November 2024

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


Die Ampel scheiterte nicht an sich selbst, sondern nur an der FDP

SPD und Grüne hätten den Profilneurotiker Lindner schon 2022 in die Schranken verweisen müssen

(zu 241101)

Der 6. November war wohl der trübste Tag dieses Jahres. Das lag nicht nur am Grau, das morgens vor dem Fenster zu sehen war. Zu diesem saisonüblichen Grau kam das leibhaftige Grauen in Form der Nachricht, dass Donald Trump es tatsächlich geschafft hat, sich ein zweites Mal zum US-Präsidenten wählen zu lassen. "Offenbar sind die meisten Amis genauso bekloppt wie Trump" lautete am häuslichen Frühstückstisch eine Kurzanalyse des Wahlgebnisses, die zwar nicht besonders tiefschürfend und ziemlich pauschalisierend war, aber das Ausmaß der allgemeinen Fassungslosigkeit zum Ausdruck brachte.


Die vom "DeutschlandTrend" der ARD vierteljährlich ermittelte Zufriedenheit der Bundesbürger mit der jeweiligen Regierung erreichte im April 2022 mit 47 Prozent ihren Höhepunkt. Kurz vor dem endgültigen Bruch der Ampel waren es nur noch 14 Prozent.

Wer erst spät zu Bett ging, konnte am selben Tage noch einen zweiten politischen Paukenschlag erleben: In Berlin zerbrach endgültig die sogenannte Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP. Diese war vor drei Jahren mit sehr ehrgeizigen Zielen angetreten, die vor allem die Energiepolitik betrafen. Der Rauswurf des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner aus dem Kabinett bewirkte allerdings kein Entsetzen, sondern eher Erleichterung. Denn diese Regierung war seit längerem kaum noch wirklich handlungsfähig. Und das lag hauptsächlich an den Quertreibereien, mit denen Lindner sich und seine Partei zu Lasten der beiden größeren Koalitionspartner zu profilieren versucht hatte.

Dem 144 Seiten umfassenden Koalitionsvertrag, den die drei Parteien am 24. November 2021 vorlegten (211101), waren diese Quertreibereien noch nicht anzusehen. Unter dem nachträglich sehr phrasenhaft klingenden Titel "Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit" enthielt er eine insgesamt tatsächlich begrüßenswerte Rahmenplanung für politische Weichenstellungen der nächsten vier Jahre, die von keiner Zwietracht zwischen den Unterzeichnern getrübt schien. Sogar die FDP schien sich endlich doch noch zu einer Partei zu entwickeln, die das Attribut "liberal" zu Recht im Schilde führt und nicht mit Neoliberalismus verwechselt.

Der russische Überfall auf die Ukraine setzte unerwartet neue Schwerpunkte

Zunächst funktionierte dieses Bündnis auch recht gut, obwohl sich die neue Bundesregierung schon kurz nach ihrem Amtsantritt mit dem russischen Überfall auf die Ukraine konfrontiert sah (220201 und Hintergrund, Februar 2022). Damit wurden plötzlich ganz andere Schwerpunkte gesetzt. Vor allem in der Energiepolitik. "Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende für die Energieversorgung in Deutschland", hieß es deshalb in der Begründung der EEG-Novellierung, die das Bundeskabinett am 6. April verabschiedete. "Energiesouveränität ist zu einer Frage der nationalen und europäischen Sicherheit geworden. Die mit diesem Gesetz forcierte Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien ist daher auch in Anbetracht der aktuellen Krise in Europa geopolitisch und ökonomisch geboten." (220409)

Das Wählerpublikum honorierte die Entschlossenheit, mit der sich die Ampel der unerwarteten Herausforderung stellte. Dies zeigt der "DeutschlandTrend", mit dem die ARD vierteljährlich die Zufriedenheit mit der jeweiligen Bundesregierung untersucht: Demnach waren im April 2022 von den Befragten 47 Prozent mit der Arbeit der neuen Regierung "zufrieden" oder sogar "sehr zufrieden". Danach sank die Zufriedenheit bis Oktober 2022 auf 29 Prozent, stieg bis Januar 2023 auf 34 Prozent und stürzte dann binnen eines Jahres bis auf 17 Prozent. Von Januar bis April 2024 gab es dann nochmals einen kurzen Anstieg der Zufriedenheit bis auf 21 Prozent, bevor es endgültig abwärts ging und sie kurz vor dem Bruch der Ampel nur noch 14 Prozent betrug.

