September 2020

200908

ENERGIE-CHRONIK


Bundestag will Nord Stream 2 trotz Mordanschlag nicht stoppen

Ein Mordanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, den staatliche Organe anscheinend mit Duldung oder sogar auf Anweisung des Kremlchefs Putin verübten, hat der Auseinandersetzung um die Fertigstellung der Ostsee-Gasleitung Nord Stream 2 eine neue Wendung gegeben. Sowohl aus den Regierungsparteien als auch aus der Opposition kam die Forderung nach einem sofortigen Stopp des Projekts, dessen Vollendung bereits die USA aus anderen Motiven und mit erpresserischen Methoden zu verhindern versuchen (200801). "Die einzige Sprache, die Putin versteht, ist eine der Härte", erklärte der CDU-Politiker Norbert Röttgen, der dem Auswärtigen Ausschuss des Bundestags vorsitzt. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel gab ihre übliche Zurückhaltung auf und sprach von einem "versuchten Giftmord", für den die russische Regierung Aufklärung schulde. Zugleich plädierte sie aber auch dafür, das umstrittene Pipeline-Projekt vom Fall Nawalny zu trennen. Als die Grünen am 18. September im Bundestag den Antrag stellten, dass die Bundesregierung sich "umgehend von der Pipeline Nord Stream 2 distanziert und die Fertigstellung über geeignete Maßnahmen verhindert", wollte keine andere Fraktion diese kategorische Forderung unterstützen.

Nawalny wurde mit einem Nervenkampfstoff vergiftet, über den nur staatliche Stellen verfügen

Der 44-jährige Kreml-Kritiker Nawalny war am 20. August auf einem Flug in Sibirien plötzlich ohnmächtig geworden und ins Koma gefallen. Das Gift wurde ihm anscheinend über eine Tasse Tee zugeführt, die er zuvor getrunken hatte. Nach seiner Einlieferung in ein Krankenhaus gingen auch die russischen Ärzte zunächst von einer Vergiftung aus. Sie konnten oder durften diese aber nicht nachweisen. Auf Drängen der Familie und der internationalen Öffentlichkeit wurde Nawalny am 22. August mit Erlaubnis der Moskauer Regierung zur Behandlung in der Berliner Charité nach Deutschland ausgeflogen. Wie die Bundesregierung am 2. September mitteilte, konnte hier mit Hilfe eines Speziallabors der Bundeswehr der zweifelsfreie Nachweis erbracht werden, dass der Kreml-Kritiker mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet wurde, über den nur staatlichen Stellen verfügen. Dies löste dann die zahlreichen Forderungen nach einem Stopp des Pipeline-Projekts aus, um ein Zeichen gegen die Willkür und den Zynismus des Putin-Regimes zu setzen. Die Machthaber in Moskau sahen sich nämlich nicht einmal veranlasst, formale Ermittlungen wegen des Verbrechens einzuleiten. Stattdessen erweckten ihre gelenkten Medien den Anschein, als ob der Oppositionspolitiker unter Unterzuckerung oder einer Art Magenverstimmung gelitten hätte, was das Ausland zum Vorwand für eine weitere anti-russische Kampagne genommen habe. Nawalny ist seit 7. September wieder bei Bewußtsein und befindet sich seitdem auf dem Weg der Besserung. Er hat bereits wissen lassen, dass er nach erfolgter Genesung trotz der ihm drohenden Gefahren wieder nach Russland zurückkehren wolle.

Parlament überwies Antrag der Grünen mitsamt Gegenantrag der AfD an Wirtschaftsausschuss

In der Bundestagssitzung am 18. September lagen dem Parlament gleich zwei Anträge zu Nord Stream 2 vor: Der eine kam von den Grünen und bestand lediglich aus dem bereits zitierten Satz. Mit dem anderen forderte die rechtsextremistische AfD genau das Gegenteil: Die Bundesregierung möge sich unmissverständlich zur Realisierung von Nord Stream 2 bekennen sowie die zügige Fertigstellung des Projekts mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene unterstützen. In beiden Fällen kam es aber nicht zur Abstimmung in der Sache, weil die Koalitionsparteien die Überweisung der Anträge an den Wirtschaftsausschuss durchsetzten. Zuerst wurde mit dem Antrag der Grünen so verfahren, wobei außer diesen auch die AfD nicht zustimmte. Anschließend wurde der Antrag der AfD mit den Stimmen aller anderen Fraktionen dem Ausschuss überwiesen.

