Dienerin dreier HerrenDie Psychologie zwischen zweckfreier Erkenntnis, Herrschaftswissen und IdeologieMan kann im Zweifel darüber sein, ob bei der Abnabelung der Psychologie von der Philosophie und ihrer Etablierung als eigenständiger Wissenschaft der zweckfreie Erkenntnisdrang, der erwartete praktische Nutzen oder vielmehr die ideologische Funktion einer vom Verdacht der Metaphysik befreiten Tochter der Philosophie ausschlaggebend war. Betrachtet man die recht mageren Ergebnisse der naturwissenschaftlich-experimentellen Psychologie, möchte man der letzteren Auffassung zuneigen. Der amerikanische Psychologe William James resümierte 1892, daß die Psychologie "noch keine Wissenschaft, sondern nur die Hoffnung auf eine Wissenschaft" darstelle. Sie befinde sich augenblicklich im Zustand der Physik vor Galilei und der Chemie vor Lavoisier. Die Psychologie sei also eher Metaphysik als Physik und gleiche mehr der Alchemie als der Chemie. "Wie sie heute vor uns steht, datiert die Psychologie aus den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in denen nahezu alle Themen anklangen, mit denen wir uns heute noch beschäftigen", konnte Peter R. Hofstätter in der Einleitung seines 1957 veröffentlichten Psychologie-Lexikons feststellen (6). An diesen Befunden hat sich, trotz aller psychologischen Theorien und einer immensen Flut von psychologischer Literatur, bis zum 21. Jahrhundert nicht viel geändert. Das "Joch des Provinzialismus" hat die Psychologie seit Wundt nicht abschütteln könnenAls das eigentliche Geburtsdatum der modernen Psychologie gilt das Jahr 1879, in dem Wilhelm Wundt an der Universität Leipzig das erste psychologische Laboratorium gründete. Die Erwartung, mit mathematisch-experimentellen Methoden die Psychologie den Naturwissenschaften annähern zu können und ähnlich erfolgreich zu machen wie Medizin, Physiologie oder Biologie, erfüllte sich aber nicht. Das "Joch des Provinzialismus", das auch der russische Psychologe S. L. Rubinstein beklagte (1), ermöglichte der Psychologie bis auf weiteres ein nur sehr bescheidenes Dasein innerhalb der naturwissenschaftlich orientierten Forschung und Lehre. Um so stärker trat dafür ihre ideologische Funktion hervor. Deutlich wird dies bereits in der Gestalt Wilhelm Wundts, dessen psychologisierende Lebensphilosophie vermutlich größeren Einfluß auf die Gesellschaft seiner Zeit ausübte als die psychologischen Experimente seines Laboratoriums. Die Psychologie, die sich in der Person Wundts von der Philosophie löste und wohl auch lösen mußte, um überhaupt noch eine Chance als Wissenschaft zu haben, diente jedenfalls von vornherein nicht nur zweckfreier Erkenntnis. Sie sollte Mittel und Wege aufzeigen, um das Bewußtsein von Individuen und Kollektiven besser beeinflussen zu können. Sie sollte also praktische Beiträge zur Herrschaftssicherung liefern. Sie besorgte diese Aufgabe aber auch - ganz unmittelbar - als wissenschaftlich drapierte Ideologie, indem sie zum Beispiel gesellschaftliche Probleme individualisierte oder objektive Ursachen von Problemen in solche angeblich psychischer Natur umdeutete. Le Bons "Psychologie der Massen"Das beste Beispiel für diesen doppelten Aspekt der Psychologie bietet die 1895 erschienene "Psychologie der Massen" von Gustave Le Bon. Dieses Standardwerk der Demagogenkunst reflektierte die politische Szenerie Frankreichs, der politisch labilsten Großmacht Europas, und verallgemeinerte die Erfahrungen der französischen Bourgeoisie aus den vorangegangenen Erscheinungen des Bonapartismus und Boulangismus. Le Bon erteilte praktische Ratschläge, wie die "Massen", die er als leichtgläubig, dumm und von starken Führerpersönlichkeiten abhängig schildert, zu beeinflussen seien. Er stützte sich dabei auf Werke seines Landsmannes Gabriel Tarde ("Die Gesetze der