Psychologie

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"Nervosität und Kultur"


Willy Hellpachs frühe Schriften zur Sozialpsychologie



Willy Hellpach (1877 - 1955)

Willy Hellpach war Professor für Psychologie an den Universitäten Heidelberg und Karlsruhe. Ein Wirtschaftsgymnasium in Heidelberg trägt seit 1973 seinen Namen. Diese Ehrung dürfte allerdings mehr dem Politiker als dem Psychologen gegolten haben. Ansonsten ist dieser bedeutende Vertreter einer geisteswissenschaftlich orientierten Psychologie weitgehend in Vergessenheit geraten.

Schüler Wundts und Antipode zu Freud

Bemerkenswert bleibt Hellpach vor allem als Sozialpsychologe und Antipode zu Sigmund Freud, mit dem er zwar in den Jahren 1903/04 ein paar Briefe wechselte, mit dem ihn aber sonst nur wenig verbindet. Vor allem seine frühen Schriften, die er noch vor dem ersten Weltkrieg veröffentlichte, bieten sich für einen Vergleich an, da sie das Zeitproblem der "Nervosität" aus einer eher soziologischen als individualpsychologischen Perspektive angehen. Hellpach huldigte auch einem anderen Wissenschaftsverständnis als Freud: "Die Frage nach dem Wesen der Seele gehört so wenig in die Psychologie hinein, wie die andere nach dem Wesen der Materie in der Mechanik", postulierte er 1902 in der Einleitung zu seinem ersten Erfolgsbuch über "Die Grenzwissenschaften der Psychologie". Hierbei handele sich um Probleme der Philosophie. Die Aufgabe des Psychologen wie die des Naturforschers könne immer nur darin bestehen, "möglichst viele Einzeltatsachen zu beschreiben und etwa beobachtete Regelmäßigkeiten im Ablauf der Erscheinung möglichst kurz und scharf zu formulieren".
Mutter und Kind (1879)
Der Abiturient (1895)

So haben sich beide mit unterschiedlichem Rüstzeug, Horizont und Verständnis von Wissenschaft auf das problematische Gebiet der "Nervosität" und ihres Zusammenhangs mit der Kultur gewagt. Hellpach kam dabei aus der Schule Wundts. Wie sein Lehrer war er ein philosophisch bewanderter Psychologe. Lediglich aus Gründen des Broterwerbs studierte er auch noch Medizin und ergriff den Beruf des Nervenarztes: "Die Nervenheilkunde wurde große Mode", schreibt er in seiner Autobiographie. "Es ging die Fama um, als Nervenarzt gehörte einem die Zukunft, das 20. Jahrhundert werde eines der Neurasthenie und ihrer Bezwingung sein, als Nervenarzt sei man ein gemachter Mann." (1)

Freud war dagegen ein Mediziner, den es aus seiner nervenärztlichen Praxis heraus auf das Gebiet der Psychologie verschlug. Dabei hatte der Wiener Nervenarzt von diesem Fach kaum eine Ahnung. Als Anhänger eines seichten Vulgärmaterialismus fehlte ihm auch der Zugang zu den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen jeder Art von Psychologie, die Wundt damals gerade aus dem Schoß der Philosophie herauszulösen und zu einer eigenständigen Wissenschaft zu entwickeln versuchte.

Was Hellpach und Freud allerdings verband, war das schriftstellerische Talent. Beide verstanden es hervorragend, ihre jeweilige Sichtweise der Dinge in eine gefällige Form zu kleiden. Hellpach, der viele Jahre als Redakteur des Organs des Verbandes deutscher Ärzte ("Hartmannbund") die standespolitischen Forderungen der Zunft verfocht, besaß davon eher noch mehr als Freud. Seine ersten größeren Einkünfte erzielte er mit schriftstellerischer Tätigkeit. Und als die neu eröffnete Nervenarzt-Praxis nicht so florierte, wie er es sich vorgestellt hatte, versuchte er sich sogar als Romanautor (um dann allerdings festzustellen, daß ihm in diesem Genre nicht derselbe Erfolg wie als Sachbuchautor beschieden war). (2)

Weiterhin verband beide – trotz des Altersunterschieds von immerhin 21 Jahren – das gemeinsame geistige Umfeld in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem das materialistische Credo von einer neuen Neigung zum Irrationalismus überlagert wurde. Freud und Hellpach reagierten aber ganz unterschiedlich auf diesen ideologischen Paradigmawechsel: Freud erlag ihm sozusagen "unbewußt": Er hat seine Psychoanalyse als materialistischen Mythos erfunden. Hellpach dagegen hat die Veränderung des geistigen Klimas gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehr bewußt wahrgenommen. Zum Beispiel hat er den Wandel der populärwissenschaftlichen Aufklärungsliteratur von Ernst Haeckels nüchternen "Welträtseln" zu Wilhelm Bölsches schwärmerischem "Liebesleben in der Natur" als Menetekel verstanden: "Und daraus schält sich nun das Weltanschauungsproblem unserer Tage heraus: unbedingte Anerkennung des naturwissenschaftlichen Weltbildes; und doch freie Bahn für den irrationalen Überschuß unserer Seele." (3).
Der cand. med et phil. (1897)
Der Nervenarzt (1907)

