hätten die Russlandgeschäfte sogar vor der EDF geheimgehalten werden müssen, was wiederum zahlreiche Ungereimtheiten in den mit ihm abgeschlossenen Verträgen erkläre. Und wenn jetzt diese Verträge überprüft und in Frage gestellt würden, steckten ebenfalls die Franzosen dahinter.

Alles in allem – nach Abzug einiger tatsächlich erbrachter Gegenleistungen – belief sich der Gesamtschaden nach Angaben der EnBW auf rund 220 Millionen Euro. Davon wollte sie 87,5 Millionen von dem Vorstandsmitglied Zimmer zurückhaben, mit dem jetzt der von der Hauptversammlung gebilligte Vergleich geschlossen wird. Zimmer wurde vorgeworfen, dass er ohne die notwendige Abstimmung gehandelt und damit seine Pflichten verletzt habe. Zwei entsprechende Haftungsklagen wurden im November 2011 beim Landgericht Landau eingereicht.

Ferner verlangte die EnBW von ihrem früheren Technikvorstand Thomas Hartkopf 26 Millionen Euro, weil er als Aufsichtsratsvorsitzender der Kernkraft-Tochter EnKK die Geschäfte mit Bykov nicht korrekt überwacht habe. Vom ehemaligen Geschäftsführer des Kernkraftwerks Obrigheim, Konrad Schauer, wollte sie 8,5 Millionen Euro haben. Den ehemaligen EnKK-Geschäftsführer Wolfgang Heni verklagte sie sogar auf 93 Millionen Euro. Die beiden erstgenannten Klagen wurde von den Landgerichten Mosbach und Heidelberg in den Jahren 2013 und 2014 verhandelt und vollumfänglich abgewiesen.

Hartkopf war schon im Februar 2007 von seinem Amt zurückgetreten und hatte die EnBW verlassen, "aus persönlichen Gründen", wie es hieß, aber "auf eigenen Wunsch und im guten Einvernehmen" (070217). Sein Nachfolger als Technikvorstand wurde Zimmer. Dieser verblieb dann auch in dieser hohen Führungsposition, obwohl die EnBW von ihm einen dreimal höheren Schadenersatz verlangte, als dies nachträglich bei Hartkopf der Fall war. Es war nur eine Formalität, als Zimmer ab Juli 2010 zwischendurch aus dem Vorstand ausschied. Der EnBW-Aufsichtsrat bezeichnete den Rücktritt als "höchst respektable Geste, die Zeugnis der Integrität von Dr. Zimmer" sei. Um den Fachmann weiter behalten zu können, werde man ihm "einen Vertrag als Topmanager mit weitreichender Verantwortung im Bereich Technik anbieten". Das vakante Vorstandsressort Technik werde bis auf weiteres nicht wieder besetzt (100716). Tatsächlich hat Zimmer dann unter dem Titel eines "Generalbevollmächtigten Technik" seine alte Tätigkeit fortgesetzt, bis er ab 1. Januar 2012 wieder offiziell als Mitglied des Vorstands und "Chief Technical Officer" zeichnete.

So geht man eigentlich nicht mit Leuten um, denen man nicht mehr vertraut. Wie aus dem Bericht zum Vergleichsvorschlag hervorgeht, handelte es sich wohl auch eher um eine kunstvoll angelegte Schachpartie, bei der externe Berater eine wichtige Rolle spielte. Der EnBW-Vorstand hatte nämlich am 19. Mai 2009 beschlossen, "die mit den Gesellschaftern der Bykov-Gruppe eingegangenen Vertragsbeziehungen nicht nur intern unter Verantwortung der EnBW AG aufzuklären, sonder auch einer umfassenden und unabhängigen Untersuchung durch externe Spezialisten zu unterziehen".