Bei den "Sonntagsfragen" profitierten nur die Grünen von der erfolgreichen Anfangsphase der Ampel


Mit einem "D-Day"-Papier bereitete die FDP seit Oktober 2024 generalstabsmäßig einen von ihr provozierten Bruch der Ampel vor, dem dann allerdings der Bundeskanzler mit dem Rauswurf Lindners aus dem Kabinett zuvorkam. Das Papier wurde laufend aktualisiert. Diese Grafik entstammt der letzten Fassung, die unter dem Druck der Enthüllungen von der FDP selber veröffentlicht wurde, um der Publizierung älterer Versionen zuvorzukommen. Sie zeigt in vier Phasen, wie der Bruch der Koalition zunächst propagandistisch begründet und das gefundene "Narrativ" über wichtige Medien-Kontakte wie zu "Bild" verbreitet werden sollte, bevor die "offene Feldschlacht" mit SPD und Grünen beginnen würde. In älteren Versionen des Papiers steht an der Spitze der Pyramide nicht das Wort "Impuls", sondern "Zündung".

Ihre anfängliche Popularität hatte die Ampel freilich nur den Grünen zu verdanken, die sich auch später noch bis Herbst 2022 steigender Zustimmung erfreuen durften. Das zeigt ein weiterer Blick auf die Ergebnisse der insgesamt 65 "Sonntagsfragen", mit denen die ARD zwischen den letzten Bundestagswahlen vom 26. September 2021 und dem Zerbrechen der Ampel am 6. November 2024 die Zustimmung zur Politik der einzelnen Parteien erkunden ließ (siehe Grafik). Die als zweitstärkste Kraft mitregierenden Grünen verbesserten hier ihr voraussichtliches Abschneiden bei erneuten Bundestagswahlen bis Mitte September 2022 vom 14,7 auf 21 Prozent. Zuvor waren es vier Monate lang sogar 23 Prozent gewesen. Die Union als wichtigste Oppositionspartei verbesserte ihr Ergebnis ebenfalls, von 24,2 auf voraussichtlich 28 Prozent. Dagegen sanken die Chancen des größten und des kleinsten Koalitionspartners: Bei der SPD von 25,7 auf 17 Prozent, und bei der FDP von 11,4 auf 7 Prozent.

Die FDP näherte sich also bedenklich der Fünf-Prozent-Hürde, zumal ihre Umfragewerte noch weiter sanken und Anfang Dezember tatsächlich bei fünf Prozent lagen. Man kann verstehen, dass deshalb den Parteivorsitzenden Christian Lindner geradezu Panik erfasste: Denn schon 2013 war seine Partei unter diese Marke gerutscht und vier Jahre lang nicht mehr im Bundestag vertreten gewesen – zum ersten Mal, seitdem sie 1949 mit 11,9 Prozent der Stimmen ins Parlament eingezogen war und von Konrad Adenauer drei Ministerposten erhalten hatte. Erst unter Lindner, der kurz nach dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag zum neuen Vorsitzenden gewählt wurde, war ihr 2017 mit 10,7 Prozent die Rückkehr ins Parlament gelungen.

Lindner wollte FDP für Rechtswähler attraktiver machen, um dauerhaft über 5 Prozent zu kommen

Ziemlich dumm und kurzsichtig war es jedoch, wie Lindner schon drei Jahre vor dem nächsten Wahltermin die Situation einschätzte und die FDP um jeden Preis so zu profilieren versuchte, dass sie in der Gunst der Wähler wieder höher notierte. Es handelte sich dabei wohl um eine ähnliche und noch länger andauernde Kurzschlussreaktion, wie er sie schon Ende 2011 gezeigt hatte, als die Partei ebenfalls unter die Fünf-Prozent-Hürde zu sinken drohte und er sein Amt als Generalsekretär der Partei einfach hingeschmissen hatte (siehe Geschichte der FDP).

Lindner wollte nun nämlich die FDP für Wähler der Rechtsparteien attraktiver machen, indem er die Kampagne für eine Neubelebung der Kernenergie unterstützte, die schon seit geraumer Zeit lief (211006 und Hintergrund, April 2023). Die durch den russischen Überfall auf die Ukraine entstandene Energiekrise war für die Propagandisten dieser Kampagne ein willkommener Anlass, um einen möglichst langen Weiterbetrieb der drei letzten deutschen Reaktoren zu fordern, die gemäß Atomgesetz zum Jahresende 2023 abgeschaltet werden mussten. Indessen gab es – trotz der schwersten energiewirtschaftlichen Turbulenzen seit Bestehen der Bundesrepublik – keinerlei Notwendigkeit, die Reaktoren länger laufen zu lassen. Die zur Behebung der Gasversorgungskrise reaktivierten Kohlekraftwerke reichten völlig aus, um die Residuallasten abzudecken. Sie konnten diese Aufgabe sogar besser erfüllen als die unflexiblen Kernkraftwerke.