Nachahmung", 1891; "Die soziale Logik", 1894) und des Italieners Scipio Sighele ("Die verbrecherische Masse", 1892). Indem Le Bon die Volksmassen zum primitiven, träg-passiven oder unberechenbar-berserkerhaften Pöbel stilisierte, erfüllte seine "Psychologie der Massen" aber auch ideologische Funktion. Sie war eine Apologie der bestehenden Eliten (2). Die sogenannte Psychoanalyse, die wenig später entstand, hat kräftig von Le Bon abgekupfert. In seiner Schrift über "Massenpsychologie und Ich-Analyse" (1920) orientierte sich Sigmund Freud weitgehend an "dem zu Recht berühmt gewordenen Buch von Le Bon". Er stellte fest, daß die Ausdrücke Le Bons - der etwa auch den Begriff des "Unbewußten" verwendete - "mit den Grundvoraussetzungen unserer -Tiefenpsychologie in guter Übereinstimmung stehen". Auch Adolf Hitler hat - bewußt oder unbewußt - Le Bons Thesen übernommen und für seine Zwecke zurechtgestutzt: Was er in "Mein Kampf" über die optimale Beschaffenheit von Propaganda (3), über die suggestiven Vorteile der Rede gegenüber der Schrift (4) oder die Notwendigkeit von Massenversammlungen (5) schreibt, liest sich wie ein Aufguß der "Psychologie der Massen". Aber selbst dort, wo Le Bons Rezepten eine gewisse Wirksamkeit nicht abgesprochen werden konnte, hatten sie mit empirischer Wissenschaft wenig zu tun. Sie wirkten eher wie ein Nachtrag zu Macchiavellis "Il Principe" für den Gebrauch im demokratischen Zeitalter. Sie atmeten den Zeitgeist des Bonapartismus und enthielten viele Klischeevorstellungen, die noch heute durch die Köpfe geistern. Ihr großer Erfolg dürfte mehr einer massenhaft verbreiteten Ideologie der Massenverachtung als dem praktischen Gebrauchswert zu verdanken gewesen sein. Heute sind sie vor allem historisch aufschlußreich: Sie bezeugen, daß die Personalisierung und Emotionalisierung von Politik weder eine Erfindung amerikanischer Wahlkampfstrategen noch eine Erscheinung unserer Tage ist. Behandlung von KriegsneurosenZu den ersten, die ein praktisches Interesse an der Psychologie bekundeten, gehörten die Militärs. So nahmen am 5. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1918 in Budapest offizielle Vertreter der deutschen, österreichischen und ungarischen Regierung teil, um Erkenntnisse über die Behandlung von "Kriegsneurosen" zu gewinnen. Es war die Rede davon, in verschiedenen Zentren psychoanalytische Kliniken zur Behandlung solcher Fälle einzurichten. Der Zusammenbruch der Mittelmächte durchkreuzte das Vorhaben. Sigmund Freud, der sich von einer Verwirklichung dieser Pläne das Ende aller finanziellen Sorgen hätte erhoffen können, schrieb daraufhin enttäuscht seinem ungarischen Freund Ferenczi: "Unsere Analyse hat eigentlich auch Pech gehabt. Kaum daß sie von den Kriegsneurosen aus die Welt zu interessieren beginnt, nimmt der Krieg ein Ende u. wenn wir einmal eine Quelle finden, die uns Geldmittel spendet, muß sie sofort versiegen." (7) Der Hauptgrund für die intensive Befassung mit den Kriegsneurosen war nicht etwa die Fürsorge für die Opfer. Es ging vielmehr darum, ein abschreckendes Krankheitsbild zu beseitigen, das überall vom unerhörten Grauen des Schlachtfelds kündete und deshalb die Zivilbevölkerung zu demoralisieren drohte. "Die Kriegsneurosen nahmen einen erschreckenden Umfang an", berichtet der Psychologe Willy Hellpach, der selber ein Nervenlazarett leitete, "die 'Schüttler' und 'Zitterer' wurden zu einem grausigen Straßenschauspiel, das die Bevölkerung fast mehr noch als die Amputierten, die Blinden und die im Antlitz Entstellten erregte; man suchte fieberhaft nach kundigen Nervenärzten, um dieser psychischen Seuche Herr zu werden." - Die erfolgversprechendste Therapie fanden die Militärärzte schließlich, indem sie die Schüttler und Zitterer mit starken Stromstößen traktierten. Diese Tortur führte