Udo Leuschner / Zur Geschichte des deutschen Liberalismus |
Inhalt |
Die erste von insgesamt 20 Seiten, auf denen Hellpach seine Ausführungen zum Thema "Liberalismus" niedergelegt hat. Den kompletten Wortlaut können Sie HIER nachlesen.
"Dem Liberalismus geht es heute nicht gut in der Welt". Mit dieser Feststellung beginnt der liberale Politiker Willy Hellpach am 24. November 1931 einen Rundfunkvortrag, der über die "Deutsche Welle" – das gemeinschaftliche Bildungsprogramm der damaligen Rundfunksender – ausgestrahlt wird.
Die einzigen Ausnahmen sieht Hellpach in Frankreich, wo die linksliberalen "Radikalsozialisten" unter Herriot eine maßgebliche politische Rolle spielen, sowie in der Schweiz, wo die eher besitzbürgerlich-konservativen "Freisinnigen" seit Jahren die absolute Mehrheit behaupten. Ansonsten befinde sich "in ganz Europa der Liberalismus in heftigem Niedergang seiner einstigen großen Stellung". In Italien sei er sogar "durch den fascismus völlig vernichtet" worden.
Das eigentliche Thema von Hellpachs Rundfunkvortrag ist allerdings die Situation in Deutschland, wo seine eigene Partei, die DDP, "im Laufe eines Jahrzehnts aus einer starken Partei zu einer winzigen Gruppe zusammengeschrumpft" und auch die rechts davon angesiedelte DVP "zwischen Nationalismus, Sozialismus und Katholizismus ... immer erbarmungsloser zusammengedrückt" worden sei.
Hellpach als badischer Staatspräsident mit dem Reichspräsidenten
von Hindenburg bei der Einfahrt in Karlsruhe am 12. November 1925 |
Es mutet seltsam an, daß Hellpach bei dieser politischen Tour d'horizon zwar den italienischen "fascismus" und auch den "Bolschewismus", nicht aber den deutschen Nationalsozialismus erwähnt, der bei den letzten Reichstagswahlen am 14. September 1930 mit 18,3 Prozent der Stimmen seinen bisher größten Wahlerfolg erzielt hat. Seitdem stellt die NSDAP mit 107 Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion nach der SPD (137). Es folgen das katholische Zentrum mit 87, die Kommunisten mit 77 und die Deutschnationalen mit 41 Abgeordneten.
Das liberale Lager ist dagegen so verkümmert wie noch nie: Die DVP mit ihren 30 Abgeordneten kann ohnehin kaum als liberal bezeichnet werden, da es sich bei ihr eher um eine nationalistisch-rechtsgerichtete Partei des Besitzbürgertums handelt. Und die DDP, die einst in der Nationalversammlung nach Sozialdemokraten und Zentrum die drittstärkste Fraktion stellte, ist inzwischen auf 3,45 Prozent der Wählerstimmen geschrumpft und verfügt nur noch über 20 Abgeordnete im Reichstag.
Dieses Ignorieren des bedrohlich angeschwollenen Nationalsozialismus verweist auf einen blinden Fleck in der Wahrnehmung, den Hellpach mit vielen anderen Politikern seiner Zeit teilt: Er sieht schlicht und einfach nicht, was sich da auf der Rechten zusammenbraut. Er glaubt vielmehr, die Nazis unter "Nationalismus" und "Sozialismus" einordnen zu können – so wie es der Selbstbezeichnung der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei" entspricht, die auch in ihrer Parteifahne das Rot der Arbeiterbewegung mit dem Hakenkreuz der deutschvölkischen Schwärmer kombiniert.
Zur Entschuldigung Hellpachs könnte man anführen, daß die Nazis noch bis vor kurzem eine extremistische Kleinpartei waren. In welche Katastrophe sie Deutschland und Europa stürzen werden, ist schwerlich vorhersehbar. Auch ist nicht auszuschließen, daß die braunen Rabauken eines Tages zivilisiertere Umgangsformen pflegen und sich ins parlamentarische System einbinden lassen werden.
