Udo Leuschner / Zur Geschichte des deutschen Liberalismus |
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Von 19 auf 1 ProzentDie vielversprechenden Anfänge und das unrühmliche Ende der DDP |
Nach dem ersten Weltkrieg entsteht im November 1918 als liberale Sammelbewegung die Deutsche Demokratische Partei (DDP). Im wesentlichen handelt es sich um die Fortsetzung der Fortschrittlichen Volkspartei, die 1910 ihrerseits aus einer Sammelbewegung links von den Nationalliberalen hervorging. Dieses Mal schließen sich aber auch Teile der Nationalliberalen an. Der Gründungsaufruf, den Theodor Wolff am 16. November 1918 im Berliner Tageblatt veröffentlicht, ist von sechzig Persönlichkeiten unterzeichnet. Darunter befinden sich namhafte Intellektuelle wie der Physiker Albert Einstein, der Soziologe Alfred Weber und der Journalist Hellmut von Gerlach. Das Besitzbürgertum wird durch Personen wie den Verleger Rudolf Mosse, den Bankier Hjalmar Schacht und den Jenaer Glasfabrikanten Otto Schott vertreten. Innerhalb der deutschen Presse kann sich die DDP auf die Elite der Publizistik wie Frankfurter Zeitung, Berliner Tageblatt und Vossische Zeitung stützen.
Die DDP bekennt sich eindeutig zur Privatwirtschaft. Sie macht damit Front gegen die Forderungen nach Sozialisierung, wie sie von der radikalen Linken erhoben und von der SPD zumindest verbal mitgetragen werden. Besonders lehnt sie den Bolschewismus ab, wie er in Rußland soeben an die Macht gekommen ist. Sie verbindet damit aber die Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft, etwa durch entsprechende Ausgestaltung des Arbeitsrechts. Sie verlangt die Aufteilung des Großgrundbesitzes zugunsten breiten bäuerlichen Eigentums. Der Mittelstand soll geschützt, monopolähnliche Machtkonzentration bekämpft werden. Kulturpolitisch tritt sie für die Hebung der Volksbildung ein sowie für die Trennung von Staat und Kirche. In der Außenpolitik fordert sie - wie andere Parteien - die Revision des Versailler Vertrags und die Rückgabe der ehemals deutschen Kolonien.
Die DDP tritt als neue Kraft an, unbelastet von Monarchie, Chauvinismus, annexionistischen Kriegszielen und anderen Hypotheken aus der Vergangenheit. Sie empfiehlt sich damit als bürgerliches Bollwerk gegen die von links anstürmende Revolution und zugleich als parlamentarischer Partner für die SPD, die ihren Spagat zwischen Reform und Revolution kaum durchhalten könnte, wenn rechts von ihr nur ein reaktionärer Bürgerblock stände.
Unter diesen Umständen genießt die DDP zunächst die Unterstützung des Großteils der Wirtschaft. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 kann sie 18,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen - gut sechs Prozent mehr als die Fortschrittliche Volkspartei bei den Reichstagswahlen von 1912. Auf dem ersten Parteitag im Juli 1919 wird Friedrich Naumann zum Vorsitzenden gewählt. Er stirbt aber schon einen Monat später.
Zunächst sieht es so aus, als würde in der DDP auch die Gesamtheit der ehemaligen Nationalliberalen aufgehen. Jedenfalls gibt es entsprechende Verhandlungen. Sie scheitern dann aber an politischen Differenzen, die als Streit um Personen ausgetragen werden. Schon Naumann ist einem Teil der Liberalen suspekt: Zu frisch ist noch die Erinnerung an sein 1915 erschienenes Buch "Mitteleuropa", in dem er die Kriegsziele des deutschen Imperialismus propagierte. Weitaus stärker ist allerdings die Ablehnung, die Gustav Stresemann entgegenschlägt. Stresemann war zeitweilig Mitglied von Naumanns "Nationalsozialem Verein", bevor er sich zu den Nationalliberalen gesellte und die aggressive Kriegspropaganda des "Alldeutschen Vereins" unterstützte.