allerdings zu "Wehgeschrei des Kranken, als ob ein Schwein oder Kalb geschlachtet würde". In der Bevölkerung verbreiteten sich bald wilde Gerüchte über die "Quäl-Lazarette", in denen die Kriegsneurotiker mit Elektroschocks behandelt wurden (8). Psychologie als Philosophie-ErsatzBlieb die Psychologie von ihrer praktischen Nutzanwendung her zunächst unbedeutend, so übten psychologische Theorien und psychologisierende Betrachtungsweisen eine um so größere Wirkung aus. Die Psychologie wurde zu einer Ersatz-Philosophie, in gröberen Formen auch zu einer Ersatz-Religion. Vor allem entstanden eine Fülle psychologisierender Geschichtsschreibungen, in denen historische Prozesse, die allenfalls einer soziologischen Betrachtung zugänglich sind, auf individualpsychologischer Ebene erklärt wurden. Diesem Strickmuster verdankten zum Beispiel die Biographien Emil Ludwigs ihren enormen Erfolg. Der heute fast völlig vergessene Ludwig war einer der bekanntesten Publikumsautoren der Zwischenkriegszeit und galt vor allem im Ausland als repräsentativer Vertreter des Geistes der Weimarer Republik. Unter anderem hat Ludwig aus der von Geburt an verkrüppelten Hand Wilhelms II. einen kaiserlichen Minderwertigkeitskomplex abgeleitet, der im Wege seiner Überkompensierung in die imperialistische Außenpolitik des Deutschen Reichs gemündet habe. - Sicher ein individualpsychologisch bedeutsamer Faktor, der jedoch nicht die gesellschaftlichen Faktoren ersetzen und verdrängen darf, die letzten Endes entscheidend zum Kriegskurs des Deutschen Reiches und der anderen europäischen Großmächte führten. Lamprechts "Psychisierung der Wirtschaftsstufen"Die Neigung zum Psychologisieren wuchs vor allem dort, wo reale Ursachen und materielle Zusammenhänge nicht offen benannt werden durften. In gutes Beispiel dafür bietet der deutsche Kulturhistoriker Karl Lamprecht: In seiner "Deutschen Geschichte der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart" (1911) verwandte er ganze Kapitel auf die "Psychisierung der Wirtschaftsstufen" oder die "Psychologie der freien Unternehmung". Lamprecht erklärte den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit aus einem "Trieb zur Lebenserhaltung an sich". Es sei ein "im Grunde doch sehr einfacher seelischer Vorgang", der die Wirtschaftsepochen der Menschheit miteinander verbinde, nämlich die mit steigender Kultur wachsende "psychische Spannung zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung, zwischen Begierde und Genuß" (10). Gerade Lamprecht, der wie kaum ein anderer die Entwicklung der Produktivkräfte und deren Bedeutung für den gesellschaftlichen Wandel kannte, hätte es besser wissen können. Andererseits machte er im Vorwort seines Werkes kein Hehl daraus, daß er den "Umschlag zum Idealismus" seit langem "ersehnt" und "vorhergesagt" habe (11). Sein Versuch, dem historischen Materialismus der inzwischen mächtig erstarkten Arbeiterbewegung ein psychologisierendes, idealistisches Geschichtsverständnis entgegenzusetzen, wird damit offenkundig. Ganz unverhohlen bestätigte diese Absicht Wilhelm Wundt in einem 1915 veröffentlichten Gedenkblatt für den verstorbenen Historiker: Lamprecht habe "vielleicht mehr als irgendein anderer Historiker im Gegensatz zur Marxistischen Geschichtstheorie die Überzeugung vertreten, daß es schließlich die geistigen Mächte sind, die die Welt und die vor allem die Geschichte regieren" (12). Man darf allerdings bezweifeln, ob Lamprecht von Anfang an freiwillig die Überzeugung vertreten hat, daß letzten Endes die geistigen Mächte die Geschichte regieren. Man muß dazu wissen, daß Lamprecht wegen seiner kulturhistorischen Betrachtungsweise heftig angefeindet wurde. Sein Versuch, Geschichte nicht als Abfolge von Kriegen, Persönlichkeiten und politischen Geschehnissen, sondern aus der Veränderung