Allerdings ist in Italien, wo der mit Hitler geistesverwandte Mussolini diktatorisch regiert, der "fascismus" schon seit neun Jahren an der Macht. Und nach Hellpachs eigener Feststellung hat dieser den Liberalismus – inklusive aller politischen Freiheiten – "völlig vernichtet". Glaubt er etwa, eine deutsche Variante von Mussolinis Diktatur werde harmloser sein? Nimmt er gar an, der Liberalismus werde in Deutschland zu neuer Blüte gelangen?
Nein, so leicht macht es sich Hellpach nicht: Sein ganzer Vortrag zum Thema "Liberalismus" ist von einer düsteren Grundstimmung durchzogen. Gewiß sieht er noch nicht, wie sich das Unheil im einzelnen entwickeln wird: Die politischen Winkelzüge, die vierzehn Monate später Hitler an die Macht bringen; den grandiosen Fehler, Hindenburg erneut zum Reichspräsidenten zu wählen (den auch er begeht); oder die verhängnisvolle Rolle des auf Brüning folgenden Reichskanzlers von Papen, der mit der Absetzung der preußischen Regierung Braun-Severing offenen Verfassungsbruch verübt.
Hellpach glaubt aber zu wissen, daß die Zeit des Liberalismus abgelaufen sei, und damit auch die einer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung. Vierzehn Monate vor Hitlers Machtergreifung ist sein Rundfunkvortrag zum Thema "Liberalismus" ein einziger Schwanengesang auf die Republik von Weimar. Man kann ihn nicht einmal als Rückzugsgefecht bezeichnen. Er ist ist vielmehr ein Dokument der Resignation, der Selbstaufgabe, ja der Selbstentleibung.
Es beginnt damit, daß einer der bekanntesten Politiker und theoretischen Köpfe des deutschen Liberalismus diesem den Totenschein ausstellt. Wörtlich sagt er:
"Es gilt als "überwunden", liberal zu sein. Ganz besonders die junge Generation mag von diesem Namen und Begriff nichts mehr wissen. Sie hält die liberale Sache für überlebt, für vermodert. Sogar in der demokratischen Partei lehnte die Jugend die Anwendung des Wörtchens "liberal" geradezu mit eine Art Leidenschaft, mit betonter Heftigkeit ab. Allen bündischen Bewegungen ist alles, was mit Liberalismus zusammenhängt, Inbegriff des Überwundenen oder zu Überwindenden. Daß die jungkatholischen und die jungsozialistischen Scharen ähnlich eingestellt sind, ist sozusagen selbstverständlich. Und auch die kleinen Cirkel, die man innerlich als liberal in ihrer Grundauffassung ansprechen darf, vermeiden mit einer gewissen Scheu den Namen und haben farblosere Bezeichnungen vorgezogen. Dem Wort liberal traut man offenbar keine Werbekraft mehr zu."
In der Sache hat Hellpach durchaus recht: Sogar am grünen Holz der DDP wuchert inzwischen der Schimmelpilz der Liberalismus-Verachtung. Deshalb nennt sie sich seit Mitte 1930 auch nicht mehr "Deutsche Demokratische Partei", sondern firmiert als "Deutsche Staats-Partei". Zugleich ging sie ein Bündnis mit den deutschvölkisch-antisemitischen Schwarmgeistern vom "Jungdeutschen Orden" ein, für die der Liberalismus tatsächlich "Inbegriff des Überwundenen oder zu Überwindenden" ist.