Die behauptete Notlage diente nur als Vorwand für eine politische Kampagne zur Neubelebung der Kernenergie

Für die Union war es verlockend, genau das Gegenteil zu behaupten, um so die Grünen als wichtigsten Sympathieträger der Ampel in Bedrängnis zu bringen. Denn für diese ging es ans Eingemachte – nicht zuletzt auch im Koalitionsvertrag – , wenn am Ausstieg aus der Kernkraft gerüttelt wurde. Natürlich wäre es auch für die Grünen kein Problem gewesen, die drei Reaktoren ein paar Wochen länger laufen zu lassen, soweit es die weitgehend erschöpften Brennelemente und die Sicherheitvorschriften noch zuließen, wenn die Sicherheit der Stromversorgung tatsächlich gefährdet gewesen wäre. Indessen gab es die behauptete Notlage einfach nicht. Sie diente nur als Vorwand für eine politische Kampagne, die auf eine Neubelebung der Kernenergie hinauslief. Dieser Pferdefuß wurde auch durchaus sichtbar, wenn eine unbefristete oder mindestens bis 2024 dauernde Laufzeitenverlängerung gefordert wurde. Denn das setzte die Neubestückung der Reaktoren mit Brennelementen sowie andere notwendige Nachrüstungen voraus. Die damit verbundenen hohen Kosten hätten dann wieder als Vorwand dienen können, um die Reaktoren noch jahrelang weiter zu betreiben und irgendwann den Bau neuer Kernkraftwerke folgen zu lassen.

Außerdem gab es sogar die Forderung nach der Reaktivierung von bereits stillgelegten Kernkraftwerken. Sie gehörte vor allem zum hirnrissigen Energiekonzept der rechtsextremen AfD, die der Energiewende erklärtermaßen den Garaus machen will, um stattdessen neue Kernkraft- und Kohlekraftwerke zu errichten. Aber auch Politiker der Union fanden zunehmend Gefallen an derartigem Schwachsinn, und zwar nicht unbedingt deshalb, weil sie ihn für realistisch oder sogar notwendig hielten, sondern weil er bei vielen unwissenden Wählern verfing. Ab Januar 2024 bekannten sich CDU und CSU sogar programmatisch zum Ausstieg aus dem Atomausstieg (240105). Dabei waren es ausgerechnet Union und FDP gewesen, die 2011 nach der Katastrophe von Fukushima die endgültigen Schlusstermine dem Atomgesetz eingefügt hatten – als rein populistische Zutaten zu der nach wie vor maßgeblichen Reststrommengen-Regelung, obwohl sie damit in der Praxis die Laufzeiten der Reaktoren sogar verlängerten statt verkürzten (Hintergrund, März 2021).

Nach der Wahlniederlage in Niedersachsen wollte Lindner den geplanten Laufzeiten-Kompromiss nicht mehr akzeptieren

Als Lindner 2022 die scheinheilige Forderung der Union nach einer Laufzeitenverlängerung für die letzten Reaktoren unterstützte, stellte er schon damals die Koalition in Frage. Denn SPD, Grüne und FDP hatten im Koalitionsvertrag ausdrücklich vereinbart: "Am deutschen Atomausstieg halten wir fest." Die behauptete Notlage für eine derartige Laufzeitenverlängerung gab es nun mal nicht, obwohl die Union im Juni 2024 sogar die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses beantragte, um dieser Behauptung zu mehr Glaubwürdigkeit zu verhelfen (240607). Dennoch versteifte sich Lindner auf diese Forderung, als ob es um die Rettung Deutschlands vor einem flächendeckenden Stromausfall gehe. Man konnte den Eindruck gewinnen, als wolle er bereits ein neues schwarz-gelbes Regierungsbündnis vorbereiten und es sogar auf den Bruch der Koalition ankommen lassen. Um des lieben Friedens willen konzedierten die Grünen schließlich für zwei der drei Reaktoren eine Ausnahmeregelung, die den Weiterbetrieb bis längstens Mitte April ermöglicht hätte. Am 27. September veröffentlichte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dazu ein entsprechendes Eckpunktepapier, auf das er sich mit den beiden KKW-Betreibern E.ON und EnBW geeinigt hatte (220906).