Stresemann revanchiert sich für den Ausschluß aus der DDP, indem er die Deutsche Volkspartei (DVP) gründet. Sie erringt bei den Wahlen zur Nationalversammlung nur 4,4 Prozent. Bald aber erhält sie kräftigen Rückenwind durch Mitglieder, Wähler und Unterstützer aus Wirtschaftskreisen, die sich von der DDP wieder abwenden. Nach der Konstituierung der Republik im August 1919 ist die akute Gefahr eines sozialen Umsturzes vorbei. Die antiliberalen Kräfte wittern wieder Morgenluft. Die erdrückenden Fesseln des Friedensvertrags werden nun der jungen Republik angelastet. Mit der "Dolchstoßlegende" wird die Schuld an der militärische Niederlage den Linken in die Schuhe geschoben. In dieser Atmosphäre kann die DVP schon bei den ersten Reichstagswahlen im Juni 1920 mit 14 Prozent an der DDP (8,4 Prozent) vorbeiziehen. Bis zum Ende der Weimarer Republik bleibt sie mit Abstand die stärkere Partei. Sie ist der Favorit des schwarz-weiß-rot durchwirkten Besitzbürgertums. Ihr Verhältnis zur schwarz-rot-goldenen Republik ist zumindest zwiespältig. Zur DVP gehören "Schlotbarone" wie Hugo Stinnes, der persönlich ein Reichstagsmandat übernimmt.
Rechts von der DVP agitiert die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die neben Konservativen und Antisemiten ebenfalls Teile der Nationalliberalen aufgesaugt hat. Die DNVP ist offen republikfeindlich und antidemokratisch eingestellt. Noch weiter rechts steht nur die NSDAP, die dann Anfang der dreißiger Jahre mit Hilfe der Deutschnationalen zur Macht gelangen wird.
Die DDP präsentiert sich dagegen als lupenrein liberale Partei, die Geist, Geld und soziale Belange in ansprechender Form zu verbinden weiß. Sie ist die Partei des Bildungsbürgertums und aufgeklärter Wirtschaftskreise. Zu ihr gehört beispielsweise der AEG-Präsident Walther Rathenau, der sich den Kapitalismus auch in Form einer Gemeinwirtschaft vorstellen kann und 1921 als Reichsaußenminister von Fanatikern der Rechten ermordet wird. Zu ihr gehört auch Hugo Preuß, der 1919 die wesentlichen Teile der neuen Reichsverfassung entwirft.
Bis zur Weltwirtschaftskrise bleibt die DDP hinter SPD, Zentrum und DVP die viertstärkste Partei. Gemeinsam mit SPD und Zentrum bildet sie die "Weimarer Koalition", die in den Anfangsjahren der Republik die meisten Kabinette trägt. Insgesamt ist sie an 17 der 20 Regierungen beteiligt, die sich von 1919 bis 1932 in hektischem Wechsel ablösen. Nur die Zentrumspartei ist noch häufiger am Kabinettstisch präsent.
Zusammen mit der SPD tritt die DDP ab 1924 im "Reichsbanner
schwarz-rot-gold" für die Verteidigung der Republik ein. Die eigentliche
Gefahr droht der Republik allerdings weniger von Rechts- und
Linksextremisten als vom kapitalistischen Wirtschaftsgefüge, auf dem sie
gründet. Wie labil dieser Unterbau ist, hat soeben erst die Inflation
gezeigt, welche die vermeintlich sicheren Ersparnisse von Millionen
Menschen vernichtete. Das Bildungsbürgertum, auf das sich die DDP stützt,
wurde von dieser Entwertung des Geldvermögens besonders hart betroffen.
