Oktober 2016

161007

ENERGIE-CHRONIK


 


Die Vattenfall-Klage steht schon deshalb auf wackligen Beinen, weil das Atomgesetz die Reststrommengen für die beiden Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel keineswegs ersatzlos gestrichen hat, sondern ihre Übertragung auf andere Kernkraftwerke erlaubt. Wie diese Grafik erkennen läßt, verfügte E.ON bei Inkrafttreten der Neuregelung über genügend Spielraum, um die auf Krümmel und Brunsbüttel entfallenden 99.245 Gigawattstunden zu 88 Prozent abzuarbeiten. Davon sind 47.785 GWh ohnehin E.ON als Miteigentümer zuzurechnen. Lediglich der Rest von 51.460 GWh entfällt auf den Betreiber und Miteigentümer Vattenfall. Für die Abarbeitung der noch verbleibenden 1.214 GWh kämen die EnBW-Reaktoren in Betracht, deren mögliche Erzeugung die verfügbare Reststrommenge um 11.383 GWh übersteigt.

Schiedsgericht der Weltbank verhandelt über Vattenfall-Klage wegen Atomausstiegs

Vor dem Schiedsgericht der Weltbank in Washington (ICSID) begann am 10. Oktober eine zehntägige Anhörung zu der Klage, die der schwedische Vattenfall-Konzern im Mai 2012 eingereicht hat, weil durch die im Juni 2011 beschlossene Änderung des Atomgesetzes die sofortige Stillegung seiner Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel verfügt wurde (110601). Vattenfall will von der Bundesrepublik Deutschland mit exakt 4.675.903.975,32 Euro zuzüglich Zinsen entschädigt werden (141001). Die Entscheidung des Schiedsgerichts wird nicht vor Mitte 2017 erwartet.

Der schwedische Staatskonzern beruft sich auf den Vertrag über die Energie-Charta, der 1998 in Kraft trat und den sowohl Schweden als auch die Bundesrepublik ratifiziert haben (980405). In Artikel 13 läßt er Enteignungen oder ähnlich wirkende Maßnahmen nur gegen eine Entschädigung zu, die dem "angemessenen Marktwert der enteigneten Investition" entspricht. In Artikel 26 regelt er ferner das Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen einem Investor und einer Vertragspartei. Im vorliegenden Fall ist demnach das ICSID-Schiedsgericht bei der Weltbank zuständig, da sowohl Deutschland als auch Schweden das ICSID-Abkommen unterzeichnet haben.

Der Konzern hat eben erst seine 13 Braunkohle-Kraftwerksblöcke in Ostdeutschland gegen Aufgeld verschenkt (160401). Die beiden KKW, denen damals die Betriebserlaubnis entzogen wurde, dürften einen ähnlichen Marktwert gehabt haben. Unter Berücksichtigung der Entsorgungslasten wäre er sie wahrscheinlich auch ohne Entzug der Betriebserlaubnis nur gegen ein Milliarden-Aufgeld losgeworden. Von einer enteignungsähnlichen Maßnahme nach Artikel 13 der Energie-Charta kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil ihm neben dem Eigentum an beiden Anlagen die noch nicht abgearbeiteten Reststrommengen verblieben, die er an jeden anderen KKW-Betreiber in Deutschland verkaufen kann. Als Verwerter käme vor allem der langjährige Geschäftspartner E.ON in Betracht, der an Krümmel mit 50 Prozent und an Brunsbüttel mit 33,3 Prozent beteiligt ist (siehe Grafik und Hintergrund).

Internet-Übertragung sollte Harmlosigkeit solcher Schiedsgerichtsverfahren demonstrieren

Die vom 10. bis 21. Oktober angesetzte Anhörung der beiden Parteien konnte im Internet verfolgt werden. Damit wollte man "Transparenz" und die Harmlosigkeit derartiger Schiedsverfahren demonstrieren, die stark in die Kritik geraten sind, zumal sie auch in den geplanten Handelsabkommen der EU mit den USA (TTIP) und Kanada (CETA) vorgesehen sind. Die Übertragung erfolgte allerdings erst vier Stunden später, damit "vertrauliche oder sensible Informationen" herausgeschnitten werden konnten. Hinzu kam für Zuhörer in Mitteleuropa der Zeitunterschied von sechs Stunden.

Präsident des dreiköpfigen ICSID-Tribunals ist der Holländer Albert Jan van den Berg. Als von den Parteien benannte Schiedsrichter fungieren der Brite Vaughan Lowe (Bundesrepublik) und der US-Amerikaner Daniel M. Price (Vattenfall). Das Bundeswirtschaftsministerium läßt sich von einer Frankfurter Sozietät unterstützen. Die Rechtsbeistände von Vattenfall kommen aus Stockholm und Hamburg. Verhandlungssprache ist englisch.

Die Energie-Charta dient heute einem anderen Zweck als ursprünglich vorgesehen

Die Energie-Charta kam nach dem Ende der Sowjetunion zustande. Sie war ursprünglich dazu gedacht, die Investitionen westlicher Energiekonzerne in die russische Öl-, Gas- und Stromwirtschaft vor der überall im Lande herrschenden Rechtsunsicherheit zu schützen. Rußland hat das Abkommen jedoch nie ratifiziert, so daß es lange Zeit als Totgeburt galt. In den letzten Jahren häuften sich dann aber Schiedsgerichtsverfahren, die auf die Energie-Charta Bezug nahmen: Internationale Konzerne entdeckten dieses Abkommen als wirksames Instrument, um Staaten mit intakter Rechtsordnung zu verklagen und unter Druck zu setzen, wenn diese ihren Profiterwartungen in die Quere kommen. Zum Beispiel klagte der Vattenfall-Konzern schon 2009 vor dem Schiedsgericht in Washington gegen die Bundesrepublik, weil er beim Bau des Kraftwerks Moorburg in Hamburg einen Kühlturm errichten mußte, anstatt das Kraftwerk nur mit Flußwasser zu kühlen (siehe Hintergrund).

 

Links (intern)