Durch ein Machtwort des Kanzlers durften alle drei Reaktoren dreieinhalb Monate länger laufen

Es kam dann doch etwas anders. Das lag an den niedersächsischen Landtagswahlen, bei denen die FDP am 9. Oktober unter fünf Prozent blieb und aus dem Parlament flog. Nun wollte sich Lindner mit dem vorgesehenen Kompromiss nicht mehr zufriedengeben. Stattdessen zündelte er an der "roten Linie", die der Bundesparteitag der Grünen mit der Bedingung gezogen hatte, dass die drei letzten Reaktoren keinesfalls mit neuen Brennelementen bestückt werden dürften. Darauf lief nämlich die FDP-Forderung hinaus, die Laufzeitenverlängerung mindestens bis ins Jahr 2024 auszudehnen.

Eigentlich hätte Olaf Scholz nun seinen Finanzminister in die Schranken verweisen und ihm klarmachen müssen, dass der Schwanz nicht mit dem Hund wedeln kann, falls die Koalition Bestand haben soll. Dazu fehlte ihm jedoch die Entschlossenheit. Immerhin meisterte er die Situation mit taktischem Geschick, ohne die Grünen allzusehr zu brüskieren, indem er von seiner Richtlinienkompetenz als Kanzler Gebrauch machte: Er verpflichtete sowohl Lindner als auch die grünen Kabinettsmitglieder Habeck und Lemke schriftlich, eine Änderung des Atomgesetzes vorzubereiten, welche die zum Jahresende vorgeschriebene Abschaltung der drei letzten Reaktoren um dreieinhalb Monate verschob. Damit blieb es bei der roten Linie, die der Bundesparteitag der Grünen gezogen hatte. Hinzu kam aber als Trostpflaster für Lindner die Fristverlängerung für das RWE-Kernkraftwerk Emsland, die sich der profilierungssüchtige Kabinettskollege an seine Parteifahne heften konnte (221002).

Der am 19. Oktober 2022 gefasste Beschluss des Bundeskabinetts, die Laufzeiten aller drei Kernkraftwerke zu verlängern, war für Lindner indessen ein Pyrrhussieg: Falls die FDP dadurch tatsächlich Rechtswähler gewonnen haben sollte, wurde dies durch den Verlust von anderen Wählern mehr als kompensiert, denn bei der "Sonntagsfrage" am 1. Dezember 2022 erreichte sie mit 5 Prozent ihr bisher schlechtestes Ergebnis.

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gefiel sich Lindner in der neuen Rolle des Schuldenbremsers

Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2022, das der Koalition schlagartig 60 Milliarden Euro entzog (231101), fand Lindner allerdings sofort eine neue Rolle, um sich und seine Partei zu profilieren: Er gerierte sich nun als unerbittlicher Wächter über die sogenannte Schuldenbremse, der zwar neuen Beihilfen für die Wirtschaft nicht abgeneigt ist, dafür aber die Sozialausgaben einfriert oder sogar kürzt.

Die umgangssprachlich als Schuldenbremse bezeichnete Regelung in den Artikeln 109 und 115 des Grundgesetzes war 2009 von der ersten schwarz-roten Koalition unter Angela Merkel mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit in der Verfassung verankert worden. Sie wurde bereits von den Ampel-Vorgängern als Fessel empfunden. Die Regelung konnte indessen nicht wieder abgeschafft oder den neuen Bedürfnissen angepasst werden, da das dritte schwarz-rote Kabinett Merkel nur noch über eine einfache Mehrheit im Parlament verfügte. Deshalb kamen der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz und sein Staatssekretär Werner Gatzer (beide SPD) auf eine scheinbar famose Idee, wie sich der zweite Nachtragshaushalt, den der Bundestag am 2. Juli 2020 beschloss, doch noch ausgleichen lassen könnte: Durch die Umschichtung ungenutzter Mittel in Höhe von 26,166 Milliarden Euro aus dem Corona-Fonds in den Energie- und Klimafonds, wovon elf Milliarden der damaligen Senkung der EEG-Umlage (231102) dienten.