Die zunächst mit der Aufklärung beauftragte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG legte am 5. November 2009 einen Untersuchungsbericht vor. Er bestätigte, dass die mit Bykov geschlossenen Verträge ziemlich windig waren, sah aber keine Anhaltspunkte für ein persönliches Verschulden von EnBW-Mitarbeitern. Die daraufhin eingeschaltete Anwaltskanzlei Freshfields gelangte dagegen in ihrem Untersuchungsbericht vom 30. Juni 2010 zu der Einschätzung, dass Zimmer "gegen Gremienvorbehalte sowie gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit der Geschäftsführung und gegen das Legalitätsprinzip verstoßen" habe. Sie empfahl, gegen ihn und die anderen Organmitglieder Schadenersatzklagen wegen pflichtwidrigen Handelns zu erheben.

Dann bekam allerdings auch noch die Staatsanwaltschaft Mannheim, die auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert ist, Wind von der Affäre. Am 18. Juni 2012 leitete sie gegen Zimmer und andere Verantwortliche der EnBW-Konzerngesellschaften ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Untreue und der Steuerhinterziehung ein. Daraufhin wurde die beim Landgericht Landau anhängige Schadenersatzklage gegen Zimmer auf Antrag der EnBW ausgesetzt. Sie ruhte seither und wurde nie mündlich verhandelt.

Am 18. April 2013 durchsuchte ein Großaufgebot an Steuerfahndern und Polizisten EnWB-Zentrale in Karlsruhe, zwei weitere EnBW-Unternehmen sowie bundesweit sieben Wohnungen, darunter die des früheren EnBW-Chefs Claassen (130412). Wie der Konzern mitteilte, ging es sowohl um die Ermittlungen zur Rußland-Affäre als auch um ein betrügerisches Umsatzsteuerkarussell mit Emissionszertifikaten, an dem EnBW-Mitarbeiter beteiligt waren (120613). Insgesamt verdächtigte die Staatsanwaltschaft sieben Manager der EnBW und ihrer Tochterunternehmen, in den Jahren 2001 bis 2008 falsche Steuererklärungen abgegeben zu haben, indem sie die Zahlungen an Bykov als Betriebsausgaben geltend machten. Außerdem ermittelte sie wegen Untreue, da der EnBW "durch den pflichtwidrigen Abschluß von in wirtschaftlicher Hinsicht nicht nachvollziehbaren Verträgen" mit Bykov ein Vermögensnachteil entstanden sei.

Den Verdacht der Untreue ließ die Staatsanwaltschaft später fallen. Die EnBW fand bei der Akteneinsicht auch keine Hinweise darauf, dass "im Zusammenhang mit den Russlandgeschäften Bestechungsgelder oder Kick-backs gezahlt worden sein könnten". Die Staatsanwaltschaft bot Zimmer an, das ganze Verfahren gegen Zahlung einer Geldauflage von 30.000 Euro einzustellen. Dieses Angebot gilt bis heute. Im vorgesehenen Vergleich verbindet die EnBW deshalb den definitiven Rückzug ihrer beiden Haftungsklagen mit der Klarstellung, dass sie "keine etwaigen Geldauflagen im Zusammenhang mit dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gegen Herrn Dr. Zimmer übernimmt oder erstattet".

Eine nicht unwichtige Rolle spielte sicher auch, dass die EnBW für Zimmer und andere Angestellte fürsorglicherweise eine Manager-Haftpflichtversicherung abgeschlossen hatte. Wenn es ihr gelungen wäre, ihn für erlittene Vermögensschäden haftbar zu machen, hätte er die 87,5 Millionen also nicht aus eigener Tasche bezahlen müssen. Vermutlich wusste das die Anwaltskanzlei Freshfields, als sie empfahl, die Angelegenheit auf diese Weise zu regeln.

Indessen ist nicht so sicher, ob die EnBW die Versicherungssumme auch bekommen hätte. Wie sich dem von Vorstand und Aufsichtsrat vorgelegten Bericht zum Vergleichsvorschlag entnehmen lässt, war aufgrund einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 27. Mai 2015 "zu befürchten, dass die D&O-Versicherung sich im Falle des vollständigen oder teilweisen Obsiegens der EnBW-Konzerngesellschaften gegen Herrn Dr. Zimmer weigern könnte, Deckungsschutz zu gewähren". Die Versicherung habe auch keine Vergleichsbereitschaft erkennen lassen, sondern sich darauf berufen, dass die verklagten Organmitglieder nicht schadensersatzpflichtig seien.

