Juli 2013 |
130702 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die seit 2009 andauernde Talfahrt der Strompreise am Spotmarkt erreichte im Juni mit 27,82 Euro pro Megawattstunde (base) einen weiteren Tiefpunkt. Sie bringt vor allem die Betreiber neuer Gaskraftwerke unter Druck, die ihre Anlagen zu Zeiten wesentlich höherer Börsenstrompreise geplant haben und deren Kalkulation nun nicht mehr aufgeht. Die Branche verweist deshalb gern auf die Notwendigkeit, konventionelle Kraftwerkskapazitäten zum Ausgleich des schwankenden Aufkommens an Wind- und Solarstrom vorhalten zu müssen. Zum großen Teil will sie mit ihrem Ruf nach subventionierten "Kapazitätsmärkten" aber nur den Abbau von überflüssig gewordenen konventionellen Kraftwerken verhindern. Ursache des Preisverfalls am Spotmarkt ist übrigens die "marktwirtschaftliche" Umgestaltung des EEG-Ausgleichsmechanismus, mit der die früher separat behandelten EEG-Strommengen an die Börse gelenkt wurden – zum Nachteil der Stromverbraucher, die im Unterschied zu den Stromvertrieben keinerlei Nutzen von den gesunkenen Spotmarktpreisen haben, sondern vielmehr durch einen wesentlichen Anstieg der EEG-Umlage belastet werden (120204). Es könnte durchaus sein, daß sie demnächst auch noch eine "marktwirtschaftliche Lösung" zur Subventionierung konventioneller Kraftwerkskapazitäten über ihre Stromrechnung finanzieren müssen... |
Die Betreiber konventioneller Kraftwerke rufen verstärkt nach einem "neuen Marktdesign", das zusätzlich zur EEG-Förderung auch ihre Anlagen alimentiert, soweit diese wegen des zunehmenden Angebots aus erneuerbaren Stromquellen nicht mehr im früheren Umfang ausgelastet werden können. Ein Vierteljahr vor den Bundestagswahlen machen sie bereits Druck auf die künftige Bundesregierung – die voraussichtlich wieder aus einer schwarz-gelben Koalition besteht –, indem sie mit der Stillegung zahlreicher Kraftwerke drohen. Sie verweisen dabei auf das stark schwankende Aufkommen an Wind- und Solarstrom, das eine weitere Vorhaltung konventioneller Kapazitäten zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage erforderlich macht. Im Grunde geht es ihnen aber nicht nur um die Abdeckung der "Residuallast", die nach Abzug der Einspeisung aus erneuerbaren Quellen verbleibt, sondern um eine möglichst umfassende Subventionierung des herkömmlichen Kraftwerksparks. Der Lärm um angedrohte oder tatsächlich vollzogene Stillegungen ändert auch nichts an der Tatsache, daß die konventionellen Kraftwerkskapazitäten im vergangenen Jahr sogar zugenommen haben.
Der EnBW-Konzern beantragte am 5. Juli bei der Bundesnetzagentur die Stillegung von zwei Steinkohle-Blöcken sowie je eines öl- und gasbefeuerten Kraftwerksblocks mit einer Gesamtleistung von 668 MW. "Insbesondere Gaskraftwerke, aber auch ältere Kohlekraftwerke und ölbefeuerte Anlagen können bei den heutigen Börsenpreisen für Strom ihre Vollkosten nicht mehr decken und damit nicht wirtschaftlich betrieben werden", hieß es zur Begründung. Ein ungenanntes EnBW-Aufsichtsratsmitglied ließ außerdem per "Wirtschaftswoche" wissen, daß an die Stillegung von weiteren sieben Anlagen gedacht sei, die mit Verlust arbeiten.
