Mai 2018 |
180506 |
ENERGIE-CHRONIK |
Im Testfeld "alpha ventus", das vor acht Jahren als erster Windpark vor der deutschen Küste den Betrieb aufnahm (100413), fielen am 6. April große Teile des Gondel-Gehäuses einer Windkraftanlage vom Typ AV 07 (ehemals Multibrid) ins Meer. Die übrigen fünf Windkraftanlagen desselben Typs wurden daraufhin vorsichtshalber abgeschaltet und für Wartungsarbeiten gesperrt. Ähnliche Vorsichtsmaßnahmen gab es bei insgesamt 120 baugleichen Anlagen in den Windparks Global Tech 1 (140905) und Trianel Borkum (150910). Bis Ende Mai konnte nur ein Teil der Anlagen wieder für den regulären Betrieb freigegeben werden.
"Alpha ventus" gehört einem Konsortium aus den Energiekonzernen EWE, E.ON und Vattenfall. Die Betriebsführung liegt bei der EWE, welche die insgesamt zwölf Windkraftanlagen von ihrer Oldenburger Zentrale aus überwacht und steuert. Wie sie am 14. Mai mitteilte, wurden die aus dem Meer gefischten Trümmer des Gondel-Gehäuses zum Hersteller Adwen in Bremerhaven gebracht, um die genaue Schadensursache zu ermitteln. Klar sei bislang lediglich, dass die Haltebolzen des Gondelträgers gebrochen oder gerissen sind. Man wisse aber noch nicht, warum dies geschah.
Schon vor acht Jahren – kurz nach der offiziellen Eröffnung des Testwindparks – waren bei zwei der sechs Multibrid-Anlagen Schäden aufgetreten, deren Reparatur es erforderlich machte, die Gondeln samt Rotor wieder abzumontieren. Nach Angaben des Herstellers lag dies am Lieferanten, der für die Gleitlager des Getriebes ein anderes Material verwendet hatte als beim Prototyp. Die Aluminium-Zink-Legierung des Lagers habe sich deshalb durch Erwärmung stärker ausgedehnt als zulässig ist, was einen erhöhten Verschleiß der Gleitlager bewirkt habe. Die Konstruktion habe sich jedoch grundsätzlich bewährt (100614).
Das Testfeld "alpha ventus" entstand aus dem Projekt "Borkum West", das im November 2001 vom Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie als erster Offshore-Windpark genehmigt wurde (011119). Der Projektentwickler Prokon Nord Energiesysteme GmbH verkaufte die Nutzungsrechte im September 2005 an die "Stiftung Offshore-Windenergie", die zuvor von Verbänden und Unternehmen der Windbranche mit Unterstützung des Bundesumweltministeriums gegründet worden war. Bei einem "Energiegipfel" im Bundeskanzleramt wurde am 3. April 2006 die Errichtung eines Testfelds durch die Stromkonzerne E.ON, EWE und Vattenfall vereinbart. Die Stiftung schloß daraufhin einen entsprechenden Pachtvertrag mit der Deutschen Offshore-Testfeld und Infrastruktur GmbH & Co. KG (DOTI), die von den drei Energiekonzernen getragen wird und die Realisierung des Windparks übernahm. Die Bundesregierung unterstützte das Projekt mit 50 Millionen Euro. Die Gesamtkosten wurden mit etwa 175 Millionen Euro beziffert (070910).
Von den in Deutschland ansässigen Windkraftanlagenbauern boten nur Multibrid und Repower eine Technik an, die den außergewöhnlichen Belastungen auf hoher See gewachsen war. Getestet wurden deshalb jeweils sechs dieser Anlagen. Beide Typen verfügten über dieselbe Nennleistung von 5 Megawatt. Sie unterschieden sich aber technisch und bei der Art der Verankerung auf dem Meeresboden (091111).
Der Hersteller Multibrid, der die Hälfte der Anlagen für "alpha ventus" lieferte, gehörte der Prokon Nord, die das ursprüngliche Projekt "Borkum West" entwickelt und verkauft hatte. Schon vor der Fertigstellung des Testfelds konnte Prokon Nord auch die Firma Multibrid mehrheitlich dem französischen Atomkonzern Areva verkaufen, der sich auf diese Weise ein neues Standbein und Image auf dem Gebiet der Erneuerbaren zuzulegen versuchte (070910). Nach dem Erwerb der restlichen Anteile wurde das Unternehmen in "Areva Wind" umbenannt (100614). Fünf Jahre später gründete Areva mit dem spanischen WKA-Hersteller Gamesa, der bis dahin nicht im Offshore-Geschäft tätig war, das Gemeinschaftsunternehmen "Adwen" (150314). Unter dieser Bezeichnung wurde die einstige Multibrid Ende 2016 mitsamt der Gamesa vom Siemens-Konzern übernommen (160909).
Die Prokon Nord firmierte seit Ende 2010 als N.prior energy GmbH. Unter diesem neuen Namen hat sie zwei Jahre später Insolvenz angemeldet. Sie darf nicht mit der Prokon Regenerative Energien GmbH verwechselt werden, die sich im März 1997 von ihr abgespalten hat und im Januar 2014 Insolvenz beantragte (140107).
Die Repower AG, die den anderen Teil des Testfelds mit sechs Anlagen bestückte, hatte damals nach Enercon und Vestas den drittgrößten Marktanteil bei Windkraftanlagen in Deutschland (050109). Auch sie wechselte schon vor Fertigstellung des Testfelds den Eigentümer. Seit 2007 gehörte sie mehrheitlich dem indischen Windkraftanlagenbauer Suzlon, der sich beim Bieterwettbewerb mit dem französischen Atomkonzern Areva auf die gemeinsame Führung des Unternehmens geeinigt hatte (070510). Nachdem die Franzosen ersatzweise Multibrid übernommen hatten, konnte Suzlon im Juni 2008 auch deren Beteiligung erwerben. Wegen älterer Namensrechte der schweizerischen Rätia Energie AG, die seit Mai 2010 ebenfalls unter Repower firmierte, wurde das Unternehmen in "Senvion" umbenannt (110913). Anfang 2015 verkaufte die in Finanznöte geratene Suzlon das Unternehmen an eine US-amerikanische Finanzgruppe, die es wieder an die Börse brachte, um die Aktien zum Höchstpreis loszuschlagen (150108). Das klappte freilich nicht so, wie erwartet worden war (160320). Hinzu kam ein allgemeiner Auftragsrückgang (170805), weshalb Senvion im August 2017 die Schließung von drei Standorten in Deutschland ankündigte (170808). Am 23. Mai teilte Senvion mit, dass der bisherige Vorstandsvorsitzende Jürgen Geißinger seinen Rücktritt erklärt hat.