des materiellen Unterbaues einer Gesellschaft zu erklären, war seinerzeit revolutionär. Er begründet die einzigartige Stellung dieses Historikers innerhalb der zeitgenössischen Geschichtsschreibung. Von den Schulhistorikern wurde Lamprecht verfemt und zum Außenseiter gestempelt. Sie bezichtigten ihn des historischen Materialismus und sahen in ihm einen Schüler von Karl Marx. Zumindest galt er ihnen als "Irrlehrer" (Friedrich Meinecke), der "westliche" demokratisch-liberale Tendenzen vertrete. Solche Vorwürfe mußten für einen Mann wie Lamprecht die Existenzvernichtung bedeuten. Er verdankte nämlich seine steile akademische Laufbahn der Protektion durch den rheinischen Großkapitalisten Mevissen und den preußischen Kulturdezernenten Althoff. Dank dieser Protektion erhielt er, gegen den Widerstand der etablierten Geschichtswissenschaftler, seine Lehrstühle in Bonn, Marburg und Leipzig. Nach dem Willen seiner Gönner sollte er sogar als Nachfolger des preußischen Hofhistorikers Treitschke nach Berlin berufen werden. - Die Verdächtigung, ein geistiger Kumpan der Sozialdemokratie zu sein, mußte sich auf seine Karriere tödlich auswirken. Insofern nimmt es überhaupt nicht wunder, daß Lamprecht "mehr als irgendein anderer" die Rolle der geistigen Mächte in der Geschichte betont hat. Er konnte gar nicht anders, wenn ihm an seiner akademischen und ökonomischen Existenz gelegen war. Als rettender Ausweg bot sich ihm die Psychisierung der Geschichte im Anschluß an die Psychologie Wundts. Indem Lamprecht "den Geschichtsverlauf in das Prokrustesbett einer Abfolge jetzt nicht mehr ökonomisch, sondern psychisch verursachter Kulturstufen zwang" (13), übertrug er den psychophysischen Parallelismus Wundts von der Psychologie auf die Historik. Lamprecht zollte damit der Gewalt der herrschenden Verhältnisse den gleichen Tribut wie Wundt. Und wie Wundt hat er die wahre Ursache seines Gesinnungswandels gründlich verdrängt. Aus dem vorwärtsstrebenden Vertreter kritisch-bürgerlichen Geistes wurde nach 1900 ein Verfechter des Imperialismus und prominentes Mitglied der "Alldeutschen". Etwa zur selben Zeit, da Lamprecht die Psychisierung der Geschichte betrieb, propagierten Werner Sombart und Max Weber den Dualismus von objektiven und subjektiven Faktoren in Geschichte, Nationalökonomie und Soziologie. Sombart erfand den "seigneuralen Geist" des Mittelalters und den "kapitalistischen Geist" des modernen Wirtschaftens. Sein Freund Max Weber entwickelte um diese Zeit den Begriff des "Idealtypus" als Fiktion, die aus einer Unzahl empirischer, atomistischer Elemente das Gemeinsame, Wesentliche herausholt und betont. Psychologie als Religions-ErsatzIn den neunziger Jahren machte sich auch Sigmund Freud den Dualismus von Körper und Geist zu eigen. Als er mit seinen Bemühungen um ein physiologisch strukturiertes Modell der Psyche scheiterte, nahm er seine Zuflucht zu rein geistigen Konstruktionen wie dem "Unbewußten". Die Besonderheit bei Freud war, daß er sich nicht bewußt zu diesem Dualismus oder Parallelismus bekannte. Er blieb vielmehr weiter in vulgärmaterialistischen Vorstellungen befangen. Er hielt seine geistigen Konstruktionen für einen vorweggenommenen physiologischen "Überbau, der irgend einmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden soll". Die Psychoanalyse mixte aus dem metaphysischen Bodensatz, den die Psychologie nach ihrer Loslösung von der Philosophie hinterließ, eine berauschende Droge für ein scheinaufgeklärtes Publikum. Die Freudschen Theorien bilden bis heute das Paradigma für eine Unzahl ähnlicher Psychologismen, die im wesentlichen um den spiritualistischen Begriff des "Unbewußten" kreisen. Die psychologisierende Sichtweise ist dabei nicht nur Zutat, sondern das Wesen der Betrachtung selbst. Insofern kann hier - im Unterschied zur Psychologie als Philosophie-Ersatz - von einem regelrechten Religions-Ersatz gesprochen werden. "Gestalt" statt AtomisierungDie Enttäuschung über die Unergiebigkeit des experimentell-analytischen Ansatzes nährte eine neue psychologische Bewegung, welche die "Gestalt" als ganzheitliche Wahrnehmung betonte. 