Als Hellpach starb, hinterließ er Dutzende von Büchern und Hunderte von Zeitungsartikeln (die Bibliographie umfaßt ingesamt 1100 Einträge). Einige davon, wie die "Geistigen Epidemien" aus dem Jahre 1906, sind mit leichter Hand für ein breites Publikum geschrieben. Andere wie das "Elementare Lehrbuch der Sozialpsychologie" oder die "Klinische Psychologie" befleißigen sich akademischer Gelehrsamkeit und erheben schon im Titel den Anspruch, Standardwerke der psychologischen Literatur zu sein. Sein eigentliches Revier blieben aber die "Grenzwissenschaften" der Psychologie im Sinne einer interdisziplinären Sichtweise, die eher geistes- als naturwissenschaftlich geprägt war. Mit Themen wie "Die Erziehung der Arbeit", "Mensch und Volk der Großstadt", "Psychologie der Umwelt", "Grundriss der Religionspsychologie", "Geopsyche" oder "Deutsche Physiognomik" betrat er oft Neuland und ungesicherten Boden. Gleichwohl bewegte er sich virtuos auf allen Gebieten und Randgebieten der Psychologie, da er – siehe oben – die "freie Bahn für den irrationalen Überschuß unserer Seele" immer mit der "unbedingten Anerkennung des naturwissenschaftlichen Weltbilds" zu verbinden verstand.

Dennoch – oder gerade deshalb – läßt sich das Echo auf Hellpachs umfangreiches Schrifttum nicht entfernt mit dem auf die Freudschen Theorien vergleichen. Offenbar hatte jene bürgerliche Intellektualität und Rationalität, die sein Werk prägt, genausowenig eine Zukunft wie das Bürgertum, das er politisch und geistig vertrat. Umgekehrt scheint sich der Erfolg von Freuds Theorien aus den tatsächlichen ideologischen Zwängen und Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erklären: Mit einer verqueren Mischung aus Vulgärmaterialismus und Neu-Idealismus sang der Wiener Nervenarzt dem Zeitgeist dessen eigene Melodie vor . . .

Individualismus kontra "Lenksamkeit" der Massen

"Die geistigen Epidemien" - eine der frühen Schriften Hellpachs aus dem Jahre 1906

Hellpach ist Psychologe, Mediziner und Politiker in einer Person. Der gebürtige Schlesier promoviert als Schüler Wundts 1899 zum Dr. phil. und 1903 zum Dr. med., läßt sich in Karlsruhe als Nervenarzt nieder, habilitiert sich dort an der Technischen Hochschule und erhält eine Professur für Psychologie. Zu Anfang der zwanziger Jahre tritt er der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei, wird 1922 badischer Minister für Kultus und Unterricht, 1924 badischer Staatspräsident, 1925 Kandidat der DDP für die Reichspräsidentenwahl und 1928 Reichstagsabgeordneter. Die praktische Tätigkeit als Politiker liegt ihm jedoch letztlich so wenig wie die des Nervenarztes. Seine Stärke liegt im Theoretisieren und in der schriftlichen Darlegung, wobei ihm seine umfassende Bildung und eine ausgeprägte schriftstellerische Begabung zustatten kommen. Bereits 1902, mit 25 Jahren, veröffentlicht Hellpach ein Buch über "Nervosität und Kultur", das die These des Historikers Karl Lamprecht vom Zeitalter der Reizsamkeit kongenial aufgreift und teilweise verändert (4). Mit scharfem Blick für psychologische Details beschreibt Hellpach darin "Lenksamkeit und Reizsamkeit als Grundlagen hysterischer und nervöser Kulturphasen". Im einzelnen folgen dann die Kapitel "Die Sinnesreize der technischen Arbeit", "Der Geist der modernen Gütererzeugung", "Der Geist des modernen Güterverbrauchs", "Arbeit und Erholung", "Der moderne Seelenzustand und die Religion", "Nervöse Kunst und ästhetische Kultur", "Liebesleiden und Nervenleiden", "Entartung" sowie "Die Überwindung der Nervosität durch die wirtschaftliche und geistige Entwicklung".

