Juni 2016

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK



Die August-Thyssen-Werke bei Duisburg verfügten auch über eine der größten Kokereien Deutschlands (im Vordergrund rechts). Die Kokerei wurde 1897 in unmittelbarer Nähe einer Schachtanlage und einer Stahlhütte gebaut. Sie entgaste die Steinkohle, damit diese als Brennstoff für die Hochöfen (im Hintergrund) verwendet werden konnte. Mit dem dabei anfallenden Gas belieferte Thyssen ab 1905 umliegende Gemeinden.

Vom Kokereigas-Lieferanten zum regulierten Netzbetreiber

Die wechselvolle Geschichte der Thyssengas, die jetzt an zwei ausländische Kapitalanleger verkauft wurde

(zu 160611)

Auf ihrer Internet-Seite macht die Thyssengas GmbH nur sehr spärliche Angaben zur Firmengeschichte und läßt sie mit der Gründung der "Gasgesellschaft mbH" im Jahr 1921 beginnen. Die Wurzeln reichen aber erheblich tiefer: Bis ins wilhelminische Kaiserreich, als der Ruhr-Industrielle August Thyssen das Kokereigas, das in seinen Montanunternehmen reichlich anfiel, im näheren Umkreis zu vermarkten begann. Schon ab 1905 wurden Walsum, Hamborn, Duisburg, Mülheim und Oberhausen mit Kokereigas aus Thyssen-Zechen versorgt. 1910 errichtete Thyssen die bis dahin größte Ferngasleitung Deutschlands, die über 52 Kilometer von Duisburg-Hamborn nach Wuppertal-Barmen führte. Bis zum ersten Weltkrieg dehnte sich das Versorgungsgebiet am Niederrhein bis nach Bocholt und südlich bis zum Bergischen Land aus.

August Thyssen gehört auch zur Geschichte des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks (RWE)


August Thyssen übernahm 1902 zusammen mit Hugo Stinnes die Kapitalmehrheit am neu gegründeten RWE. Wie Stinnes hätte er als Musterexemplar für Max Webers "Protestantische Ethik" herhalten können, war aber Katholik.

Im Jahr 1902 übernahm August Thyssen zusammen mit Hugo Stinnes die Kapitalmehrheit am "Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks" (RWE), das vier Jahre zuvor gegründet worden war, um die Stadt Essen mit Strom zu versorgen. Damit begann der Aufstieg dieses Stromversorgers, dessen ursprüngliche Muttergesellschaft Lahmeyer in Liquiditätsschwierigkeiten geraten war. Stinnes war von Anfang an mit dem RWE verbandelt gewesen: Dessen Kraftzentrale befand sich auf dem Gelände einer Stinnes-Zeche. Die dort geförderte Kohle wurde in Dampf umgewandelt und in dieser Form an das RWE verkauft. So vermied man die Zahlung der Kohleumlage, die andernfalls fällig geworden wäre. Stinnes kannte sich in diesem Geschäft aus: Wie Thyssen zählte er zu den einflußreichsten Mitgliedern des "Rheinisch-Westfälischen Kohle-Syndikats", das 1893 von insgesamt 98 Unternehmen gegründet worden war, um die Interessen des Ruhr-Bergbaues zu bündeln und Konkurrenz zu vermeiden.

Thyssen und RWE errichten jeweils eigene Gasnetze

Bei der Gasversorgung gingen die beiden RWE-Aktionäre aber getrennte Wege: Stinnes strebte die Zusammenfassung aller Ruhr-Kokereien zu einer Ferngasversorgung unter Führung von RWE an. Damit wäre neben dem Kohle-Syndikat oder unter dessen Dach eine Art Kokereigas-Syndikat entstanden. Thyssen verfolgte dagegen weiterhin seine eigenen Pläne. Beide Seiten einigten sich deshalb 1912 auf eine Gebietsaufteilung, die auf rechtsrheinischer Seite das Gebiet zwischen Mülheim und Barmen für Thyssen reservierte und im übrigen RWE freie Bahn ließ. Bis 1926 hatten die Leitungen von Thyssen und RWE zusammen eine Länge von 460 Kilometern erreicht, wovon zwei Drittel auf RWE entfielen. Das damit transportierte Kokereigas versorgte 69 Gemeinden.