Um den Niedergang des Liberalismus zu erklären, bemüht Hellpach die
Hegelsche Dialektik in einer von ihm persönlich modifizierten Form: Im Mittelpunkt
steht dabei die "Hyperthese" als eine Art überreifes Stadium der These
(dieses Denkmodell hat ihn zeitlebens beschäftigt; die hier abgebildete Skizze
entstammt seinem Buch "Beiträge zur Individual- und Sozialpsychologie der
historischen Dialektik", das 1951 erschien).
So richtig fatal wird diese Zustandsbeschreibung des deutschen Liberalismus aber erst dadurch, daß Hellpach sie als quasi naturgesetzliche Entwicklung empfindet, die aufzuhalten so hoffnungslos wäre wie das Pusten gegen den Wind. Er stürzt sich sogar in erhebliche geistige Unkosten, um zu begründen, weshalb sich der Liberalismus auf dem absteigenden Ast befinde. Gut die Hälftes seines dreiviertelstündigen Vortrags widmet er seiner ganz persönlichen Hegel-Interpretation, die dem dialektischen Dreischritt von These, Antithese und Synthese noch die "Hyperthese" hinzufügt. Darunter versteht er eine Art überreifes Stadium der These, das den dialektischen Prozeß verdoppelt. Er sieht den Liberalismus in diesem Stadium der Hyperthese angelangt. Das heißt aber nichts anderes, als daß sich der Liberalismus in seiner herkömmlichen Gestalt endgültig überlebt habe, während den neuen Bewegungen des Nationalismus und Sozialismus als Antithese zum Liberalismus die Zukunft gehöre.
Zunächst begnügt sich Hellpach damit, die vertraute Dialektik ins Gedächtnis zu rufen, wie sie der gebildete Rundfunkhörer von Marx und Hegel kennt:
"Es ist das dialektische Fortschreiten über sich selber hinaus, das auch der Liberalismus an sich erfahren mußte – was heißt das aber? – Es heißt, daß, nach Hegels Lehre, jede These des Geistes eine Antithese erzeugt, mit der sie sich unter langem Ringen endlich zu einer Synthese verbindet, wodurch sie selber überwunden wird. In diesem Sinne haben ja die an geschichtlicher Tragweite bedeutendsten Hegeljünger, Marx, Engels und Lassalle, die Begründer des systematischen Sozialismus, den Kapitalismus als These, die proletarische Arbeiterbewegung als die dadurch provozierte Antithese gelehrt: der verwirklichte Sozialismus stellt dann die künftige Synthese dar, in der alle technischen Vervollkommnungen und Großartigkeiten des Kapitalismus bewahrt und gesteigert werden sollen, während die kapitalistische Ertragsverteilungsform sozialistisch überwunden wird."
Postkarte zur Reichpräsidentenwahl 1925 |
Nun versteht sich Hellpach allerdings nicht als Sozialist. Es ist lange her, daß er in seinen jungen Jahren unter dem Pseudonym Ernst Gystrow für die "Sozialistischen Monatshefte" schrieb. Aus dem jungen, kritischen Geist, der wider den Stachel des wilhelminischen Obrigkeitsstaates löckte, ist inzwischen ein angepaßter, auf seine Karriere bedachter Professor und Politiker geworden, der es zwischendurch sogar zum badischen Minister und Staatspräsidenten gebracht hat. Schon deshalb geht es für Hellpach nicht an, die Hegelsche Dialektik im Sinne von Marx zu interpretieren und den Liberalismus vom Sozialismus ablösen zu lassen. Er modifiziert sie vielmehr mit seiner persönlichen Erfindung der "Hyperthese" und paßt sie dadurch der politischen Situation an, die offenkundig ebenso vom Nationalismus wie vom Sozialismus in allen ihren jeweiligen Schattierungen geprägt wird:
"In Wirklichkeit freilich vollzieht sich der dialektische Prozeß wesentlich verwickelter, als Hegel und seine damaligen Jünger es gemeint haben, und es wird die größte und schönste Aufgabe der neu erwachten Hegelbewegung sein, in diese verzweigtere Wirklichkeit der dialektischen Einzelvorgänge in der Geschichte ein- und vorzudringen. Wir müssen uns hier mit einer knappen Andeutung begnügen, die uns aber das tatsächliche Schicksal des Liberalismus ebenso überraschend widerspiegelt, wie sie uns lehrt, es als ein notwendiges Schicksal zu begreifen."
