Juli 2024

240701

ENERGIE-CHRONIK




Seit 2022 häuften sich die Beschwerden über den Online-Energieanbieter "stadtenergie". Die hier gezeigten Klagen, die das Internet-Beschwerdeportal "Trustpilot" veröffentlichte, sind nur eine kleine Auswahl aus den neueren Einträgen. Die Kunden empörten sich besonders über die Dreistigkeit, mit der die DEW21-Tochter  ihre berechtigte Kritik einfach ignorierte. Viele konnten sich das nur so erklären, dass sie zum Opfer einer "Abzocke" durch "Betrüger" und "Kriminelle" geworden seien – womit sie gar nicht so falsch lagen, wie sich jetzt herausstellte.

Online-Energievertrieb der Stadtwerke Dortmund betrog systematisch die Kunden

Der Aufsichtsrat der Dortmunder Stadtwerke AG (DSW21) hat am 10. Juli die Vorstandsvorsitzende Heike Heim mit sofortiger Wirkung fristlos entlassen. Sie wird für einen Schaden in dreistelliger Millionenhöhe verantwortlich gemacht. Zum einen wirft man ihr vor, auf dem Höhepunkt des Gaspreisanstiegs vor zwei Jahren überteuerte Lieferverträge mit einer Laufzeit von drei Jahren abgeschlossen zu haben, die nach Schätzungen von Wirtschaftsprüfern die Stadtwerke inzwischen mit bis zu hundert Millionen Euro belasten. Zum anderen werden ihr betrügerische Geschäftspraktiken der Stadtwerke-Tochter "stadtenergie" angelastet. Wie sich vor kurzem herausstellte, hatte dieser Online-Energievertrieb die Verbrauchsdaten seiner bundesweit rund 40.000 Kunden systematisch gefälscht, um mit manipulierten Einnahmen sein Defizit in Höhe von etwa 22 Millionen Euro auszugleichen.

Heike Heim bestreitet, von den Betrügereien der "Stadtenergie GmbH" gewusst zu haben, die auf ihr Betreiben als Tochter der Dortmunder Energie- und Wasserversorgung GmbH (DEW21) gegründet worden war. Sie muss sich aber zumindest vorhalten lassen, dass sie als Chefin der DEW21 und ab Juni 2023 als Vorstandsvorsitzende der Konzernholding DSW21 für die geschäftsmäßige Beaufsichtigung des Online-Vertriebs zuständig war und längst hätte eingreifen müssen. Denn es war überhaupt kein Geheimnis, dass die "stadtenergie" ihre Kunden über den Tisch zog und in arroganter Weise abwimmelte, wenn diese sich beschwerten. Für diese Erkenntnis reichte schon ein Blick auf die zahllosen Kunden-Klagen im Internet.

Staatsanwaltschaft ermittelt – Neukundengeschäft bis auf weiteres gestoppt

Auf Nachfrage von Medien hatte DEW21 im Mai bestätigt, dass es bei der Tochter Stadtenergie GmbH seit 2022 "zu Unregelmäßigkeiten bei einzelnen Kundenabrechnungen" gekommen sei, die man erst im Rahmen des Jahresabschlusses 2023 entdeckt habe. Anschließend machte das Unternehmen die Affäre auch auf seiner Internet-Seite publik und kündigte eine "umfassende Aufklärung" an. Nach einer Untersuchung der Kundenabrechnungen durch Wirtschaftsprüfer und Datenanalysten wurde zudem die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, weil sich "die Anhaltspunkte für Rechtsverstöße weiter erhärteten". Die Staatsanwaltschaft wurde seitdem regelmäßig über den Stand der internen Untersuchung informiert. Ende Juli hat sie dann aufgrund einer Strafanzeige der Stadtwerke wegen Betrugs auch ein förmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bei einem leitenden Angestellten des Energievertriebs, der schon zu Beginn der Affäre "freigestellt" worden war, wurden Haus und Auto nach belastendem Datenmaterial durchsucht. Das Neukundengeschäft der "stadtenergie" ist bis auf weiteres gestoppt. Den Bestandskunden wurde versichert, dass sie die zu Unrecht abgebuchten Beträge zurückbekommen.