August Thyssen führte seine diversen Unternehmen dezentral, ohne sie in eine Konzern-Holding einzubringen. Es dauerte auch bis 1921, ehe er der Abteilung Gas- und Wasserwerke der August-Thyssen-Hütte eine eigenständige juristische Form spendierte und sie in die "Gasgesellschaft mbH Hamborn" umwandelte. Als Gesellschafter traten dabei zwei andere Thyssen-Unternehmen auf. Das Geschäftsfeld blieb wie bisher die Versorgung von Kommunen und Industriebetrieben mit Ferngas und Wasser.

Aus der Sicht des Alten taugten alle vier Kinder nicht oder nur wenig als Nachfolger

Seinen vier Kindern traute Thyssen die erfolgreiche Weiterführung des Konzerns nicht zu. Das Verhältnis zu ihnen war ohnehin gespannt, ebenso das zu seiner Ehefrau. Als es 1885 zur Scheidung kam, ließ er sich das Sorgerecht für die noch minderjährigen Kinder zusprechen und übertrug diesen sein Vermögen – aber nur, um der Ex-Frau möglichst wenig zahlen zu müssen. Zugleich räumte er sich den lebenslangen Nießbrauch am Vermögen ein und behielt so das alleinige Sagen. Erst 1919 und 1921 überließ er zwei seiner Firmen den Söhnen Fritz und Heinrich. Den beiden anderen Kindern kaufte er den Verzicht auf das Erbe gegen hohe Einmalzahlungen und Apanagen ab.

Mit der Gründung der "Vereinigten Stahlwerke" werden 1926 vier Montankonzerne zusammengeführt


Fritz Thyssen war einer der wichtigsten Förderer Adolf Hitlers, erlebte dann aber das Ende des "Dritten Reichs" als KZ-Häftling.

Aber auch Fritz und Heinrich hatten nach Ansicht des Alten zu wenig Koofmich-Geist, um das von ihm gezimmerte Imperium aus Hüttenbetrieben, Stahlwerken und Zechen erfolgreich weiterzuführen. Noch vor seinem Dahinscheiden fädelte er deshalb eine umfassendere Lösung ein, die zumindest einer der Söhne gehorsam umsetzte: Nachdem der Vater 1926 gestorben war, brachte Fritz sein komplettes Erbe in die "Vereinigten Stahlwerke AG" ein. Mit dieser Neugründung wurden 1926 insgesamt vier Montankonzerne zusammengeführt, die 34 Prozent der deutschen Stahlerzeugung und fünf Prozent der Kohleförderung repräsentierten. Der Thyssen-Beitrag umfaßte dabei auch einige Unternehmen, die zum Erbteil des Bruders Heinrich gehörten. Die beiden bekamen insgesamt 26 Prozent an der Neugründung und Sitze im Aufsichtsrat. Fritz wurde sogar Vorsitzender des Aufsichtsgremiums. Die tatsächliche Steuerung des weltweit zweitgrößten Stahlkonzerns übernahmen jedoch Albert Vögler und andere Personen, die ein paar Jahre später zu wichtigen Erfüllungsgehilfen der nationalsozialistischen Rüstungspolitik wurden.

Der Sohn Heinrich übernimmt die Thyssengas

Heinrich verwendete dagegen den größten Teil seines Erbes zum Aufbau einer eigenständigen Unternehmensgruppe. Zu dieser gehörten die Thyssen'schen Gas- und Wasserwerke. So hieß die ehemalige Gas- und Wasserabteilung der August-Thyssen-Hütte seit 1927. Unter dem neuen Eigentümer konnte sie zahlreiche rheinische Kommunen als Kunden gewinnen, darunter Köln und Düsseldorf. Ab 1930 belieferte sie sogar Aachen, nachdem sie dort ein zweites Ferngaswerk errichtet hatte. Bis 1937 erreichte sie einen Absatz von einer Milliarde Kubikmeter Kokereigas.