Die "goldenen Zwanziger" lassen die Labilität des ökonomischen Unterbaues vorübergehend vergessen. In den Jahren des Aufschwungs geht der Stimmenanteil der Rechtsextremisten um mehr als die Hälfte zurück: Die NSDAP sinkt von 6,6 Prozent bei den Reichstagswahlen im Mai 1924 auf nur noch 2,6 Prozent bei den Wahlen im Mai 1928. Die Deutschnationalen schrumpfen im selben Zeitraum von 19 auf 7 Prozent. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums sinkt die KPD von 12,6 auf 10,6 Prozent, während die SPD von 20,5 auf 29,8 Prozent zulegen kann.
Aber dann beginnt Ende Oktober 1929 die Weltwirtschaftskrise. Eine Massenarbeitslosigkeit bisher unvorstellbaren Ausmaßes stürzt Millionen Menschen in Not und Verzweiflung. Es kommt erneut zur Radikalisierung: Bei den Reichstagswahlen vom September 1930 verliert die SPD zahlreiche Wähler an die KPD. Von rechts her rollen die Nationalsozialisten das bürgerliche Lager auf: Deutschnationale und DVP werden annähernd halbiert. Bei den Reichstagswahlen vom Juli 1932 steigt der Stimmenanteil der NSDAP sogar auf 37,4 Prozent.
Diese Radikalisierung bedroht auch die DDP in ihrer bescheidenen Existenz. Keine andere Partei hat wie sie auf die Vision eines humanen Kapitalismus gesetzt. Nun stellt sich heraus, daß Privatwirtschaft und freies Spiel der Marktkräfte in einer Katastrophe enden. Das Versprechen sozialen Ausgleichs wirkt wie purer Hohn.
Hinzu kommt, daß am 27. März 1930 die letzte Reichsregierung abtritt, die sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützen konnte. Fortan regiert eine Mitte-Rechts-Regierung unter dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning mit Hilfe von "Notverordnungen", die der erzkonservative Reichspräsident Hindenburg absegnet. Die DDP bleibt jedoch in der Regierung vertreten. Sie übernimmt sogar die besonders exponierten Bereiche des Wirtschafts- und Finanzministeriums. Sie trägt also sichtlich Mitverantwortung für das erfolglose Krisenmanagement der beiden "Präsidialkabinette" unter Brüning. Außerdem desavouiert sie ihre eigenen liberalen Grundsätze, indem sie die Ausschaltung des Parlaments toleriert.
Vor diesem Hintergrund erfolgt eine politisch-ideologische Neuorientierung der DDP: Sie verbindet sich im Juli 1930 mit der "Volksnationalen Reichsvereinigung" zur "Deutschen Staatspartei". Die neuen Partner kommen vom "Jungdeutschen Orden" am rechten Rand des politischen Spektrums. Es handelt sich um Schwärmer, die der Bündischen Jugend und ähnlichen Formen kleinbürgerlicher Reformgeisterei entsprossen sind. Politisch passen sie eher zu den Deutschnationalen als zur DDP. Daß die Liaison dennoch zustandekommt, ist hauptsächlich dem Einfluß der "Nationalsozialen" innerhalb der DDP zuzuschreiben. Die ehemaligen Anhänger Friedrich Naumanns verbindet mit den völkischen Schwärmern die gemeinsame Abstammung aus dem ideologischen Schmelztiegel der Jahrhundertwende. Gemeinsam ist beiden auch ein voluntaristisches Politik-Verständnis.
Einige Linksliberale machen die Wandlung zur Deutschen Staatspartei nicht mit. Zu ihnen gehören der Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde und Hellmut von Gerlach. Sie gründen die "Radikaldemokratische Partei", die aber eine unbedeutende Splittergruppe bleibt.