Dieses "tatsächliche" und "notwendige Schicksal" sieht nach Hellpachs Worten so aus, daß der Liberalismus nur noch in einer vagen, fast schon metaphysisch anmutenden Form weiterleben werde, die aber insofern "unvergänglich" sei, als sie einem menschlichen Ur-Bedürfnis nach persönlicher Freiheit und Entfaltung entspreche:
"Fast keinem Menschen fehlt dieser Freiheitstrieb ganz, für irgendeinen Bezirk des Lebens existiert er in jedem von uns, sogar in sonst despotischen Naturellen oder in Konventionsmenschen – irgendwo lechzt ihr Innerstes nach Freiheit, sei es in der Liebe, oder der Freundschaft, oder in gewissen Liebhabereien, oder in der Kunst, oder im Glauben, selbst in Schrullen oder Spleenen, als sogenannte Narrenfreiheit. Der Freiheitsdrang ist gewiß nicht der einzige menschliche Antrieb, andere stehen ihm gegenüber, die ihm genau entgegengesetzt sind, aber er ist ein menschlicher Urtrieb von unausrottbarer Existenz, er ist immer wieder hervorgebrochen, mochte er auch noch so lange gefesselt oder verschüttet gewesen sein. In irgend einem Winkel unserer Seele sind und bleiben wir alle freigeboren, und das heißt wörtlich: liberal, denn das lateinische Wort "liberalis" ist die Bezeichnung für alles, was mit der Freigeborenheit eines Menschen zusammenhängt. Insofern gibt es in der Menschheit ein Ewigliberales, das nicht vernichtet werden und nicht überlebt werden kann."
Keine Überlebenschance gibt Hellpach dagegen der "zeitweiligen" Gestalt, die der Liberalismus als bestimmende politische Kraft von der Aufklärung im 18. Jahrhundert bis zur Eroberung von Parlamenten und Regierungen im 19. Jahrhundert angenommen hat – bei aller Anerkennung von dessen historischen Leistungen:
"Als so geartete Bewegung hat der Liberalismus an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert seine gewaltige, weltgeschichtliche Sendung vollzogen in Gestalt des Abbaus oder Umbaus, der Zertrümmerung oder Auflösung der großen despotischen, feudalen, zünftigen Bindungen und Gewaltsysteme, der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Herrschafts- und Wirtschaftsformen, des Feudalismus, Corporativismus und Absolutismus."