Der Sohn Fritz finanziert die Nazis, bereut dies aber nach der Machtergreifung

Da die heutige Thyssengas von Heinrich übernommen wurde, gehört Fritz Thyssen nicht direkt zu ihrer Firmengeschichte. Es sollte aber doch erwähnt werden, daß der anrüchige Beigeschmack, der dem Namen Thyssen bis heute anhaftet, vor allem mit diesem zu tun hat. Schon der alte Thyssen war politisch rechts angesiedelt, wie es bei einem Unternehmer seines Schlages nicht anders zu erwarten war. Von der Mehrheit seiner Standesgenossen unterschied er sich nur dadurch, daß er katholischem Milieu entstammte und diesem verhaftet blieb, weshalb er im Kaiserreich anstelle der sogenannten Nationalliberalen die Zentrumspartei unterstützte. Sein Sohn Fritz war dagegen deutschnational bis auf die Knochen und ein aktiver Gegner der Republik, die nach dem verlorenen Weltkrieg entstand. Er unterhielt Kontakte zu den Rechtsputschisten um Erich Ludendorff und gehörte zu den frühesten Förderern Adolf Hitlers. Unter anderem ermöglichte er Hitler den Kauf eines Palais in München, aus dem dann die Parteizentrale "Braunes Haus" wurde. Sein besonderer Günstling war Hermann Göring, der ihm dafür nach der Machtergreifung den Titel eines "Preußischen Staatsrats" verlieh.

Geplante Flucht nach Argentinien endet in Südfrankreich

Dem Thyssen-Erben erging es jedoch wie dem Zauberlehrling, der von den Geistern übermannt wird, die er leichtfertig beschworen hat. Obwohl er 1933 auch offiziell der NSDAP beitrat und von den Machthabern geradezu hofiert wurde, war er letztlich nie ein hundertprozentiger Nazi. Seine Vorstellungen von einem ständisch gegliederten Staat lagen eher auf der Linie des spanischen Klerikalfaschismus. Er blieb Katholik, fand die Judenverfolgung empörend und wollte auch keinen Krieg. Nach dem Überfall auf Polen, mit dem 1939 der zweiten Weltkrieg begann, protestierte er in Briefen an Hitler und Göring. Zugleich setzte er sich mit seiner Familie in die Schweiz ab. Von dort wollte er nach Argentinien emigrieren.

Es kam dann anders: Beim Aufenthalt an der Côte d'Azur überredete ihn in Monaco ein amerikanischer Journalist zu einem Buch, das unter dem Titel "I paid Hitler" 1941 in den USA und Großbritannien veröffentlicht wurde. Noch vor dem Erscheinen wurde ihm indessen zum Verhängnis, daß Hitlerdeutschland mittlerweile auch Frankreich besiegt hatte. Die Marionetten-Regierung des Marschalls Pétain, die den unbesetzten Teil des Landes verwalten durfte, liefert ihn entgegen ihrer Zusicherung der Gestapo aus. Den Rest des Krieges verbrachten Thyssen und seine Frau unter anderem in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald – allerdings nicht als normale Häftlinge, sondern in einer Art Ehrenhaft als persönliche Gefangene des "Führers".

Heinrich wird per Adoption zum Baron Thyssen-Bornemisza von Kászon


Heinrich Thyssen erbte nach dem Tod des Vaters unter anderem die Thyssengas. Der Nachwelt ist er vor allem als Begründer einer Gemäldegalerie mit "Alten Meistern" bekannt.