Bei den kurz darauf stattfindenden Reichstagswahlen im September 1930 erringt die "Deutsche Staatspartei" 3,8 Prozent. Das sind 1,1 Prozent weniger, als die DDP bei den letzten Reichstagswahlen vor der Weltwirtschaftskrise erhielt. Sogleich nach den Wahlen gibt es Streit zwischen den Partnern. Die Mesalliance hält nicht lange. Aber es bleibt beim Namen und beim Rechtskurs der "Deutschen Staatspartei", die fortan ihre liberalen Blößen mit national-völkischer Phraseologie bedeckt.
Der völlige Niedergang der DDP ist indessen nicht mehr aufzuhalten. Bei den beiden Reichstagswahlen des Jahres 1932 sackt der Stimmenanteil der "Deutschen Staatspartei" auf jeweils 1 Prozent ab. Bei den letzten noch halbwegs freien Wahlen im März 1933 sind es 0,9 Prozent.
Im Unterschied zur DDP halten sich bei den beiden anderen Parteien der "Weimarer Koalition" die Verluste in Grenzen. Besonders stabil ist das Zentrum, das von den Reichstagswahlen 1928 bis zur letzten Wahl vor Hitlers Machtergreifung nur unwesentlich von 12,1 auf 11,9 Prozent abfällt. Die SPD verschlechtert sich dagegen sukzessive von 29,8 auf 20,4 Prozent, wobei diese Verluste größtenteils mit dem Zuwachs der KPD von 10,6 auf 16,9 Prozent zu erklären sein dürften. Offensichtlich sind die Wähler von Zentrum und SPD stärker in ein ideologisch-soziales Milieu eingebunden, das sie davor bewahrt, den Marsch nach rechts mitzumachen.
Umgekehrt legt der Kollaps des Liberalismus die Vermutung nahe, daß die Wähler der DDP einem ähnlichen ideologisch-sozialen Milieu entstammen wie die weiter rechts von ihr angesiedelten bürgerlichen Parteien. Der Aufstieg der NSDAP korrespondiert eindeutig mit der Auszehrung von DDP, DVP und Deutschnationalen sowie speziellen Interessenvertretungen des Mittelstandes und der Landwirte. Angesichts der Festigkeit des katholischen Zentrums und der relativen Festigkeit der Arbeiterparteien könnte man dieses dritte Milieu, in dem die Umschichtung zur NSDAP hauptsächlich stattfindet, als "bürgerlich-protestantisch" charakterisieren. - Wobei der Begriff "protestantisch" keineswegs nur im Sinne von Konfessionszugehörigkeit zu verstehen ist, sondern vielmehr in besonderen Maße auf Zerfallsprodukte des Protestantismus abhebt, wie sie die deutsch-völkische Ideologie, der Antisemitismus oder Friedrich Naumanns "nationalsoziale" Bewegung darstellen.
Das Ende der DDP ist kein Ruhmesblatt für den deutschen Liberalismus. Die letzten fünf Abgeordneten der "Deutschen Staatspartei" stimmen 1933 im Reichstag für Hitlers Ermächtigungsgesetz (darunter die späteren FDP-Politiker Theodor Heuss und Reinhold Maier sowie der spätere CDU-Politiker Ernst Lemmer). Als sich die Partei am 28. Juni 1933 freiwillig auflöst, geschieht dies unter rhetorischen Verbeugungen vor der neuen "Volksgemeinschaft".
Linksliberale wie Ludwig Quidde und Hellmut von Gerlach flüchten 1933 vor den braunen Machthabern ins Ausland. Und sie tun sicher gut daran. Im übrigen brauchen aber ehemalige Mitglieder und Politiker der DDP - ausgenommen solche jüdischer Abstammung - nicht um Leib und Leben zu fürchten. Das Wüten der NS-Propaganda gegen den nunmehr überwundenen "Liberalismus" ist keine persönliche Kampfansage. Es gilt in erster Linie einem ideologischen Popanz, der stark antisemitisch geprägt ist. Theodor Heuss darf mit Billigung des Propagandaministeriums sogar die Biographie seines Lehrmeisters Friedrich Naumann veröffentlichen.