An der Affäre bleibt weiterhin vieles undurchsichtig. Zum Beispiel, weshalb der EnBW durchaus bekannt war, dass Bykov der Stiftung "Heiliger Nikolaus, der Wundertäter" präsidierte, dies aber als dessen Privatsache betrachtete. Dabei war die Stiftung durchaus in die Geschäftsbeziehungen miteinbezogen. EnBW-Manager waren dort wiederholt zu Besuch. Wolfgang Heni ließ sich sogar 2007 in das Kuratorium aufnehmen, dem Bykov vorsaß. Als es zum offenen Krach gekommen war, veröffentlichte die Stiftung auf ihrer Internet-Seite Fotos, die Bykov mit hochrangigen EnBW-Managern zeigten, wie sie angeblich russische Gasfelder besichtigten oder das Büro der Nikolaus-Stiftung besuchten. Mehrfach zu sehen war der frühere Konzernchef Gerhard Goll. Ebenso der Claassen-Vertraute Hermann Schierwater, den sein Freund und Gönner 2003 zum Kommunikationschef der EnBW gemacht hatte und ab 2007 zum "Generalbevollmächtigen Konzernentwicklung und Zukunftsmärkte" beförderte. Es ist kaum vorstellbar, dass Schierwater diese Russland-Exkursionen ohne Wissen seines Spezis unternommen hat. Oder dass Claassen von den Verträgen nichts gewusst hat, die mit Bykov zustande kamen. Aber genau das ließ der EnBW-Chef Anfang 2013 auf Anfrage einer Zeitung durch seinen Anwalt bestreiten: "Herr Claassen hatte persönlich vom Inhalt keines der angeblich während seiner Amtszeit von Enkel- oder Urenkelgesellschaften der EnBW mit Herrn Bykow oder dessen Firmen abgeschlossene Verträge Kenntnis." (130114)

Diese wunderliche Formulierung sollte wohl die abgrundtiefe Distanz zum Ausdruck bringen, die den Vorstandsvorsitzenden eines Konzerns von den Vorgängen auf den unteren Ebenen der Tochter-, Enkel- oder Urenkelgesellschaften trennt. Claassen sprach sogar von Verträgen, die "angeblich" zu seiner Amtszeit abgeschlossen wurden, obwohl das Datum leicht zu überprüfen war. Diese Arroganz war typisch für den Mann mit dem großen Ego, der dann 2007 auf eine Vertragsverlängerung verzichtete, die wahrscheinlich sowieso nicht zustande gekommen wäre, und vorzeitig von seinem Amt zurücktrat (070606).

So blieben die Schadenersatzforderungen an nachgeordneten Managern wie Zimmer hängen. Wie in dem Bericht für die Hauptversammlung festgestellt wird, gingen diese alle davon aus, "die Russlandgeschäfte seien von der seinerzeitigen Konzernspitze und auch von den damaligem Aufsichtsorganen der vertragsschließenden EnBW-Konzerngesellschaften gewollt, da sie der Umsetzung der seit dem Jahr 2000 verfolgten Russlandstrategie dienen sollten". Ihr Pech war, dass sie im Umgang mit russischen Geschäftspartnern nicht genügend Vorsicht walten ließen und an ein Schlitzohr wie Bykov gerieten. Außerdem versäumten sie es, vor jeder Unterschrift die Verantwortung wieder nach oben zu verschieben, indem sie erst einmal die Zustimmung des Vorstands oder eines anderen Gremiums einholten. Im Erfolgsfall wäre ihnen das als unbürokratische, flexible, den landestypischen Verhältnissen in Russland angepasste Vorgehensweise nicht nur verziehen, sondern positiv angerechnet worden. Aber es ging schief.

 

 

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