Der Bruder Heinrich unterhielt während der NS-Zeit ebenfalls Kontakte zu Hermann Göring und anderen braunen Eminenzen. – Sicher nicht ganz so enthusiastisch, aber dafür beständiger. Während seiner zeitweiligen Ehe mit einer ungarischen Baronesse hatte er sich von seinem Schwiegervater adoptieren lassen und nannte sich seitdem Baron Thyssen-Bornemisza von Kászon. 1932 übersiedelte er in die Schweiz, wo er von einem preußischen Prinzen die Villa "Favorite" in Castagnola bei Lugano gekauft hatte. Während seine Generaldirektoren die Geschäfte führten, widmete er sich dem Aufbau einer Sammlung mit Gemälden von "Alten Meistern" des 15. bis 19. Jahrhunderts. Durch diese Gemäldesammlung, die sein Sohn Hans Heinrich weiter ausbaute und in den neunziger Jahren dem spanischen Staat verkaufte, ist er der Nachwelt hauptsächlich im Gedächtnis geblieben.

Nach dem Krieg entstehen aus dem restituierten Vermögen zwei neue Thyssen-Konzerne

Beide Thyssen-Brüder überlebten das "Dritte Reich" nicht lange. Fritz wurde wegen seines autobiographischen Bekenntnisses, er habe Hitler finanziert, von den Amerikanern angeklagt und zu teilweisem Vermögenseinzug verurteilt. 1950 wanderte er zusammen mit seiner Frau nach Argentinien aus, wo seine Tochter lebte, und starb schon ein Jahr später. Witwe und Tochter gründeten mit den Vermögensteilen, die sie nach und nach aus der Erbmasse der Vereinigten Stahlwerke AG zurückbekamen, 1959 einen neuen Konzern. Sie organisierten diesen in Form einer Stiftung, die nach dem Verstorbenen benannt wurde. 1999 verschmolz dann dieser neue Thyssen-Konzern mit KruppHoesch zur ThyssenKrupp AG.

Heinrichs Sohn "Heini" sammelt neben Gemälden auch schöne Frauen

Heinrich Thyssen-Bornemisza starb bereits 1947 und erlebte es nicht mehr, daß seine von den Besatzungsmächten konfiszierten Unternehmungen wieder freigegeben wurden. Deshalb wurde sein Sohn Hans Heinrich neuer Eigentümer des restituierten Vermögens, wobei das Gasgeschäft nun als Thyssengas GmbH firmierte. Der "Baron", wie er weiterhin genannt wurde, obwohl er auf diesen Titel 1950 bei seiner Einbürgerung in die Schweiz verzichtet hatte, übernahm auch die Kunstsammlung in Lugano und baute sie weiter aus. Daneben sammelte "Heini", wie ein anderer Spitzname lautete, ziemlich viele Frauen und führte teure Scheidungsprozesse. Zuletzt heiratete er eine ehemalige spanische Schönheitskönigin. Kurzum: Er war ein Playboy und eine Skandalfigur, die man in seriöseren Wirtschaftskreisen als genierlich empfand. Sein Firmenimperium, das er steuersparend in eine auf den Bermudas angesiedelte Briefkastenfirma einbettete, interessierte ihn nur als Geldquelle, und wenn die nicht so richtig sprudelte, verkaufte er schon mal ein paar Aktienpakete.

Mit dem Einstieg von Exxon und Shell wird Thyssengas zum Erdgas-Lieferanten

So gelangte auch die Thyssengas GmbH zu neuen Eigentümern. Fürs erste nur zur Hälfte: 1965 übernahmen die Öl- und Gaskonzerne Exxon und Shell jeweils 25 Prozent des Unternehmens, das aus diesem Anlaß in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde.

"Heini" war zwar in vieler Hinsicht ein Luftikus. In diesem Fall tätigte er aber ein sinnvolles Geschäft: Kokereigas war von der Stahlproduktion abhängig und konnte nicht beliebig vermehrt werden. Die beschränkte Ressource war sogar zum Auslaufmodell geworden, nachdem man 1959 in den Niederlanden große Erdgas-Vorkommen entdeckt hatte. Erdgas war an sich nichts neues. Es wurde aber bis dahin in Deutschland nur in sehr geringem Umfang gefördert und genutzt. Noch 1966 beschränkte sich die deutsche Erdgas-Förderung auf etwa sechs Prozent des gesamten Gasaufkommens. Dieses inländische Erdgas wurde fast durchweg für industrielle Zwecke oder zur Stromerzeugung verbraucht. Nur ein kleiner Teil wurde zu Stadtgas aufbereitet. Nun stand aber plötzlich Erdgas in Hülle und Fülle zur Verfügung. Mit dessen Import aus den Niederlanden konnte man nicht nur das bisherige Kohlegas komplett ersetzen, sondern auch noch den Gasabsatz insgesamt erheblich ausweiten.