Das Loch von 46 Millionen Euro wird zum Teil mit Erlösen aus dem Verkauf der STEAG gestopft

Wie die Konzernholding DSW21 am 22. Juli mitteilte, hat der Aufsichtsrat den bisherigen Finanzvorstand Jörg Jacoby zum Nachfolger von Heike Heim bestimmt. Ferner verändere sich das Ergebnis im Jahresabschlusss für 2023 von 91,1 auf 75,1 Millionen Euro. Ursache sei der insgesamt rund 46 Millionen Euro umfassende Schaden, der sich für die Konzernmutter aus den im April festgestellten "Unregelmäßigkeiten" bei der "stadtenergie" ergebe. Die DSW21 müsse aus diesem Grund auf die eingeplante Ergebnisabführung von DEW21 in Höhe von 30,0 Millionen Euro verzichten und zudem für DEW21 die Garantie-Dividende an die "Westenergie" (11,7 Millionen Euro) übernehmen. (Diese E.ON-Tochter ist als Nachfolgerin von Innogy bzw. RWE mit 39,9 Prozent an DEW21 beteiligt.) Der Verlust von insgesamt 46 Milliionen Euro werde "zum Teil durch ein Vorziehen von 30,0 Millionen Euro aus dem STEAG-Verkaufserlös in die Bilanz 2023 kompensiert". (Die DSW21 und ihre Tochter DEW21 waren mit jeweils 18 Prozent der größte Gesellschafter des Energiekonzerns STEAG, der im August 2023 für 2,6 Milliarden Euro an einen spanischen Investor verkauft wurde (230806).)

Heim hatte schon als EVO-Vorstandsvorsitzende einen Online-Vertrieb gegründet

Die studierte Wirtschaftsingenieurin Heim hatte zunächst beim Mannheimer Kommunalkonzern MVV Karriere gemacht, wo sie 2011 als Bereichsleiterin für Controlling und Risikomanagement anfing und 2013 zur Vorstandsvorsitzenden der MVV-Tochter Energieversorgung Offenbach AG (EVO) aufrückte. Kurz vor ihrem 2017 erfolgten Wechsel von Offenbach nach Dortmund hatte sie schon dem Energievertrieb der EVO eine Online-Vertriebsmarke namens "evon" hinzugefügt. Diese Gründung bestand aber nur von April 2017 bis Dezember 2019 und blieb so unbedeutend, dass sie nicht einmal in den Geschäftsberichten der EVO erwähnt wurde. Sie passte wohl auch nicht zur Strategie des MVV-Konzerns, der drei Jahre zuvor seinen bundesweiten Online-Vertrieb Secura Energie verkauft hatte, an dem auch die EVO partizipierte und deshalb aus dem Erlös des Verkaufs eine Abfindung von 250.000 Euro erhielt (140410).

Dortmunder Neugründung wurde im September 2020 als "digitales Schnellboot" vorgestellt

Die "stadtenergie GmbH" war von vornherein größer und ambitionierter angelegt als die bloße Online-Vertriebsmarke "evon". Konzipiert und aufgebaut wurde sie von Heike Heim zusammen mit Dominik Gertenbach, dem vormaligen Vertriebsleiter der EVO, der mit ihr von Offenbach nach Dortmund wechselte. Gertenbach fungierte als Geschäftsführer der "stadtenergie" und übernahm zugleich die Leitung des Vertriebs bei DEW21.

In einer Pressemitteilung vom 22. September 2020 wurde das neue Online-Unternehmen als "digitales Schnellboot für den Energievertrieb" vorgestellt, das "unabhängig vom DEW21-Energievertrieb agieren, neue Erfahrungen im digitalen Vertrieb sammeln und entsprechende Geschäftsmodelle entwickeln" werde. Langfristig sollten diese gesammelten Erfahrungen dann auf die Mutter DEW21 übertragen werden, "um die Digitalisierung im klassischen Vertriebsgeschäft zu stärken und die digitale Business-Transformation voranzutreiben".