Grüne erinnern an Widerstand der meisten EU-Staaten gegen Nord Stream 2

In der knapp einstündigen Debatte über diesen Tagesordnungspunkt verurteilten Sprecher aller Fraktionen außer der AfD den Mordanschlag auf Nawalny. Einen zwingenden Grund, die Vollendung der Pipeline zu stoppen, sah aber nur die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock. Sie verwies dabei auf den Widerstand der meisten EU-Staaten gegen dieses Projekt, den die Bundeskanzlerin nur mit Hilfe Frankreichs habe überwinden können: "26 von 27 Mitgliedsstaaten wollten diese Gaspipeline nicht. Die Kanzlerin höchstpersönlich musste auf Herrn Macron zugehen, damit im Winter 2019 keine Entscheidung auf europäischer Ebene getroffen wurde, sondern eine Sonderentscheidung, dass Nord Stream 2 rein national reguliert wird" (siehe 190201 und Hintergrund, Februar 2019).

Union spricht von Schaufenster-Antrag

Für die SPD unterstrich demgegenüber die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, die energiewirtschaftliche Bedeutung der Pipeline, die bereits zu 97 Prozent fertiggestellt und "mehrfach durch ein rechtsstaatliches Genehmigungsverfahren gegangen" sei. Den CDU-Abgeordneten Jens Koeppen störte bereits die lapidare Kürze des Grünen-Antrags, dem jede weitere Begründung fehlte. Der CSU-Abgeordnete Andreas Lenz sprach von einem "Schaufenster-Antrag", mit dem die Grünen "einen außenpolitischen Anlass für ihre innenpolitische Agenda nutzen" wollten. Der FDP-Sprecher Michael Theurer kritisierte, dass die Bundesregierung die "Einbettung dieses Projekts in die Europäische Union" versäumt habe. Dennoch sei seine Partei der festen Überzeugung, dass Nord Stream 2 einer Diversifizierung der Gasquellen diene, zu der auch Flüssiggas und LNG-Terminals gehörten.

Linke werfen Grünen vor, sie wollten "faktisch eins zu eins die US-Sanktionen durchsetzen"

Für die Linke konzedierte Dietmar Bartsch, dass Russland sich fraglos "vielfach in einem miserablen Zustand" befinde, was Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Sicherheit von Oppositionellen angehe. Aber das sei im Iran, in der Türkei oder Saudi-Arabien nicht anders. Die Grünen wollten mit ihrem Antrag "faktisch eins zu eins die US-Sanktionen durchsetzen". Anstatt "immer eine Sonderstellung gegenüber Russland" einzunehmen, sollten sie besser die "unverschämten US-Drohungen und freche Einmischung der USA in deutsche Angelegenheiten" zurückweisen.

Scholz bot US-Regierung bis zu einer Milliarde Euro für Ausbau von LNG-Terminals

Wie die Wochenzeitung "Die Zeit" (16.9.) berichtete, hat Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) seinem US-Amtskollegen Steven Mnuchin angeboten, den Ausbau der Häfen Brunsbüttel und Wilhelmshaven für Importe von US-Flüssiggas (LNG) mit bis zu einer Milliarde Euro zu unterstützen, wenn die US-Regierung auf ihren Widerstand gegen Nord Stream 2 verzichte. Den Vorschlag habe er Mnuchin zunächst mündlich und mit Datum vom 7. August auch schriftlich unterbreitet. "Im Gegenzug werden die USA die ungehinderte Fertigstellung und den Betrieb von Nord Stream 2 erlauben", habe es darin geheißen. "Die existierenden rechtlichen Möglichkeiten für Sanktionen werden nicht ausgeschöpft."

Völkerrecht ist stark auslegungsfähig

Die extraterritorialen Sanktionen, mit denen die USA allen Unterstützern des Projekts Nord Stream 2 drohen, sind kein eindeutiger Verstoß gegen das Völkerrecht. Sie bewegen sich eher in einem Bereich, der je nach Sichtweise der Parteien stark auslegungsfähig ist. Zu diesem enttäuschenden Schluss gelangt ein Gutachten, das der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags im Auftrag der Linken-Außenpolitikerin Sevim Dagdelen angefertigt hat. Ähnliches gelte für den 1954 geschlossenen Freundschaftsvertrag zwischen der Bundesrepublik und den USA oder die Bestimmungen der Welthandelsorganisation WTO. Auch da könnten sich die USA auf irgendwelche Ausnahmeklauseln zum Schutz nationaler Sicherheitsinteressen berufen. Ohnehin gebe es kaum eine Möglichkeit, etwaige Verstöße auf internationaler Ebene geltend zu machen, weil dafür stets eine Mitwirkung der USA bzw. von US-Gerichten erforderlich sei (siehe PDF).

 

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