Unter "Lenksamkeit" versteht Hellpach einen kultur- und individualpsychologischen Zustand, der sich in Hysterie, Suggestibilität und Fanatismus äußert. "Die Zeitalter der Lenksamkeit bieten uns auf jeder Seite ihrer Chronik das Schauspiel bis zum Wahnwitz fanatisierter Massen." Für die westeuropäische Kultur seien die Zeiten der Lenksamkeit jedoch im wesentlichen vorüber, seitdem auf der Grundlage der Geldwirtschaft und Städtebildung der Individualismus seine Entfaltung erlebt habe. Eine Ausnahme bilde allein die Arbeiterbewegung, die "zunächst völlig als lenksam charakterisierte Bewegung" angetreten sei, inzwischen aber zunehmend verbürgerliche. Parallel zur Lenksamkeit der Arbeiterbewegung seien die bürgerlichen Schichten von einer "neuartigen psychischen Disposition, der Reizsamkeit" erfaßt worden, die ihre Grundlage in den Existenzbedingungen der "hochkapitalistischen" Ära habe. Diese hochkapitalistische Ära weiche freilich zunehmend einer "Sozialisierung" der Produktionsweise, womit ebenso die Voraussetzungen für die Überwindung der bürgerlichen Nervosität wie der proletarischen "Lenksamkeit" geschaffen würden (5).

Heimlicher Sympathisant der Sozialdemokratie

Politisch sympathisierte Hellpach damals noch mit der Sozialdemokratie. Unter dem Pseudonym Ernst Gystrow schrieb er Beiträge für die "Sozialistischen Monatshefte", die seit 1897 erschienen und das theoretische Organ des revisionistischen Flügels der SPD waren. Erst 1902 enthüllte er die Identität der beiden Publizisten Hellpach und Gystrow (6). Unter "Sozialisierung" verstand Hellpach (wie übrigens auch Lamprecht) dieselbe neue Phase des Kapitalismus, die Lenin als "monopolistischen oder staatsmonopolistischen Kapitalismus" bezeichnete und seiner "Imperialismus"-Theorie zugrunde legte. Seine Prophezeiung, daß es in dieser neuen Phase gelingen werde, die Sozialdemokratie wieder ins bürgerliche Lager zu integrieren, hat sich zweifellos bestätigt.

Anders bei der Nervosität: Entgegen Hellpachs Erwartung beseitigte das neue Stadium des Kapitalismus keineswegs die nervösen Krankheitserscheinungen. Vielmehr verbreiteten sich diese mit der Verbürgerlichung der lohnabhängigen Schichten bis in die Reihen der Industriearbeiter, die nach Hellpachs damaligem Befund von der Neurasthenie verschont waren. Seine Vision einer Sozialisierung des kapitalistischen Systems auf friedlich-evolutionärem Weg erlitt durch den Ersten Weltkrieg einen herben Schlag. Die These vom Ende der "Lenksamkeit" bzw. des Massenfanatismus wurde bereits durch den chauvinistischen Taumel bei Kriegsbeginn und später noch gründlicher durch den Faschismus widerlegt.

Über Angestellten-Kultur und Depravierung des Mittelstandes

Hellpach (vorn links) vor einer Apparatur für psychologische Tests

Zahlreiche Einzelbeobachtungen Hellpachs waren dagegen von erstaunlichem Weitblick. So, wenn er die Psychologie des "neuen Mittelstandes" der Angestellten beschreibt, mit ihrem kleinbürgerlichen Standesdünkel, ihrem halbgebildeten Wortschwall, ihrem brennenden Ehrgeiz und ihrer Hypochondrie: "Wer es nicht sogleich glauben sollte, daß ein riesengroßer Teil dieser Leute nervös ist, der braucht nur die Mitgliederlisten der Naturheilvereine, der Kaltwassergesellschaften zu durchblättern oder beim Buchhändler sich zu erkundigen, von wem die Erzeugnisse der Kneipp, Bilz, Louis Kuhne am meisten gekauft werden. Die Gesundheitsfexerei hat ja in dieser Schicht ihren unerschöpflichen Wurzelboden." (7)

In der Psychologie des niedergehenden alten Mittelstandes dagegen erkennt Hellpach einen beständigen "Groll gegen die wirklich Erwerbenden, die Repräsentanten der kapitalistischen Wirtschaft, die in Schlagworten wie 'Großkapital', 'Börse', 'Spekulation', 'Judentum', 'Hochfinanz', 'goldene Internationale' u. a. verdichtet erscheinen". Besonders sei der "nach Staatshilfe rufende, auf Ausbeutung jugendlicher Arbeitskraft angewiesene Handwerker, der sich nicht rechtzeitig auf den Boden des modernen Wirtschaftens zu retten wußte, eine der unerquicklichsten Niedergangstypen geworden". (8)

Illusionen über psychische Folgen des "Motorwagenverkehrs"