Tochter "mit Start-up-Charakter" sollte zum Vorbild für die Mutter werden

Man habe sich bei diesem Unternehmen "bewusst an branchenfremden Akteuren wie Netflix oder auch neueren Playern wie Peleton orientiert, die in Sachen Kundenorientierung neue Maßstäbe setzen", tönte Gertenbach. Um alle Anforderungen an ein modernes und ganzheitliches Kundenerlebnis zu erfüllen, habe man "eine hochmoderne Marketing-, IT- und Vertriebsprozessstruktur aufgebaut". Ferner habe man "ein neues Team rekrutiert, das größtenteils nicht aus unserer Branche kommt". Dadurch ließen sich "Fähigkeiten aufbauen, die wir bei DEW21 zukünftig auch benötigen". Zum modischen Schnickschnack gehörte, dass die größtenteils branchenfremden Mitarbeiter, die man angeworben hatte, bei Messen und anderen öffentlichen Auftritten weiße Sneakers mit dem Logo von "stadtenergie" trugen. Damit sollte das Image eines "Unternehmens mit Start-up-Charakter" unterstrichen werden, von dem Geschäftsführer Gertenbach ebenfalls gern redete.

Eine gleichnamige Vorgängerin gab es schon von 2011 bis 2016

So neu war das Projekt allerdings gar nicht, wie es die PR-Phrasen erscheinen ließen. Sogar der Name "stadtenergie GmbH" war – mit einer kleinen Variation der Schreibweise – von der Vorgängerin "StadtEnergie GmbH" übernommen worden, mit der DEW21 schon ab 2011 auf bundesweiten Online-Kundenfang ging. Das Ergebnis war allerdings so unbefriedigend gewesen, dass man die Geschäftstätigkeit 2016 wieder einstellte und die Firma aus dem Handelsregister löschte. Diese früh verstorbene Vorgängerin wurde nun geflissentlich erst gar nicht erwähnt.

Neu war auch nicht die Augenwischerei mit "100 Prozent Ökostrom und Gas", die Kunden zu der holden Illusion verhelfen sollte, sie würden tatsächlich mit einer besonders umweltfreundlichen Sorte von Strom oder Gas beliefert. Es handelte sich um die üblichen Zertifikate, die mit Brief und Siegel bescheinigen, dass es im näheren oder weiteren Umkreis Europas tatsächlich irgendwo Wasserkraftwerke oder andere erneuerbare Stromquellen gibt, die eine entsprechende Energiemenge umweltfreundlich erzeugen können (siehe Hintergrund, Dezember 2013). Ähnlich funktioniert die Augenwischerei mit "Öko-Gas" (240406). Die Zertifikate sind dabei so billig, dass kaum noch ein Anbieter darauf verzichten will und der Markt geradezu von "Ökostrom" überschwemmt wird.

Wegen der Strom- und Gaspreiskrise gab es vorerst keine Chancen, aus den roten Zahlen zu kommen

Das "digitale Schnellboot", das Heike Heim und Dominik Gertenbach gemeinsam zu Wasser ließen, war also wirklich nichts neues und wurde auch durch ihre flotten Sprüche nicht schneller. Es war vielmehr der übliche Ökostrom-Kahn, mit dem schon viele Stadtwerke versucht haben, sich auf die Hohe See des bundesweiten Online-Strommarktes zu begeben und dort nach Kunden zu fischen (zumal sie ohnehin das lokale Stammgeschäft digitalisieren mussten). Für größere Stadtwerke konnte das sinnvoll und sogar einträglich sein, wenn sie über genügend wirtschaftlichen und technischen Sachverstand verfügten. Skepsis war dagegen angebracht, wenn ein Tausendsassa wie Gertenbach den digitalen Stromvertrieb zu revolutionieren versprach, indem er sich "bewusst an branchenfremden Akteuren wie Netflix oder auch neueren Playern wie Peleton" orientierte. Ein Beispiel für böses Scheitern sind die Stadtwerke Pforzheim, die vor ein paar Jahren auf ihrer Online-Vertriebsmarke "GletscherEnergie" ausrutschten, weil sie die Begrenztheit des Kundenfangs auf diesem Gebiet mit viel Geld für Drückermethoden zu überwinden versuchten (Hintergrund, Januar 2019).

Jetzt gehören auch die Stadtwerke Dortmund mit der "stadtenergie" zu diesen Gescheiterten., wobei es nicht nur um Drückermethoden geht, sondern um eindeutigen Betrug. Das vermeintliche digitale Schnellboot sank sogar noch schneller als der gleichnamige Ökostrom-Kahn, der sein Vorgänger war. Ein ebenso wichtiger wie unvorhersehbarer Grund für diesen schnellen Schiffbruch war natürlich die Gas- und Strompreiskrise, die sich schon im Jahr nach der Gründung abzeichnete und im Sommer vor zwei Jahren ihren Höhepunkt erreichte. In dieser prekären Situation war mit Online-Energievertrieben sowieso kein Geld mehr zu machen. Bei den DEW21 kam aber noch hinzu, dass Heike Heim 2022 einen völlig überteuerten Liefervertrag für Gas gleich auf drei Jahre abgeschlossen hatte. Unter diesen Umständen war ein großes Defizit des Online-Energievertriebs programmiert. Man konnte nur noch versuchen, den Schaden zu begrenzen.