Große kommunale Versorger, die sich GuD-Kraftwerke oder gar Steinkohlekraftwerke zulegten, um teure Spitzen- und Mittellast aus eigener Produktion preisgünstiger abdecken zu können, empfinden diese inzwischen eher als Klotz am Bein. Der Grund dafür ist das starke Absinken der Preise am Spotmarkt seit 2009 (siehe Grafik). Die auf einem deutlich höheren Preisniveau basierenden Kalkulationen stimmen seitdem nicht mehr. Zum Sprecher dieser Fraktion der Energiewirtschaft machte sich am 10. Juli der Trianel-Geschäftsführer Sven Becker, indem er auf der Jahrespressekonferenz des Aachener Stadtwerke-Netzwerks "massive Marktverzerrungen" beklagte und die Forderung des Verbands Kommunaler Unternehmen (VKU) nach einer "marktwirtschaftlichen" Lösung des Problems unterstützte. Nach Beckers Angaben wird beispielsweise das von Trianel und 30 kommunalen Partnern in Lünen errichtete 750-MW-Steinkohlekraftwerk, das derzeit im Probetrieb läuft, im ersten kompletten Betriebsjahr 2014 einen Verlust von rund 100 Millionen Euro Verlust erwirtschaften, sofern auch der Kapitaldienst berücksichtigt wird.
Die norwegische Statkraft, die im Februar 2012 die Stillegung des GuD-Kraftwerks Emden ankündigte (120212), hat sich inzwischen von der Bundesnetzagentur auch die Stillegung ihres veralteten Gaskraftwerks in Landesbergen genehmigen lassen. Die Anlage wird zwar nicht abgerissen, könnte aber nur langfristig aus der "Kaltreserve" wieder ans Netz gebracht werden. Statkraft verfügt jetzt mit Knapsack I und Herdecke sowie der neuen Anlage Knapsack II, die im Juni den Betrieb aufnahm, nur noch über modene und hocheffiziente Gaskraftwerke.
Insgesamt ist die Anzahl der bisher bei der Bundesnetzagentur beantragten Stillegungen mit 15 Anlagen aber nicht dramatisch hoch. Sie widerspiegelt eher die Modernisierung des Kraftwerksparks, der im Oktober 2011, als die Bundesnetzagentur erstmals ihre Kraftwerksliste veröffentlichte, insgesamt 676 größere Kraftwerksblöcke (ab 20 MW) mit einer Kapazität von 112 Gigawatt (GW) umfaßte (111014).
Neuerdings berücksichtigt die Bundesnetzagentur in ihrer Kraftwerksliste auch Anlagen ab 10 MW. Mit Stand vom 22. Juli 2013 gab es demnach über 1.500 solcher Anlagen mit einer installierte Netto-Nennleistung von insgesamt 180,6 GW. Davon entfielen 103 GW auf nicht erneuerbare Energiequellen, also auf konventionelle Kraftwerke und Kernkraft. Im Vergleich mit den 98,77 GW, die bei der Auswertung Ende 2011 festgestellt wurden, sind das sogar gut vier Gigawatt mehr.
Im Zuge des "Monitoring", das sie gemäß § 35 des Energiewirtschaftsgesetzes durchzuführen hat, untersucht die Bundesnetzagentur auch den Zu- und Rückbau von Kraftwerken. Mit Stand vom 22. Juli befanden sich demnach bundesweit 10.991 MW im Bau, die voraussichtlich bis 2016 in Betrieb gehen. Nach Abzug der 9.988 MW, welche die Kraftwerksbetreiber bis 2018 stillegen wollen, ergibt sich ein Zuwachs um 1.003 MW. Allerdings nur bundesweit: In Süddeutschland geht die Kraftwerkskapazität um 5.613 MW zurück. Auf geplante Stillegungen konventioneller Kapazitäten südlich der Mainlinie wird die Regulierungsbehörde deshalb ein besonders wachsames Auge haben.
Der E.ON-Konzern kündigte zum Jahresbeginn an, die Stillegung von Kraftwerken in Europa zu überprüfen. Vor allem Gaskraftwerke seien sowohl von einer rezessionsbedingt gesunkenen Stromnachfrage getroffen als auch "durch den ungesteuerten Zuwachs Erneuerbarer Energien und den daraus folgenden Niedergang des europäischen Emissionshandels überwiegend nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben". Die weitere Vorhaltung solcher Kapazitäten zur Sicherung der Versorgung müsse deshalb "angemessen kompensiert" werden. Die Bundesnetzagentur und der Netzbetreiber Tennet bewilligten daraufhin E.ON und den kommunalen Miteigentümern des Gaskraftwerks Irsching eine Sonderregelung zur weiteren Bereithaltung der Blöcke 4 und 5 (130418), bevor mit dem Erlaß der "Reservekraftwerksverordnung" (130605) eine Stillegung solcher Anlagen grundsätzlich von der vorherigen Zustimmung der Behörde abhängig gemacht wurde.