Die spätere Widerstandsbewegung gegen Hitler besteht hauptsächlich aus Konservativen, Sozialdemokraten oder Kommunisten. Frühere Mitglieder der DDP spielen keine prominente Rolle. Nach dem mißglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 fallen allerdings einige dem Rachefeldzug der Gestapo zum Opfer. So wird der frühere Berliner Bürgermeister Fritz Elsas hingerichtet, weil er den flüchtigen Carl Goerdeler verborgen hat. Der frühere Reichswirtschaftsminister Eduard Hamm wird in München zu Tode gefoltert. Der frühere Reichswehrminister Otto Geßler kommt ins Konzentrationslager und wird dort schwer mißhandelt, weil sein Name auf einer Liste des Grafen Schenk von Stauffenberg steht.
Sogar der frühere Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht erlebt das Kriegsende im Konzentrationslager: Schacht verließ die DDP schon 1926 und wurde ein glühender Bewunderer Hitlers. Nach der Machtergreifung war er Hitlers wichtigster Helfer auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Erst der offensichtlich (selbst-)mörderische Kurs des Regimes, dem er in führender Position diente, ließ Schacht zum Dissidenten werden.
Eine gewisse Ambivalenz, die den Liberalismus im Zweifelsfall nach rechts umkippen läßt, ist auch bei anderen DDP-Politikern zu beobachten. So durchmißt Willy Hellpach, der 1925 für die DDP als Reichspräsidentschaftskandidat antritt, fast das gesamte politische Spektrum seiner Zeit vom heimlichen Mitarbeiter einer sozialdemokratischen Theorie-Zeitschrift bis zur "Augenblicksversuchung, mich der Deutschnationalen Volkspartei anzuschließen". Als badischer Kultusminister suspendiert er den Heidelberger Privatdozenten Gumbel vom Amt, weil dieser die Gefallenen des Weltkriegs als sinnlose Schlachtopfer charakterisiert hat. Den rechtsradikalen Strahlenphysiker Lenard, der die Staatstrauer nach dem Mord an Rathenau demonstrativ mißachtet, läßt er dagegen mit einem Verweis davonkommen. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wird Hellpach zwar der Unterhaltsanspruch aus seinen politischen Funktionen in der Weimarer Zeit gestrichen, ansonsten aber kein Haar gekrümmt. Er darf als Hochschullehrer sogar weiter Vorlesungen über Psychologie halten.
Fazit: Ausgerechnet im bisher liberalsten deutschen Staat spielt der Liberalismus nur eine untergeordnete Rolle und verkümmert am Ende zur Bedeutungslosigkeit. Das überrascht aber nicht, wenn man die Zeitverhältnisse und die Entstehung der Weimarer Republik bedenkt: Schon längst verläuft die Hauptfront der gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht mehr zwischen Liberalen und Konservativen. Es gibt diesen alten Konflikt zwar noch, er ist aber zweitrangig geworden gegenüber der "sozialen Frage". Denn was nützen hungernden Arbeitern die schönsten bürgerlichen Freiheiten, solange sie nicht genügend Einkommen, Zeit und Bildung haben, um sich aus ihrem Elend zu befreien!
Bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich wegen dieser sozialen Frage die Sozialdemokratie vom Liberalismus abgespalten. Bei den Reichstagswahlen von 1912 - den letzten vor dem ersten Weltkrieg - wurde die SPD mit 34,8 Prozent der Stimmen erneut und mit großem Abstand die stärkste aller Parteien, während Fortschrittspartei und Nationalliberale zusammengenommen lediglich auf 25,9 Prozent kamen. In einer parlamentarischen Demokratie hätte die SPD damit Anspruch auf die Rolle der Regierungspartei erheben können. Im wilhelminischen Deutschland verfügte der Reichstag aber nur über bescheidene Mitwirkungsrechte, und das Kabinett war allein dem Kaiser verpflichtet.