Ähnlich treffend charakterisiert Hellpach den hektischen Wechsel der Moden und die Flucht aus monotoner, entfremdeter Arbeit in die Freizeitindustrie. Er sieht bereits die Entflechtung der Städte nach Wohn-, Produktions- und Geschäftsvierteln voraus und scheut nicht den Spott der Skeptiker, "wenn ich von der Zeit rede, wo die Bürger ihre Automobile durch die Straßen lenken werden". Er hält es sogar für denkbar, daß "der mehr individuell geprägte Motorwagenverkehr die kommunistische Straßenbahn bedeutend entlastet". Diese voraussichtliche Ablösung der Massentransportmittel durch das persönlich geleitete Gefährt sei psychologisch eine äußerst bedeutungsvolle Tatsache und zwar im Sinne einer "heilsamen Ablenkung von den passiv erlebten Reizen" bzw. einer Verminderung der nervösen Erscheinungen. (9)

So liegt bei Hellpach oft eine treffende Beobachtung oder Voraussage dicht neben einer falschen Schlußfolgerung. Daß der Individualverkehr mit seinem Lärm und anderen Folgen zum wichtigsten Streßfaktor des 20. Jahrhunderts würde, paßt nicht ins Konzept des jungen Psychologen, der im Jahre 1902 die Überwindung der Nervosität durch das neue Stadium der kapitalistischen Gesellschaft prophezeit. Vier Jahre später, in "Nervenleben und Weltanschauung", tritt der Verkehr in allen seinen Varianten dann schon als nervöser Faktor auf. Allerdings hält Hellpach noch immer an der These fest, daß lediglich das Bürgertum nervös sei. Er versucht deshalb den Nachweis zu führen, daß die Auswirkungen des Verkehrs auf den Proletarier ganz andere seien. Insgesamt könne, obgleich die Nervosität den Charakter der Epoche bilde, wohl kaum ein Viertel der Gesellschaft als nervös gelten, allen voran die Unternehmer und geistig Tätigen. (10)

"Hysterie ist die Krankheit der Unfreiheit"

Nervosität wird bei Hellpach also als Klassenmerkmal, geradezu als Statussymbol geschildert. Das mag überspitzt sein, widerspiegelt aber doch im wesentlichen einen empirischen Befund. Seine soziologische Nüchternheit unterscheidet den Karlsruher Nervenarzt vom Wiener Kollegen Sigmund Freud, der denselben empirischen Befund zu der These verfremdet, die Neurose sei das Ergebnis eines abverlangten Triebverzichts, einer Kulturleistung, die vor allem dem kultivierten Bürger auferlegt ist, während der Plebs sich auslebt. Hellpach hält schon damals nicht viel von den Thesen des "geistreichen Konstrukteurs Freud" (11). Wie sein Lehrer Wundt ist er philosophisch viel zu bewandert und zu gewitzt, um derartige Phantasmagorien ernst nehmen zu können.

Schon in "Die Grenzwissenschaften der Psychologie", die er 1902 veröffentlicht und "in unbegrenzter Dankbarkeit und Verehrung" dem 70jährigen Wilhelm Wundt widmet, wendet sich Hellpach gegen die These von der sexuellen Ursache der Hysterie (12). Freud und Breuer hätten hier nur einen alten Irrtum neu belebt, indem sie hysterische Patienten unter Hypnose ausfragten. Fragen unter Hypnose hätten jedoch suggestiven Charakter und seien deshalb psychologisch wertlos. Dies habe bereits Wundt in seiner klassischen Schrift über den Hypnotismus aufgezeigt.

"Die Hysterie ist die Krankheit der Unfreiheit", postuliert Hellpach demgegenüber. Ohne die berühmte "Anna O." zu kennen, die Freud zu seiner vermeintlichen Entdeckung inspirierte, bringt er damit deren Leiden mehr Verständnis entgegen als die beiden Wiener Kollegen: Denn bei der Patientin "Anna O." handelt es sich um Bertha Pappenheim, die später als Frauenrechtlerin gegen ihre und die Unfreiheit ihrer Geschlechtsgenossinen aufbegehrt. (Übrigens hielt Berta Pappenheim selber nie viel von den Theorien, die Freud auf ihre Behandlung unter Hypnose gründete.)

Hellpach schlägt von der Hysterie als "Krankheit der Unfreiheit" einen kühnen Bogen zur massenhaften Ausbreitung der Nervosität als "Krankheit der Freiheit". Mit Beginn der kapitalistisch-industriellen Ära habe die Nervosität "die ganze westeuropäisch-amerikanisch-japanische Kulturwelt" erfaßt. Wo die Hysterie verschwinde, trete sie an deren Stelle: "Die Nervosität wird die Krankheit der Freiheit, der an alle Freiheit geknüpften Unsicherheit und Verantwortung."