Offizielle Angaben zum Ausmaß der geplanten Kapazitätskürzungen bei den beiden größten deutschen Energiekonzernen gibt es nicht. Bei E.ON soll bis 2015 in Deutschland der Abbau von 2500 MW vorgesehen sein. RWE will bis dahin angeblich sogar – im Vergleich mit 2011 und auch unter Berücksichtigung des Zubaues neuer Anlagen – eine Kapazität von 6000 MW vom Markt nehmen. Öffentlich unterstrich der RWE-Konzern in einer Pressemitteilung zu Anfang des Jahres lediglich, wie unverzichtbar sein konventioneller Kraftwerkspark sei: Mit einer Gesamtleistung von gut 30.000 MW habe er trotz sehr geringem Windaufkommen und kaum vorhandenem Sonnenschein "auch bei Schnee und Eis die Versorgung der Industrie und mehrerer Millionen Haushalte in Deutschland" gesichert. Zum Beispiel seien am 22. Januar 2013 in Deutschland 84.000 MW an Strom verbraucht worden, während Wind und Sonne nur 4.300 MW lieferten. In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 2012 habe dagegen die Windstromeinspeisung mit bis zu 19.300 MW um 40 Prozent über dem tatsächlichen Bedarf gelegen (siehe auch 130101). RWE habe daraufhin seine Steinkohlen- und Gaskraftwerke nur insoweit und lediglich mit Mindestleistung betrieben, als sie Prozeßwärme für die Industrie oder Regelenergie liefern mußten. Auch die Erzeugung der Braunkohle- und Kernkraftwerke habe man zugunsten der Windstromabnahme zeitweilig zurückgefahren.
In einer konzertierten Aktion trugen die Energiekonzerne die Forderung nach Alimentierung ihres Kraftwerkparks sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene vor. So verlangte im April der Branchenverband BDEW ein "neues Marktdesign, das konventionelle und erneuerbare Energien verbindet" (130406). Im Mai unterzeichnete die Chefs von E.ON und RWE gemeinsam mit sechs anderen Vorstandsvorsitzenden von europäischen Energiekonzernen einen Appell an die europäischen Staats- und Regierungschefs. Darin forderten sie unter anderem einen "auf europäischer Ebene koordinierten Ansatz für Kapazitätsmechanismen, die gewährleisten, daß alle zur Versorgungssicherheit der europäischen Kunden beitragenden Anlagen gerecht entlohnt werden" (130506).
Hinzu lancierten die Energiekonzerne, die ihre Erzeugungskosten sonst als Geheimnis behandeln, Medienberichte über ihre angebliche Bedürftigkeit. "Stromindustrie will Kraftwerke stillegen", titelte etwa die "Süddeutsche Zeitung" am 16. Juli, und tags darauf folgte die "Frankfurter Allgemeine" mit einem Artikel unter der Überschrift "Stromkonzerne schalten unrentable Kraftwerke ab". Die Umweltorganisation Greenpeace vermutete hinter solchen Artkeln die Absicht, beim Leser ein verzerrtes Bild der Energiewende und ihrer Folgen entstehen zu lassen: "Am bisherigen Boom der Erneuerbaren haben die großen Versorger nur einen sehr geringen Anteil. Entsprechend wird an ihrem Teil des Kuchens weggeschnitten, wenn nun Überkapazitäten entstehen. Dagegen richtet sich die neue Erzählung: Wer den Blackout verhindern will, muß die Versorger dafür alimentieren, ihre angeblich unrentablen Kraftwerke vorzuhalten. Also neue Subventionen für eine ohnehin hochsubventionierte Branche."
Nicht viel anders sah dies übrigens auch die "Süddeutsche Zeitung" (24.7.) in einem Kommentar, der eine Woche später erschien: "Das Ziel der Branche hinter der Drohung ist klar: Keiner der Konzerne möchte am Ende wirklich im großen Stil eigene Meiler vom Netz nehmen. Eine verunsicherte Politik soll stattdessen beim Umbau des Strommarktes einen neuen Fördermechanismus schaffen. Einen, der nicht nur wie bisher dem grünen Strom zugutekommt, sondern auch unrentable fossile Kraftwerke über Wasser hält."