Dieses Lob des Liberalismus als Zertrümmerer der alten feudalen Ordnung könnte ebenso von einem marxistischen Theoretiker stammen. Man merkt, daß der junge Hellpach nicht nur Hegel, sondern auch Marx/Engels und das "Kommunistische Manifest" gelesen hat. Aber ganz anders als die Sozialdemokraten, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur wegen der "sozialen Frage" vom linksliberalen Lager abgespalten haben, hält der "gereifte" Hellpach die Demokratie für eine potentielle Bedrohung der persönlichen Freiheit. In seiner eigenwilligen Hegel-Adapation ist es gerade der "entschiedene Liberalismus" – also der Linksliberalismus nach Art der französischen Radikalsozialisten oder auch der deutschen DDP zu ihren besten Zeiten – , der dem Liberalismus langfristig den Garaus macht: Er führe nämlich zu einer Demokratie, die "persönliche Freiheit" durch "Gleichheit" ersetze. Da sich aber auch Nationalismus, Sozialismus oder Katholizismus mehr oder weniger "demokratisieren" würden, könne sich der Liberalismus in dieser "hyperthetischen" Form nicht länger behaupten und falle den neuen Strömungen zum Opfer:
"Jede Bewegung, jedes Erreichte in der Weltgeschichte führt nämlich zu einer doppelten Überwindung von sich selber, nicht bloß zu einer einfachen; gelehrt können wir auch sagen, jede These schafft als Widerpart zu sich nicht bloß eine Antithese, sondern auch eine Hyperthese. Was heißt, am Liberalismus verdeutlicht: Die Verwirklichung des Liberalismus prellt erstens über ihr eigenes Ziel hinaus. Sie übersteigert ihren eigenen Grundgedanken und wird damit zu ihrem eigenen Widersacher; in diesem Sinne ist die Demokratie die eigentliche Hyperthese des Liberalismus, denn sie ist erst einmal seine stärkste Steigerung – sogenannter "entschiedener Liberalismus" und Demokratie decken sich eine Zeitlang – aber sie wird durch die immer freiheitlicheren Einrichtungen, die sie schafft, endlich zum Totengräber der individuellen Freiheit; um vermeintlich die persönliche Freiheit bis ins Kleinste hinein sicherzustellen, wird die Freiheit allmählich immer mehr durch Gleichheit ersetzt, bis sie immer vollkommenere, immer algebraischere Gleichheit – zum Beispiel im gleichen Wahlrecht und gar im Proportionalwahlsystem – immer mehr die individuellen Besonderheiten auslöscht, deren freie Entfaltung doch gerade ein Hauptstück in der Herstellung wirklicher Freiheit sein sollte."
Hellpach meint das durchaus ernst, so seltsam es für heutige Ohren klingen mag, für die Liberalismus und Demokratie untrennbar zusammengehören und für die das gleiche Wahlrecht so selbstverständlich ist wie das Proportionalwahlsystem. Übrigens ist dieses demokratische Wahlrecht, das nach Hellpachs Ansicht "immer mehr die individuellen Besonderheiten auslöscht", zum Zeitpunkt seines Rundfunkvortrags bereits seit zwölf Jahren gültige Praxis und in Artikel 22 der Weimarer Verfassung verankert. Und auch im heutigen Deutschland verdankt es gerade die FDP – die sich genauso pauschal wie irreführend als Vertreterin des Liberalismus ausgibt – dem von Hellpach als Gleichmacherei kritisierten Proportionalwahlrecht, daß sie überhaupt im Bundestag vertreten ist (andernfalls hätte sie innerhalb von fünfzig Jahren gerade mal einen einzigen Sitz errungen). Hellpach polemisiert hier also gegen einen Grundpfeiler der Weimarer Verfassung, an deren Ausarbeitung die DDP von allen Parteien den größten Anteil hatte, indem er ihn als tendenziell anti-liberale Errungenschaft charakterisiert.
Plakat zur Reichpräsidentenwahl 1925 |
Die von Hellpach vorgenommene Entgegensetzung von Liberalismus und Demokratie ist aber im Grunde nichts neues. Sie gehört seit jeher zum Selbstverständnis eines besitzbürgerlichen Liberalismus, der vor nichts mehr Angst hat als vor mehr persönlicher Freiheit für die Benachteiligten, weil sich die nun mal nicht ohne soziale Umverteilung erreichen läßt. Schon im Kaiserreich waren sich in dieser Hinsicht die Nationalliberalen und die Freisinnigen, ungeachtet ihrer sonstigen politischen Gegensätze, ziemlich einig. Nachdem der "vierte Stand" der Arbeiterschaft aus dem linksliberalen Lager ausgeschert war, verlor der Begriff "liberal" deshalb einen guten Teil seiner ursprünglichen politischen Implikationen und wurde fast zum Synonym für "bürgerlich". Und wer heute Blätter wie die "Frankfurter Allgemeine" mit aufmerksamen Augen liest, merkt sehr schnell, daß hier noch immer eine spezifisch besitzbürgerliche Form des Liberalismus gegen "Sozialneid" und ähnliche demokratische Zumutungen zu Felde zieht.