Parallel zum Einstieg der beiden Gasförderer schloß die Thyssengas 1965 als erstes deutsches Unternehmen einen Importvertrag für Erdgas aus den Niederlanden. Sie bekam damit privilegierten Zugang zu der neuen Energiequelle, die das Kohlegas bis Ende der siebziger Jahre bundesweit verdrängte. Sie selbst lieferte schon seit 1971 nur noch Erdgas. Für die beiden Gasförderer Exxon und Shell lohnte sich der Handel ebenfalls, denn über die Thyssengas mit ihrem großen Ferngasnetz und festen Kundenstamm konnten sie die Ruhrgas AG unter Druck setzen, die über ein noch weit größeres Netz und damit über entsprechende Marktmacht verfügte.

Der Staatskonzern VIAG kauft 1981 die andere Hälfte – Das Kartellamt erhofft sich dadurch ein Gegengewicht zur Ruhrgas

Fünfzehn Jahre nach dem Einstieg von Exxon und Shell machte "Heini" die ihm verbliebene hälftige Beteiligung ebenfalls zu barem Geld, indem er sie 1981 dem VIAG-Konzern verkaufte. Die Vereinigte Industrie-Unternehmungen AG (VIAG) war eine dem deutschen Staat gehörende Holding mit Beteiligungen im Aluminium-, Chemie- und Elektrizitätsbereich. Das Bundeskartellamt genehmigte 1980 trotz einiger Bedenken den Antrag der VIAG, die andere Hälfte an Thyssengas übernehmen zu dürfen. Zur Begründung hieß es: "Die gesteigerte Finanzkraft sowie die Stellung als Bundesunternehmen werden es der Thyssengas GmbH künftig erlauben, im Wettbewerb um Erdgasmengen, -preise und -konditionen gegenüber der überragenden Ruhrgas AG besser zu bestehen und so langfristig ein Gegengewicht zu diesem Unternehmen zu bilden." Beispielsweise werde die Thyssengas in der Lage sein, benachbarte Ferngasunternehmen zu umwerben, sobald deren Demarkationsverträge auslaufen und so "in bisher von der Ruhrgas AG beherrschte regionale Märkte einzudringen".

 


Die Thyssengas rangiert im Mittelfeld der 16 deutschen Ferngas-Netzbetreiber. Sie betreibt im Westen Deutschlands mit 270 Beschäftigten ein 4.200 Kilometer langes Gas-Fernleitungsnetz, das jährlich bis zu zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas transportiert. Durch die Leitungen für L-Gas (grün) strömt Gas aus niederländischen Quellen, das einen geringeren Methangehalt und Brennwert besitzt. Wegen des Rückgangs der Gas-Importe aus den Niederlanden und der inländischen Förderung sollen bis 2030 alle L-Gas-Netze bis hin zu den Geräten der angeschlossenen Verbraucher auf das hochkalorische H-Gas (rot) umgestellt werden.

 

Das Bayernwerk überläßt RWE die Hälfte an Thyssengas und bekommt dafür die Isar-Amperwerke

Seit dem 1981 vollzogenen Einstieg der VIAG hatte die Thyssengas GmbH – inzwischen hatte wieder mal ein Wechsel der juristischen Unternehmensform stattgefunden – mit der Thyssen-Dynastie nichts mehr zu schaffen. Der Name war nur noch Reminiszenz. Ein "Bundesunternehmen", wie es in der Formulierung des Kartellamts hieß, war sie allerdings auch nicht geworden, denn Shell und Exxon besaßen weiterhin die andere Hälfte. In dem in den achtziger Jahren einsetzenden neoliberalen Rausch, der sich nach dem Ende der Sowjetunion bis zur Besinnungslosigkeit steigerte, ging der allgemeine Trend sowieso zur Privatisierung und zur regelrechten Verschleuderung von Staatseigentum. Auch die VIAG wurde am Ende privatisiert, ebenso wie der ähnlich strukturierte VEBA-Konzern, mit dem sie im Jahr 2000 zu einem neuen Konzern unter dem Kunstnamen E.ON fusioniert wurde.