In ähnlicher Weise wie den Begründer der Psychoanalyse kritisiert der 25jährige Verfasser der "Grenzwissenschaften der Psychologie" den bekannten Nervenarzt Paul Möbius, der zwei Jahre zuvor ein Buch "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes" veröffentlicht hat. Er hält ihm entgegen: "Ich bin der Überzeugung, daß eine gründliche intellektuelle Durchbildung des Weibes dessen gesunde Sinnlichkeit nicht ersticken, sondern im Gegenteil vom Schutt der Prüderie befreien und zur schönsten Entfaltung bringen wird." (13)

"Selten ist ein anmaßlicherer Widersinn behauptet worden", schreibt Hellpach noch fünfzig Jahre später über die psychoanalytische Vorstellung, daß die eigentliche Psyche irgendwo tief im Unbewußten zu suchen sei und die "Libido" als Gegenspieler des Geistes fungiere. "Nicht einmal bei den Tieren erschöpfen sich die Lebenstriebe im Geschlechtstrieb, die Instinkte in den libidines; der Freßtrieb, große Teile des Spieltriebs, des Wandertriebs, des Herdentriebs haben mit jenem gar nichts zu schaffen. Aber das 'Eigentliche' des Menschen, was ihn von aller Tierheit unterscheidet, ist sein Geist; jene ununterbrochen vom wachen Verstand kontrollierte Synthesis aus allen Seelenteilen, die so nur er besitzt." (14)

Bleibende Wertschätzung für Marx und Engels – Degout vorm Vulgärmarxismus

Im Unterschied zu Freud, dem Philosophie ein Greuel ist und dem der Marxismus zeit seines Lebens ein Buch mit sieben Siegeln bleibt, ist Hellpach schon in jungen Jahren mit der marxistischen Philosophie vertraut. Noch mit 75 Jahren, auf dem Höhepunkt des kalten Krieges, wird er den Anhängern der "Tiefenpsychologie" es als das "unvergängliche Verdienst" von Marx/Engels vorhalten, die Augen dafür geöffnet zu haben, "daß es der Menschengeist in seinen rationalen Konzeptionen ist, der Geschichte macht" (15). Sein ganzer Ansatz, psychische Erscheinungen wie die Nervosität von den materiellen Bedingungen des Lebens abzuleiten und in Verbindung mit "Kultur" und "Weltanschauung" zu bringen, ist ähnlich stark von Marx beeinflußt wie Webers Religionssoziologie, Sombarts "Moderner Kapitalismus" oder Lamprechts Kulturgeschichte.

Ebenso wie Weber, Sombart oder Lamprecht findet Hellpach bei seinen geistigen Ausflügen stets auf den Boden einer angepaßten bürgerlichen Existenz zurück. Scharfsinnig erkennt er, daß man sich keineswegs alle Postulate der sozialdemokratischen Doktrin zu eigen machen muß, um marxistisch zu denken; daß sich die materialistische Dialektik von der auf sie gegründeten Gesellschaftstheorie sehr wohl trennen und sogar gegen letztere ins Feld führen läßt.
Plakat zur Reichpräsidentenwahl 1925

Hellpach sieht das ideologisch wirksame Moment des Marxismus nicht im dialektischen Entwicklungsgesetz, sondern im Glauben, daß dieses Entwicklungsgesetz die Proletarier aus ihrer Fron befreien werde. Erst diese fatalistische und zugleich chiliastische Note mache ihn zur Ideologie für die proletarischen Massen geeignet. Psychologisch sei die gängige Version des Marxismus eine auf den Fortschritt von Wirtschaft und Technik gegründete Neuauflage der christlichen Predigt, daß den Ärmsten, die da dulden, letzten Endes doch der Sieg gehöre. Dieses psychologische Moment entspreche in vorzüglicher Weise dem Nervenleben des Proletariers und lasse es gerechtfertigt erscheinen, Marx so ungleich höher als Lassalle zu stellen wie dies etwa Goethe gegenüber Schiller gebühre. "Wenn einmal aus der gewohnheitsmäßigen Freudlosigkeit, gewohnheitsmäßigen Zwecklosigkeit, gewohnheitsmäßigen Hoffnungslosigkeit des proletarischen Daseins das stumpf apathische Nervenleben sich notwendig entwickelt hatte, so war es kein Geniestück, sondern ein Geniefehler, daß Lassalle diese Stumpfen aufrütteln und noch dazu mit halben Forderungen aufrütteln wollte." Dagegen habe es Marx verstanden, an genau diese proletarische Apathie, Freudlosigkeit und Zwecklosigkeit anzuknüpfen. Er habe es verstanden, Profit und Maschine nicht nur als Werkzeug der Knechtung, sondern zugleich als Werkzeuge der Erlösung erscheinen zu lassen. Er habe sozusagen - Hellpach verwendet das Marxsche Diktum zwar nicht, meint es aber sinngemäß - die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen gebracht, indem er ihnen ihre eigene Melodie vorsang: "Derart aus dem Nervenleben des Proletariers heraus entwickelt, erscheint nun der Marxismus, theoretisch zusammengeleimt, auch wie aus einem Guß zu sein; jenes Nervenleben eben, der tiefste Grund der Proletarierpsyche, ist die unsichtbare Einheit, die seine Dogmen zusammenhält. Es sind zwei Hypothesen, aber es ist ein Glaube." (16)