Hellpach will nun aber nicht etwa den Niedergang des Liberalismus als Folge seiner „hyperthetischen“ Überspitzung in der Demokratie abwenden oder durch die Abwehr solcher demokratischer Tendenzen möglichst lange hinausschieben. Im Gegenteil: Als Hegelianer weiß er, daÛ es vergebliche Mühe wäre, dem Weltgeist ins Handwerk pfuschen zu wollen. Wenn ihm etwas imponiert, dann ist es das unaufhaltsame Vordringen der „Demokratisierung“, die keineswegs nur vom Liberalismus vorangetrieben werde, sondern auch dessen Widersacher erfasst habe, ob sie nun progressiver oder konservativer Natur seien:
"Jede der beiden Gegenkräfte hat wenigstens teilweise sich schon mit der Demokratie verbündet: der Sozialismus in Gestalt der Sozialdemokratie, der Konservatismus vor allem auf dem Boden des Centrums, als katholische Demokratie, aber in der weiteren Entwicklung dürften auch die nationalistischen Erscheinungsformen des Konservatismus und Sozialismus sich wesentlich demokratisieren; mit anderen Worten, die Hyperthese des Liberalismus, die Demokratie, wird von seinen beiden Antithesen, Konservatismus und Sozialismus gleichsam aufgesogen, und das nächste Binom steht in der Alternative vor uns, ob ein demokratisierter Sozialismus oder ein demokratisierter Nationalismus die Oberhand gewinnt."
Während der Liberalismus ohnehin zum Untergang verurteilt ist, erhebt sich für Hellpach somit nur noch die Frage, welcher seiner wichtigsten „antithetischen“ Widersacher nun die Oberhand gewinnt: Ein "demokratisierter Sozialismus" oder ein "demokratisierter Nationalismus". Darunter ließe sich auf der einen Seite die SPD, auf der anderen das deutschnationale Lager von DVP und DNVP verstehen. Freilich sind das keine geschichtsmächtigen Kräfte mehr: Die SPD hat seit dem Ende des ersten Weltkriegs ihren linken Flügel verloren und ist zur Partei des Status quo geworden, während das national-bürgerliche Lager seine Anhänger nun an die Nationalsozialisten zu verlieren beginnt. Man darf deshalb getrost Kommunismus und Faschismus als die eigentlich geschichtsmächtigen Kräfte unterstellen, auf die Hellpachs Erwartung zielt. Zum Schluß seines Vortrags äußert er sogar explizit die Erwartung, daß sowohl Faschismus als auch Bolschewismus im Interesse ihrer Selbsterhaltung auf eine Prise Liberalismus nicht verzichten könnten. Er empfiehlt den Liberalismus gewissermaßen als eine Art Vitaminspritze für politische Systeme jeder Art, um vorzeitige Sklerose zu verhindern. Insofern ist es ihm auch nicht allzu bange, wenn nun die "deutsche Staatsschiffahrt" von den Nationalsozialisten geentert und auf stürmischen Kurs gebracht wird:
"Nationalismus, Katholizismus, Sozialismus, ja selbst fascismus und Bolschewismus, ob sie es wahrhaben oder nicht, brauchen in ihren Organismen das Vitamin liberaler Haltung zum Dasein, wenn sie nicht an ihrer eigenen Übersteigerung vorzeitig zugrunde gehen, sozusagen im eigenen Fett ersticken sollen. Oder um es in einem anderen Bilde auszudrücken: Auch für den Kurs, der von seinen Küsten wegsteuert, bleibt der Liberalismus vielleicht ein winziges, und doch wichtiges Blinkfeuer hinaus in Nacht und Sturm, die gerade unsere deutsche Staatsschiffahrt wie selten zuvor umdunkeln und umwettern."