Vor diesem Hintergrund reichte die VIAG ihre Beteiligung 1994 an die Bayernwerk AG weiter. Diese VIAG-Tochter war im eben wiedervereinten Deutschland eines von insgesamt neun Strom-Verbundunternehmen und spielte eine wichtige Rolle bei der schrittweisen Privatisierung des Mutterkonzerns. Sie gab die Beteiligung ihrerseits 1997 an den RWE-Konzern weiter. Im Gegenzug bekam sie den bayerischen Regionalversorger Isar-Amperwerke (960504, 970505, 970707).

Exxon und Shell trennen sich von ihren strategisch wertlos gewordenen Beteiligungen

Die Liberalisierung des Energiemarktes bewirkte oder begünstigte zumindest eine weitere Veränderung der Eigentümerstruktur: Das 1998 in Kraft tretende neue Energiewirtschaftsgesetzes untersagte die bisher üblichen Demarkationsverträge und beseitigte damit die geschützten Versorgungsgebiete bei Strom und Gas. Zugleich wurden die Netzbetreiber verpflichtet, auch Strom und Gas von anderen Anbietern "durchzuleiten", und zwar gleichberechtigt mit den eigenen Lieferungen (980401). Das klappte zwar noch lange Zeit gar nicht so, wie sich das neoliberale Wirtschaftsideologen und Politiker vorgestellt hatten, zumal sie in Deutschland sieben Jahre lang die unumgängliche Einführung einer Regulierungsbehörde verhindern konnten. Tendenziell verloren damit aber die Netze ihre bisherige strategische Bedeutung.

Unter diesen neuen Umständen war es für den Exxon-Konzern keine große Zumutung, als die EU-Kommission die Genehmigung seiner Fusion mit Mobil Oil von der Abgabe der 25 Prozent an Thyssengas abhängig machte. Im Mai 2000 verkaufte er seine Beteiligung an RWE. Drei Jahre später trennte sich auch die Shell von ihrer Viertelbeteiligung. RWE wurde so hundertprozentiger Eigentümer. Zugleich verschwand der Name Thyssengas. Die RWE Transportnetz Gas GmbH besorgte sowohl das operative Geschäft als auch die Außendarstellung des Unternehmens. Die Thyssengas GmbH existierte zwar als Eigentümerin weiter, aber nur noch zu juristischen Zwecken.

Mit Thyssengas bekommt RWE nach 76 Jahren wieder ein eigenes Gas-Transportnetz

Der damals führende deutsche Stromkonzern stieg so auch in das Gasgeschäft ein. Genau genommen handelte es sich um einen Wiedereinstieg, da RWE ja schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts ein eigenes Ferngasnetz aufgebaut hatte, nachdem sich der Großaktionär August Thyssen dem Ansinnen von Hugo Stinnes verweigerte, auch in diesem Bereich gemeinsame Sache zu machen. Dieses große Netz war aber 1927 an die Ruhrgas AG verkauft worden, die das "Rheinisch-Westfälische Kohle-Syndikat" im Jahr zuvor als Ferngasgesellschaft des Ruhrbergbaues gegründet hatte. Es bildete die materielle Ausgangsbasis dieses Unternehmens, das bis zum Ende des 20. Jahrhunderts den deutschen Gasmarkt dominierte (130514). RWE hatte seitdem kein Gas mehr im Angebot.