Dem Scharfsinn, mit dem Hellpach die unbewiesenen und unbeweisbaren, weil eben utopischen Elemente des Sozialismus von der zugrundeliegenden, dialektisch-materialistischen Denkweise sondert, entspricht allerdings kein vergleichbarer Scharfblick für die eigene bürgerliche Position. Die verhängnisvollen Momente der neuen Geistigkeit ab den achtziger Jahren entgehen ihm ebenso wie später die faschistoiden Tendenzen in der Weimarer Republik, der er zeitweilig in führenden politischen Positionen dient. Er glaubt, in einer "konservativen Demokratie" das Heil der bürgerlichen Ordnung suchen zu müssen. Er schwärmt geradezu für die altständische, liberal patinierte Gesellschaft seiner süddeutschen Wahlheimat, für die der Mensch nicht erst beim Reserveoffizier beginnt, sondern jeder ungeachtet seines Standes mit jedem verkehren kann.

Unbelegte Vorwürfe zu Hellpachs Verhalten im Ersten Weltkrieg

Bei der Sanitätskompanie (1914)

In einer Emigrantenzeitschrift wurde Hellpach 1937 vorgeworfen, er habe sich im ersten Weltkrieg vom Chauvinismus mitreißen lassen: "Er verabschiedete, als der Krieg kam, seinen Liberalismus, wurde Hypernationalist, befürwortete extravagante Eroberungsbestrebungen und stellte sich vorbehaltslos in den Dienst der spezifisch preußischen Spielart des Militarismus, des Systems der schneidigen Soldatenschinderei." So habe er zu den Unterzeichnern des Aufrufs "An die Kulturwelt" vom Oktober 1914 gehört, in dem 93 führende deutsche Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler die deutsche Kriegsführung verteidigten und sich vehement gegen die "Lügen und Verleumdungen" verwahrten, "mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten". Da er damals noch nicht sehr prominent gewesen sei, müsse er sich zur Unterzeichnung dieses fatalen Dokuments "geradezu gedrängt haben". (17)

Der Vorwurf klingt zunächst plausibel, wenn man bedenkt, wieviele namhafte deutsche Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler sich damals in den Dienst der Kriegspropaganda stellten. Der "Aufruf an die Kulturwelt" war ein besonders markantes Beispiel für die Haltlosigkeit, mit der auch liberale Geistesgrößen plötzlich dem plattesten Chauvinismus verfielen. Tatsache ist allerdings, daß Hellpachs Name nicht unter den 93 Unterzeichnern zu finden ist, zumal ihm – im Unterschied zu etlichen geistesverwandten Unterzeichnern wie Wilhelm Wundt, Karl Lamprecht oder Friedrich Naumann – in der Tat noch die Prominenz fehlte, um in eine solche Walhalla des deutschen (Un-)Geistes aufgenommen zu werden. Möglicherweise hat man ihn mit einem entfernten Namensvetter (Gustav Hellmann) verwechselt.

Ein weiterer Vorwurf lautete, Hellpach sei als Sanitätsarzt bei den Soldaten gefürchtet gewesen: "Er schrieb Kranke dienstfähig, entließ sie vorzeitig zum Frontdienst und erklärte Front-Untaugliche kriegsdienstverwendungsfähig." Hellpach wurde allerdings nur als "schofeler Unterarzt" zum Sanitätsdienst eingezogen, wie er in seinen Memoiren klagt. In dieser subalternen Stellung konnte er kaum andere Soldaten schikanieren. Erst gegen Ende des Kriegs wurde ihm die Leitung eines Reservelazaretts im Hinterland übertragen und der Titel eines "Oberarztes" verliehen. In dieser Position wäre es ihm zwar möglich gewesen, Kranke dienstfähig zu schreiben und vorzeitig zum Frontdienst zu entlassen. Der Vorwurf entbehrt aber der Konkretisierung. Er wird zu pauschal erhoben, um überzeugen zu können.