Rückblickend mag diese Erwartung eines „demokratisierten“ Faschismus oder Bolschewismus naiv erscheinen. Wir befinden uns jedoch im Jahr 1931. Und unter "Demokratie" versteht Hellpach etwas anderes als nur Parlamentarismus mit gleichem Wahlrecht. Soeben ist auch in deutscher Übersetzung "Der Aufstand der Massen" erschienen, in dem der Spanier Ortega y Gasset in ähnlicher Weise wie Hellpach eine umfassende, geradezu brutale Demokratisierung aller Lebensverhältnisse diagnostiziert. "Die alte Demokratie wurde durch eine kräftige Dosis Liberalismus und Verehrung für das Gesetz gemildert",heißt es hier zum Beispiel. "Heute wohnen wir dem Triumph einer Überdemokratie bei, in der die Masse direkt handelt, ohne Gesetz, und dem Gemeinwesen durch das Mittel des materiellen Drucks ihre Wünsche und Geschmacksrichtungen aufzwingt. (…) Ich bezweifle, daÛ es noch eine geschichtliche Epoche gegeben hat, in der die Masse so umweglos regierte wie in unserer Zeit. Darum spreche ich von einer Hyperdemokratie."
Genau das ist auch der Demokratie-Begriff Hellpachs. Ähnlich Ortega y Gasset sieht er ein neues Zeitalter heraufziehen, in dem die Massen direkt handeln, notfalls ohne Gesetz, und ihren politischen Willen durch charismatische Führerpersönlichkeiten vollstrecken lassen, statt sich auf farblose Parteipolitiker mit ihrem parlamentarischen Geschacher und Gezänk zu verlassen. Schon 1921, kurz nach seinem Beitritt zur DDP, hat Hellpach in diesem Sinne in der "Vossischen Zeitung" das Konzept einer "konservativen Demokratie" propagiert, bei der die Staatsführung über der Parteien Hader schwebt und sich nicht auf die jeweilige Parlamentsmehrheit stützt, sondern direkt vom Wahlvolk bestätigen läßt. Auch die zeitweilige wirtschaftliche und politische Stabilisierung der Republik von Weimar konnte ihn nicht davon abbringen, in einer 1927 erschienenen Schrift über "Die Krisis des deutschen Parlamentarismus" eine "Radikalkur" zu fordern, die das Wahlsystem zugunsten autoritärer, aber durch die Unterstützung der breiten Massen demokratisch legitimierter Führungspersönlichkeiten verändert: "Das System ist unpolitisch: es entrechtet die politische Leidenschaft zugunsten des Schachers und der Schrulle, und es düpiert die politische Masse in bezug auf ihre Vertreter und Führer: indem sie genötigt wird, für Menschenklumpen statt für Menschen zu stimmen, wählt sie solche Menschen, die sie nie hat wählen wollen." Er plädierte sogar für den Rückbau des demokratischen Wahlrechts zugunsten eines ständisch verfassten Parlaments, bei dem nur noch ein einflußloses "Oberhaus" von Kreti und Pleti gewählt wird, während die wirklich gesetzgebende Gewalt bei berufsständischen Korporationen liegt: "Ich kann mir eine Zukunft denken, der die Demokratie des gleichen Stimmrechts das mehr Historische, das Vorige, das Konservative bedeuten wird gegenüber den herandrängenden Kräften und Formwirbeln einer neuen, berufsständischen Volkssschichtung – und dann wird sie zu diesem Jungen ins natürliche Verhältnis des Oberhauses treten. Aber das ist politische Zukunftsmusik!"