Die Thyssengas, die nun durch das RWE-Emblem ersetzt wurde, belieferte nicht nur Weiterverteiler und Endkunden, sondern bezog dieses Gas direkt aus den Niederlanden, Norwegen, Russland, Großbritannien und inländischer Förderung. Mit ihrer hundertprozentigen Einverleibung gelang es RWE zum ersten Mal, die ganze Wertschöpfungskette in den Griff zu bekommen. So sah es zumindest nach alter Optik aus. Denn im Netzbereich hatte diese Wertschöpfungskette bereits einen Knacks, der mit dem Greifen der Regulierung immer größer wurde. Unter den wachsamen Augen der Regulierungsbehörde, die schließlich doch eingeführt werden mußte, ergaben sich aus der weiterhin zulässigen Doppelrolle als Netzeigentümer und Energieanbieter immer weniger Vorteile. Die von der Bundesnetzagentur gewährten Renditen waren zwar vergleichsweise üppig, blieben aber doch erheblich hinter den Gewinnen aus dem Kraftwerksgeschäft und anderen Bereichen zurück.

Um einem Antitrust-Verfahren zu entgehen, verpflichtet sich RWE zum Verkauf

Bei den Transportnetzen nutzte außerdem die EU-Kommission jede Gelegenheit, um auch einen Eigentümerwechsel herbeizuführenden, indem sie die Daumenschrauben entsprechend anzog. RWE bekam dies zu spüren, nachdem die EU-Kommission 2006 die Geschäftsräume von Gaskonzernen in Deutschland, Italien, Frankreich, Belgien und Österreich durchsucht hatte, um Hinweise auf Marktabsprachen und Diskriminierung von Wettbewerbern zu finden. Dabei war sie auch bei RWE fündig geworden (060503). Um einer hohen Geldbuße zu entgehen, bot RWE Ende 2008 an, sein Gastransportnetz zu verkaufen (081210). Die Kommission akzeptierte und stellte das Antitrust-Verfahren ein (090304).

Im Juli 2009 machte RWE die Tochter für den Verkauf schon mal hübsch, indem das Transportnetz seinen alten Namen wieder bekam: Die RWE Transportnetz Gas wurde mit der noch immer existenten Thyssengas GmbH verschmolzen, die damit aus ihrem Schattendasein heraustrat. Um zu verdeutlichen, daß die neue Thyssengas GmbH ein reines Gastransportunternehmen und kein integrierter Energieversorger mehr ist, wurde der Zusatz "Erdgaslogistik" in das Logo aufgenommen (090709).

Seit 2011 ist Thyssengas nur noch ein Renditeobjekt für Kapitalanleger

Ende 2010 war es soweit: Die Thyssengas wurde vom australischen Finanzkonzern Macquarie übernommen, der schon seit längerem in der deutschen Energiewirtschaft nach lukrativen Renditeobjekten suchte. Den mittelgroßen Gastransporteur ließ er sich eine größere dreistellige Millionensumme kosten. Die Speicher und das Verteilnetz waren nicht inbegriffen, sondern blieben bei RWE (101204).

Der Finanzinvestor Macquarie hat in den nun folgenden Jahren, in denen ihm der Netzbetreiber gehörte, prächtig verdient. Sogar allzu prächtig. Trotzdem hat er die Thyssengas jetzt an die Electricité de France (EDF) und den niederländischen Infrastrukturfonds DIF weiterverkauft (160611). – Ob es wohl die Aussicht auf etwas weniger üppige Jahre war, die ihn dazu veranlaßt hat? Die Bundesnetzagentur will jedenfalls in der 2018 beginnenden zweiten Gas-Regulierungsperiode die Kapitalrendite für Neuanlagen von derzeit 9,05 auf 6,91 Prozent und für Altanlagen von 7,14 auf 5,12 Prozent senken. Die Branche beklagt sich darüber natürlich, zumal das Jammern über Regulierungsauflagen ohnehin zu ihrem Geschäft gehört. Der hohe Verkaufserlös von rund 700 Millionen Euro sowie die große Anzahl von Interessenten für Thyssengas demonstrieren dagegen, daß diese Kürzungen durchaus angebracht sind. Schließlich muß jeder Euro, den Kapitalanleger wie Macquarie unnötigerweise einstreichen, von den Verbrauchern über die Gas- bzw. Stromrechnungen bezahlt werden.