Überschätzt wird Hellpachs Stellung auch, wenn ihm vorgeworfen wird, er habe mit einem Gutachten zur Elektroschock-Therapie dem Sanitätskorps die Rechtfertigung geliefert, an der unmenschlichen "Starkstrombehandlung" von kriegsbedingten Nervenleiden im Ersten Weltkrieg festzuhalten. In der Tat hat Hellpach grundsätzlich die Elektroschock-Therapie befürwortet, weil sie die einzige erfolgversprechende Methode gewesen sei, um wenigstens einen Teil der nervenkranken Soldaten kurieren zu können, die infolge ihrer grauenhaften Erlebnisse an der Front zu "Schüttlern" und "Zitterern" geworden waren. Er hat auch Anfang 1918 im Auftrag des XIV. Armeekorps ein entsprechendes Gutachten erstellt. (18) Er verfügte dabei aber nicht über den Einfluß, der ihm nachträglich zugeschrieben wurde. Er scheint vielmehr nur einer von mehreren Nervenärzten gewesen zu sein, die vom Sanitätskorps und der badischen Regierung als wissenschaftliche Hilfstruppe bemüht wurden, um den in der Bevölkerung kursierenden Gerüchten über "Quällazarette" und entsprechenden Nachfragen im Landtag besser begegnen zu können. (19)

Partielle Blindheit gegenüber dem Faschismus

Postkarte zur Reichpräsidentenwahl 1925

Richtig ist allerdings, daß Hellpach nach seiner Trennung vom sozialdemokratischen Revisionismus eine recht systemkonforme Haltung einnahm. Er achtete darauf, im Rahmen jener bürgerlichen Reputierlichkeit zu bleiben, von der seine weitere Karriere abhing. Er war vermutlich auch während des ersten Weltkriegs kein blindwütiger Chauvinist. Aber deutschnationale Tendenzen waren ihm nicht fremd. Und linksliberaler Freisinn verband sich bei ihm mühelos mit konservativen Neigungen. Er trug nicht nur zwei Seelen in seiner Brust, sondern die ganze Bandbreite des politischen Spektrums von linksliberal bis konservativ, wobei ihm die altpreußischen Junker noch sympathischer waren als die nationalliberalen Schlotbarone und Koofmichs, die sich nach dem ersten Weltkrieg in der DVP formierten. Eine klare Grenze zog er lediglich zur Zentrumspartei und zur Sozialdemokratie hin: Als lutheranisch geprägter Freisinniger hielt er den Katholizismus für ein Relikt des Mittelalters, und die Morgenröte der neuen Zeit, welche die Sozialdemokratie ihren Wählern ausmalte, hat er wiederholt als weltliches Heilsversprechen charakterisiert. Zugleich faszinierte ihn aber gerade an diesen beiden Parteien, wie sie Millionen Wähler mit zugkräftiger Ideologie zu binden vermochten, und für den Nuntius Eugenio Pacelli, der dann Papst Pius XII. wurde, hat er geradezu geschwärmt. Das Ergebnis all dieser Widersprüche war dann jenes Konzept einer "konservativen Demokratie", das er erstmals 1921 in der "Vossischen Zeitung" propagierte. Besonders am Ende der Republik von Weimar sah er den Ausweg aus der Krise im Brückenschlag zwischen den "nationalen" und "sozialen" Tendenzen, ohne die Gefahr zu erkennen, die sich gerade unter dieser Losung auf der äußersten Rechten anbahnte. Sicher hielt Hellpach die Nazis für unsympathische Gesellen. Er erlag aber wie andere Zeitgenossen dem fatalen Irrtum, die Hitlerbewegung lasse sich politisch zähmen, einbinden oder sogar instrumentalisieren.

Mit dem italienischen Faschismus und Mussolini arrangierte er sich schon früher: Bedenkenlos folgte er 1932 einer Einladung nach Rom, um auf einer wissenschaftlich-propagandistischen Tagung, der Hermann Göring präsidierte, ein Referat zu halten. "Wenn die geistige Exponenz des Faschismus sich an alte Demokraten wandte, so lag kein Grund vor, ihr die kalte Schulter zu zeigen, nur weil man mit ihren politischen Formen und Methoden nicht eines Sinnes war", meinte er noch nach dem Krieg in seinen Memoiren. Während in Berlin das Kabinett Papen gestürzt wurde und Hitler freie Bahn erhielt, fühlte er sich geschmeichelt, daß seine Frau beim Festbankett neben Mussolini sitzen durfte, weil sie als Gattin eines ehemaligen Ministers und Staatspräsidenten als Ranghöchste der anwesenden Damen galt. (20)