Stimmenverteilung bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919
und bei den folgenden acht Reichstagswahlen bis 1933 im zeitlichen Verlauf der Republik
von Weimar (für nähere Angaben HIER klicken)
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Man versteht nun, weshalb Hellpach gegenüber dem Nationalsozialismus eine passive, resignative und fast versöhnlich anmutende Haltung einnimmt: Er sieht in ihm nicht den Todfeind des Liberalismus, sondern eher dessen Überwinder und Erben, dem es sogar gelingen könnte, neben dem Nationalismus auch den Sozialismus zu integrieren und sich bei alledem zu "demokratisieren". Er sieht im Nationalsozialismus eine zwar überspitzte und wegen ihres politischen Raubaukentums unsympathische, aber doch legitime und zukunftsträchtige Form des Nationalismus und Sozialismus. Deshalb wird die zweitstärkste politische Kraft im Reichstag in seinem Rundfunkvortrag auch gar nicht erwähnt, sondern stillschweigend unter Nationalismus und Sozialismus rubriziert. Ebenso versagt er er sich die naheliegende Parallele zwischen Hitler und Mussolini. Stattdessen spricht er in affektierter Weise vom "fascismus", als wolle er die Unvergleichlichkeit und Unübertragbarkeit des italienischen Modells betonen, obwohl schon damals die Bezeichnung der Nationalsozialisten als "Faschisten" gang und gäbe war.
Als Hellpach seinen Rundfunkvortrag hält, ist er übrigens schon seit einem Jahr nicht mehr Mitglied der DDP. Sein Reichstagsmandat hat er bereits im Frühjahr 1930 niedergelegt. Sein Rundfunkvortrag dürfte unter anderem den Zweck verfolgen, diesen Rückzug aus der Politik zu rechtfertigen.
Ob er bei den folgenden Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 wenigstens noch die DDP bzw. "Deutsche Staats-Partei" gewählt hat? – Es ist nicht anzunehmen. Vermutlich hat er für die Deutschnationalen votiert, denen er sich schon früher mal in einer "Augenblicksversuchung" anschließen wollte. Die verloren zwar ebenfalls an die NSDAP, die nunmehr mit 33,1 Prozent der Stimmen nicht nur das Zentrum (15,7 Prozent) überrundete, sondern auch die SPD (21,6 Prozent) weit abgeschlagen hinter sich ließ. Mit 5,9 Prozent schnitt die DNVP aber noch immer weit besser ab als die DVP mit 1,2 und die DDP mit 1 Prozent. Von den 5,6 Millionen Stimmen, welche die DDP bei den Wahlen zur Nationalversammlung auf sich vereinen konnten, blieben jetzt noch ganze 371 799 übrig.
Wenn man Hellpachs Vortrag zum Thema "Liberalismus" liest, versteht man besser, weshalb am Ende der Republik von Weimar die meisten Wähler der bürgerlich-liberalen Parteien zu Hitlers NSDAP überliefen: Die Agonie des Liberalismus und der Republik wurde nicht von außen verursacht. Sie kam von innen. Es war nicht so sehr der Ansturm der Nationalsozialisten oder die ebenfalls stark demagogische Agitation der KPD, was die Republik zusammenbrechen ließ. Es war eher ihre eigene Schwäche, die Schwäche der sie tragenden Kräfte, die sie dem braunen Ansturm erliegen ließ. Die wenigsten der früheren Anhänger von DDP, DVP und Deutschnationalen, die Anfang der dreißiger Jahre massenhaft ins braune Lager wechselten, werden sich dabei in solche geistigen Unkosten gestürzt haben wie Hellpach. Aber gerade deshalb läßt sich an diesem Rundfunkvortrag eines prominenten linksliberalen Politikers darstellen, wie morsch die politisch-geistige Substanz der Republik war.
Letzte Seite des Rundfunkvortrags, den Hellpach mit dem Satz schließt: "Auch für den Kurs, der von seinen Küsten wegsteuert, bleibt der Liberalismus vielleicht ein winziges, und doch ein wichtiges Blinkfeuer hinaus in Nacht und Sturm, die gerade unsere deutsche Staatsschiffahrt wie selten zuvor umdunkeln und umwettern."