1890 veröffentlichte der Philosoph Christian von Ehrenfels seine Schrift "Über Gestaltqualitäten". Sie wurde zum Ausgangspunkt einer neuen Bewegung in der Psychologie, die sich gegen die assoziative, das Bewußtsein in einzelne Elemente auflösende Sichtweise richtet. Die Gestaltpsychologie geht davon aus, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Eines ihrer Paradigmen, das schon Ehrenfels anführt, ist die Melodie, die als Tongestalt eine andere Qualität aufweist als die einzelnen Töne, aus denen sie sich zusammensetzt. Die Gestaltpsychologie läßt sich als Reaktion auf die positivistische Atomisierung der Welt verstehen. Sie möchte die Auflösung der Qualitäten in lauter Quantitäten rückgängig machen. Dies gelingt ihr freilich nur um den Preis, daß den gestaltmäßig erfaßten Qualitäten der innere Zusammenhang fehlt. Unvermittelt steht eine "Gestalt" als wesensmäßig erfaßte Struktur der Wirklichkeit neben der anderen. Auch Lamprechts Kulturzeitalter, Freuds psychologische Konstrukte, Sombarts "kapitalistischer Geist" oder Webers "Idealtypus" sind im Grunde solche "Gestalt"-Wahrnehmungen. Sie heben auf die Qualität, die "Melodie", eines historischen oder psychologischen Vorgangs ab. Psychologie im NationalsozialismusIhre eigentliche "Professionalisierung" erlebte die Psychologie in Deutschland erst im Nationalsozialismus, wie Ulfried Geuter nachgewiesen hat (9). Die Zahl der Psychologie-Lehrstühle wurde nach 1933 beträchtlich vermehrt. Im Kriegsjahr 1941 wurde die bis heute gültige Diplom-Prüfungsordnung mit dem praxisbezogenen akademischen Grad des Diplom-Psychologen eingeführt. Diese Förderung der Psychologie erfolgte selbstverständlich nicht der wissenschaftlichen Forschung und Lehre zuliebe, sondern in der Erwartung praktischer Beiträge zur Stützung des Nazi-Regimes. Im Vordergrund stand dabei die "Wehrpsychologie". Einer der damaligen Wehrpsychologen, der bereits erwähnte Peter R. Hofstätter, konnte sich freilich auch andere Anwendungen vorstellen. Als künftige Eignungsfelder sah er die Eignungsdiagnostik und die weltliche Seelsorge bei gesunden, aber ratbedürftigen Menschen. Ein neues Leitbild war für ihn der Psychologe als beratender Helfer und Seelsorger, der etwa bei der Ortsgruppe der NSDAP arbeiten könnte. - Ein Gedanke, der vom Hauptamt Wissenschaft der Dienststelle Rosenberg aufgegriffen wurde. Grundsätzlich war der Nationalsozialismus aber nur an Instrumenten zur Manipulierung der Massen und zur Sicherung seiner Herrschaft interessiert. Neurotische "Unpäßlichkeitsschwächlinge" paßten nicht in den braunen Massenwahn, der als Kollektivneurose keinen individuellen Neurotizismus neben sich dulden konnte (siehe "Adolf Hitler als Seelen-Heiler"). Die Legende von der "subliminalen Beeinflussung""Die Psychologe sagen das, was jedermann weiß, in einer Sprache, die keiner versteht!" - Dieses Bonmot charakterisiert recht gut den Legitimationsdruck, unter dem die Psychologie steht, seitdem sie nicht mehr Geisteswissenschaft sein will, sondern die Naturwissenschaften nachzuahmen versucht: Wer nicht viel zu sagen hat, weil es nicht viel zu sagen gibt, muß wenigstens so tun, als ob er immens viel zu sagen hätte. Die akademische Psychologie hat sich deshalb den Absurditäten des modernen Wissenschaftsbetriebs perfekt angepaßt. Sie strapaziert mathematisch-statistische Methoden bis zum Exzeß, hat ein umfangreiches Fach-Kauderwelsch entwickelt und lebt zum großen Teil davon, daß sie sich selbst referiert. Die Flut von