Haben sich die Betrüger vom Börsen-Monopoly inspirieren lassen?

Mit etwas krimineller Energie konnte man in dieser Situation aber auch auf die Idee kommen, einfach die Konten der Stromkunden anzuzapfen, über die man verfügte. Schließlich war das ganze bisherige Preisgefüge sowieso zusammengebrochen. Als die Bundesregierung die unglückliche Idee mit der "Gasumlage" (220804) kurzfristig fallen ließ und stattdessen eine "Strompreisbremse" bzw. eine "Gaspreisbremse" ankündigte (220904), war nur klar, dass der Staat ab einer bestimmten untragbaren Belastung die überschießenden Beträge der Strom- und Gasrechnungen ab Jahresanfang 2023 übernehmen würde (221101). Zugleich bewirkte ein außer Rand und Band geratener Börsenmechanismus, an den niemand zu rühren wagte, die Verschiebung von Milliarden Euro aus den Taschen der Stromverbraucher in die Taschen großer Stromerzeuger (Hintergrund, Januar 2023). Daran änderte auch die ab 1. Dezember 2022 eingeführte Abschöpfung von Zufallsgewinnen kaum etwas (230804). Die Leichtigkeit, mit der bei diesem Börsen-Monopoly die Milliarden hin und her bewegt wurden, könnte auch den oder die Übeltäter bei der "stadtenergie" inspiriert haben, einfach mal kurz das Geld von den Kundenkonten in die eigene Tasche zu leiten. Über das notwendige Instrumentarium verfügte man ja, und im Vergleich mit den Windfall-Profits der Energiekonzerne handelte es sich beim zweistelligen Millionen-Defizit der "stadtenergie" nur um Peanuts. Wie es aussieht, hat man sich aber nicht damit begnügt, überhöhte Abschlagszahlungen zu kassieren, die man später als technischen Fehler entschuldigen und wieder hätte korrigieren können. Vielmehr kam der Betrug durch systematische Fälschungen der Verbrauchsangaben zustande. Und das sind zumindest strafrechtlich keine Peanuts mehr.

Der Kapitän verließ schon im vorigen Jahr das sinkende Schiff

Der "stadtenergie"-Geschäftsführer und DEW21-Vertriebsleiter Gertenbach scheint schon im vorigen Jahr zu der Einsicht gelangt zu sein, dass der Kahn hoffnungslos am Sinken war. Jedenfalls gab er seine beiden einträglichen Posten in Dortmund auf, um ab September 2023 beim Kommunalkonzern EWE in Oldenburg für den Vertrieb und das Energie-Geschäftskundensegment zuständig zu werden. Den neuen Posten behielt er aber nicht lange: Anfang Juli bestätigte die EWE auf Nachfrage, dass Gertenbach das Unternehmen "auf eigenen Wunsch" wieder verlassen werde...

Heike Heim wurde zur "Energiemanagerin des Jahres 2021" gekürt

Zu erwähnen wäre noch, dass Heike Heim vor drei Jahren zur "Energiemanagerin des Jahres 2021" gekürt wurde. Diese Auszeichnung wird seit 2001 von der Zeitung "Energie und Management" in Zusammenarbeit mit anderen Partnern verliehen. Salopp gesagt handelt es sich um eine PR-Veranstaltung zur Selbstbestätigung und Selbstbeweihräucherung der Branche, wobei der Schwerpunkt auf der Kommunalwirtschaft liegt. Der schmückende Titel wird in der Regel an gut positionierte und als erfolgreich geltende Personen verliehen, verhindert aber nicht, dass der Erhebung aufs Podest mitunter ein ziemlicher Absturz folgt. Das fing schon mit dem ersten Preisträger Roland Hartung an, dessen Arbeit als Chef des MVV-Konzerns wesentlich kritischer gesehen wurde, nachdem sich sein Nachfolger ans Aufräumen gemacht hatte (040709).

Links (intern)