Man darf die blinden Flecke im Wahrnehmungsvermögen Hellpachs sicherlich mit dem unablässigen Streben nach bürgerlich-akademischer Sekurität in Zusammenhang bringen, das den Sprößling des Kleinbürgertums bis ans Lebensende begleitet. Sogar seine bekannte "Geopsyche", in der er feinfühlig die mentalen Auswirkungen von Landschaft, Klima und Wetter untersucht, dürfte dieser Haltung eines ständigen Besorgtseins um das persönliche Ambiente entsprungen sein. Obwohl sein Pantheismus alles andere als kirchengläubig ist, kommt er nie auf den Gedanken, aus der evangelischen Kirche auszutreten. Den unauflöslichen Bund der Ehe respektiert er nicht minder wie die besondere Stellung von Adel und Beamtenschaft. Als badischer Kultusminister suspendiert er den Heidelberger Privatdozenten Gumbel vom Amt, weil dieser über die Toten des Weltkriegs geäußert hatte, sie seien "nun, ich will nicht gerade sagen, auf dem Felde der Unehre gefallen, aber doch auf eine abscheuliche Weise ums Leben gekommen". Den rechtsradikalen Strahlenphysiker Lenard, der die Staatstrauer nach dem Mord an Rathenau demonstrativ mißachtete, läßt er dagegen mit einem Verweis davonkommen. Gleiches geschieht im Fall des deutschnationalen Staatsrechtlers von Marschall, der auf einer Reichsgründungsfeier der Universität Freiburg den amtierenden Reichspräsidenten unter Trampelsalven der studentischen Zuhörer als "Hochverräter" anprangerte. In den Reihen seiner eigenen Partei, der DDP, ist Hellpach nicht unumstritten. Immerhin befand er sich schon in der "Augenblicksversuchung, mich der Deutschnationalen Volkspartei anzuschließen". Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wird ihm zwar der Unterhaltsanspruch aus seinen politischen Funktionen in der Weimarer Zeit gestrichen, ansonsten aber kein Haar gekrümmt. Er darf sogar weiter Vorlesungen über Psychologie halten. Sein Verhältnis zu den braunen Machthabern ist bei aller fraglosen Distanz so loyal, daß er bei Beginn des Zweiten Weltkriegs seine Studie über kriegsbedingte Neurasthenien aus dem Ersten Weltkrieg hervorholt und den Militärs anzudienen versucht. (21)
Hellpach als badischer Staatspräsident mit dem Reichspräsidenten von Hindenburg bei der Einfahrt in Karlsruhe am 12. November 1925

Vor dem Hintergrund dieser dezidierten Bürgerlichkeit wird Hellpachs tiefe Abneigung gegen Franz Mehring verständlich, den er unter dem Pseudonym Ernst Gystrow bereits in jungen Jahren in den "Sozialistischen Monatsheften" attackierte. Mehring, der gleichfalls bürgerlicher Herkunft ist und seinen kenntnisreichen Geist der sozialdemokratischen Linken zur Verfügung stellt, muß ihm geradezu als die Antithese seiner eigenen Existenz erscheinen. Im umgekehrten Verhältnis dazu steht die hohe Wertschätzung, die Hellpach für Gustav Freytag bekundet - für Mehring wiederum "der klassische Dichter der deutschen Bourgeoisie", der es vortrefflich verstanden habe, die "moralische Soße" anzurühren, mit der die nationalliberale Bourgeoisie ihren Profit kredenzt haben wollte.

Ähnlich wie der Historiker Karl Lamprecht, dessen realistischer Ansatz sich in der Mystifizierung der Gegenwart als Zeitalter der Reizsamkeit verflüchtigt und der politisch bei den "Alldeutschen" landet, entrichtet Hellpach seinen Tribut politisch wie wissenschaftlich. Sein ständiger Zwiespalt, die Fassade des Bestehenden durchschauen und doch nicht desavouieren zu wollen, dürfte eine Erklärung für die Fülle höchst persönlicher Begriffsbildungen bieten, von der "Lenksamkeit", die er in jungen Jahren erfindet, bis zur "Hyperthese", mit der er in späten Jahren die Hegelsche Triade von These - Antithese - Synthese zu reformieren gedenkt (22). Allein für die Neufassung seiner "Sozialpsychologie" hat er eigenem Bekunden zufolge mehr als sechzig Begriffsbestimmungen und Wortzusammenstellungen von oft großer Verwickeltheit, Vielschichtigkeit und Dichte erfunden. "Menschenkundig, sehr menschennah, aber eigentlich unhistorisch denkend, verlor er sich zuweilen in Spekulationen", schrieb die "Frankfurter Allgemeine" anläßlich seines Todes im Jahre 1955. (23)

 

Siehe auch "Dialektik des Liberalismus - Anmerkungen zu einem Rundfunkvortrag des DDP-Politikers Willy Hellpach kurz vor Hitlers Machtergreifung"