Artikeln und Büchern ist selbst für Fachleute längst nicht mehr überschaubar. Das ist aber insofern kein Problem, als niemandem dabei etwas wesentliches entgeht. Cum grano salis ist die Psychologie seit hundert Jahren nicht vom Fleck gekommen. Sie hat es allerdings verstanden, sich kunstvoll im Kreise zu drehen. Bei soviel Betriebsamkeit fällt die Kümmerlichkeit der Ergebnisse nicht weiter auf, zumal es immer wieder den Anschein hat, als ob die Psychologie doch spektakuläre Erkenntnisse gewonnen habe und wahrlich furchterregende Instrumente zur Manipulierung unserer Seelen bereitstellen könne. Ein schönes Beispiel dafür ist die Legende von der "subliminalen Beeinflussung", die - wie die meisten psychologischen Moden - in den USA entstanden ist und ebenso von der Fachwelt wie vom breiten Publikum für bare Münze genommen wurde. Die pseudo-wissenschaftliche Theorie der "subliminalen Beeinflussung" unterstellt, daß das Handeln von Menschen durch versteckte Botschaften beeinflußt werden könne, die entweder nur Sekundenbruchteile zu sehen oder vexierbildhaft verfremdet sind, so daß sie nur vom "Unbewußten" wahrgenommen würden. Wie ernst diese Theorie genommen wurde und noch wird, geht daraus hervor, daß US-Bundesbehörden den Sendern solche subliminalen Einblendungen bei Strafe des Lizenzentzugs verboten haben. Noch Ende der neunziger Jahre erhob ein US-Gericht Anklage gegen die Mitglieder einer Rockband, weil einer ihrer Songs die Aufforderung "Tu es!" als subliminales Implantat enthalten und damit die Selbstmorde von zwei jungen Männern herbeigeführt habe. Die experimentelle Psychologie liefert jedoch keinerlei Anhaltspunkte für derartige Möglichkeiten der Manipulation. Daß die Theorie der subliminalen Beeinflussung dennoch reüssieren konnte und selbst unter Wissenschaftlern für bare Münze genommen wird, läßt sich wohl nur mit der kritiklosen Verbreitung psychoanalytischer Paradigmen erklären, die dem "Unbewußten" geheimnisvolle Kräfte und Fähigkeiten zuschreiben. Der Psychologe Anthony R. Pratkanis hat aufgezeigt, wie die Theorie der subliminalen Beeinflussung in Amerika erstmals um die Jahrhundertwende auftauchte, und zwar als Bestandteil der "New Thought"-Bewegung, die dem Geist eine unbegrenzte, aber verborgene Kraft zuschrieb, die man anzapfen könne, um Erfolg zu haben und ein glückliches Leben zu führen. Erneut sei sie dann in den fünfziger Jahren hochgekommen, als Freuds Psychoanalyse in den USA zu einer Art Ersatzreligion avancierte. Eine dritte und vierte Welle lasse sich in den siebziger Jahren sowie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert beobachten, wobei die ideologische Grundströmung von "new age" bestimmt werde. Ihr angeblich wissenschaftliches Fundament erhielt die Theorie der subliminalen Beeinflussung in den späten fünfziger Jahren: In einem Kino in Fort Lee, New Yersey, ließ ein Werbefachmann in den laufenden Film wiederholt heimlich die Sätze "Iß Popcorn" und "Trink Cola" einblenden. Obwohl diese Einblendungen nur Bruchteile einer Tausendstel Sekunde dauerten und keinesfalls bewußt wahrgenommen werden konnten, stieg daraufhin unter den Kinobesuchern der Umsatz an Popcorn und Cola sprunghaft an. - So behauptet es jedenfalls die Legende, die der Werbefachmann fleißig verbreitete und die in der Literatur schließlich als wissenschaftliche Basisstudie gehandelt wurde. Noch seltsamer: Die Legende hielt sich sogar hartnäckig, nachdem der Werbefachmann 1962 zugab, er habe das angebliche Originalexperiment nur erfunden, um für sein rückläufiges Marketing-Unternehmen neue Kunden zu gewinnen (14). Es wäre ein lohnendes Thema für die moderne Psychologie, ihren eigenen Mythen und den psychologischen Voraussetzungen für deren Entstehung auf den Grund zu gehen.
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