Das ändert sich mit dem Ausgang des ersten Weltkriegs: Die von vier Jahren Krieg malträtierten Menschen - vor allem hungernde Arbeiter und bewaffnete Soldaten, die ihrem Schicksal als Kanonenfutter knapp entgangen sind - bringen das alte System ins Wanken. Sie wollen nicht nur den Abgang des Kaisers, sondern eine soziale Revolution, wie sie die SPD seit Jahrzehnten propagiert hat. Es kommt zu Unruhen und Aufständen. Nicht nur die Monarchie steht zur Disposition, sondern auch der Kapitalismus. Mit den Junkern und Fürsten muß der bürgerliche Adel der "Schlotbarone" um seine Privilegien zittern. Die bisher eher symbolische Stärke der SPD im Reichstag verwandelt sich so über Nacht zu dem Auftrag, die traumatisierte Nation aus dem ganzen Schlamassel herauszuführen.
Aber die Sozialdemokratie ist diesem Auftrag nicht gewachsen. Sie hat sich nämlich inzwischen in Reformisten und Revolutionäre gespalten - ganz ähnlich wie einst die liberale Bewegung. Und so wiederholt sich die Tragödie der Revolution von 1848/49 unter anderen Vorzeichen im November 1918: Erneut stehen Radikale gegen Gemäßigte. Erneut fehlt es den Radikalen an einer vernünftigen Konzeption und Führung. Erneut verbünden sich die Gemäßigten mit den Herrschenden. Und erneut gehören am Ende auch die Gemäßigten zu den Düpierten und müssen von der Regierungsbühne wieder abtreten, sobald die Reaktion sich stark genug fühlt, um ohne sie auszukommen.
Schon die Parlamentarisierung der Reichsverfassung am 28. Oktober 1919 ist keine liberale Revolution, sondern ein defensiver Schachzug, mit dem der amtierende Reichskanzler Prinz Max von Baden seinem kaiserlichen Vetter den Thron erhalten möchte. In seinem Tagebuch notiert er: "Gottlob, daß ich in den Sozialdemokraten Männer auf meiner Seite habe, auf deren Loyalität wenigstens gegen mich ich mich vollkommen verlassen kann. Mit ihrer Hilfe werde ich hoffentlich imstande sein, den Kaiser zu retten."
Der Matrosenaufstand in Kiel und die Revolution in Berlin durchkreuzen dieses Konzept. Der Kaiser muß weg, damit das soziale System in seinen Grundzügen erhalten bleiben kann. Das sieht nun auch die SPD-Führung ein. Sie setzt sich scheinbar an die Spitze der Revolution, um sie vom Kurs der Spartakisten und der USPD abzubringen und in gemäßigtes Fahrwasser zu lenken. Unmißverständlich bringt dies der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert zum Ausdruck, als er am 7. November 1919 den Reichskanzler Prinz Max von Baden beschwört: "Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht, ja, ich hasse sie wie die Sünde." Zwei Tage nach dieser Äußerung übernimmt Ebert - durchaus im Einvernehmen mit seinem Vorgänger - das Amt des Reichskanzlers und Deutschland wird zur Republik erklärt.
Die Republik von Weimar wird also nicht von Liberalen erkämpft, sondern sie fällt ihnen sozusagen in den Schoß. Sie ist ein Kompromiß zwischen weiter links und weiter rechts stehenden Gruppen. Sie ist ein Zugeständnis der herrschenden Kreise an die krisenhafte Situation nach dem verlorenen ersten Weltkrieg. Sie ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich 1919 die verfeindeten Gruppen vorläufig einigen. Die von Anfang an vorhandene Schwäche und schließliche Agonie der Republik von Weimar korrespondiert mit der Schwäche und Agonie der Liberalen. Auch deshalb kann die DDP als die Weimarer Partei par excellence gelten.