Als nach der Bundestagswahl SPD, Grüne und FDP über die Bildung einer gemeinsamen Regierung verhandelten, fanden alle drei Parteien Gefallen an der Wiederholung einer solchen Umschichtung zur Lösung der sich abzeichnenden Finanzprobleme (die dann durch den russischen Überfall auf die Ukraine noch viel schlimmer wurden). Man hielt die Vorgehensweise auch für legitim und wollte sie keineswegs verheimlichen. Sie wurde auf Seite 127 des Koalitionsvertrags sogar ausdrücklich angekündigt (Hintergrund, November 2023). Auch Lindner dachte nicht daran, sie zu kritisieren. Vielmehr eröffnete sie gerade ihm in seiner neuen Position als Bundesfinanzminister einen enormen Spielraum.

Als Sündenbock wurde ein Staatssekretär entlassen, der sich "um unser Land verdient gemacht" hat

Damit war es nach der von der Union erwirkten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorbei. Aber "Probleme sind nur dornige Chancen", wie Lindner schon als 18jähriger Schüler erkannte. So überließ er die Dornen des umstrittenen Karlsruher Urteils den beiden Koalitionspartnern, um für sich und seine Partei möglichst viel Honig daraus zu saugen – in der Pose eines auf größte Sparsamkeit bedachten Schuldenbremsers, der stets auf der Hut sein musste, damit ihm die beiden verschwendungssüchtigen Partner nicht doch noch ein paar Milliarden abluchsten, um Rentenkürzungen zu verhindern oder überflüssige Dinge wie das "Bürgergeld" zu finanzieren.

Demonstrativ entließ nun der Bundesfinanzminister Lindner seinen Staatssekretär Werner Gatzer, den er von Scholz übernommen hatte und der als der eigentliche Erfinder des vermeintlich legalen Verfahrens zur Umgehung der "Schuldenbremse" galt. Dabei blieb Lindner, wie immer, auf ein feines Äußeres bedacht, indem er dem Geschassten für den jahrzehntelangen Dienst im Finanzministerium dankte: "Mit hohem persönlichen Einsatz und Tatkraft hat sich Staatssekretär Werner Gatzer um unser Land verdient gemacht."(231101)

FDP blockierte acht Monate lang das "Solarpaket" und torpedierte den "Wirtschaftsgipfel" des Kanzlers

Einen Höhepunkt erreichte das Fingerhakeln zwischen den Koalitionspartnern mit dem "Solarpaket", das Mitte August 2023 vom Bundeskabinett beschlossen wurde. Nach seiner Einbringung in den Bundestag blieb dieser Gesetzentwurf acht Monate lang in der parlamentarischen Beratung stecken, weil die Grünen die Novellierung des Klimaschutzgesetzes in der ursprünglich vorgesehenen Form in Frage stellten und die FDP im Gegenzug den Hauptteil des Solarpakets blockierte. Nur ein paar besonders dringliche Regelungen wurden herausgenommen und mit einem separaten Gesetz gebilligt. Erst Ende April 2024 einigte man sich über die Aufhebung dieser wechselseitigen Blockierung und verabschiedete beide Gesetze im Bundestag. Slapstick-reif war dabei das Bemühen aller Beteiligten, wenigstens nach außen die Form zu wahren und die Verzögerung mit irgendwelchen sachlichen Gründen zu erklären (240402).

Es kam aber noch schlimmer: Am 29. Oktober veranstalteten sowohl der Kanzler Scholz als auch FDP-Chef Lindner jeweils einen "Wirtschaftsgipfel". Angefangen hatte es damit, dass Scholz Vertreter von Industrie und Gewerkschaften zu einem Gespräch ins Kanzleramt einlud, bei dem "weitere Maßnahmen" zur Stärkung und Modernisierung des Industriestandorts Deutschland vorgestellt und diskutiert werden sollten. Auf die Hinzuziehung des Wirtschaftsministers Habeck verzichtete er dabei ebenso wie auf die des Finanzministers Lindner. Vermutlich ging es ihm einfach darum, den Quertreiber Lindner nicht mit am Tisch zu haben. Der koalitionspolitischen Ausgewogenheit wegen durfte deshalb auch Habeck nicht mit dabei sein, obwohl der Wirtschaftsminister in dieser Runde eigentlich ein unverzichtbarer Gesprächspartner gewesen wäre.

Lindner honorierte diese protokollarische Rücksichtnahme des Kanzlers nicht. Die fixe Idee, sich unbedingt zu Lasten der größeren Koalitionspartner profilieren zu müssen, scheint sich bei ihm noch verstärkt zu haben, nachdem die FDP im September bei den drei Landtagswahlen in Sachsen (0,9 Prozent), Thüringen (1,1 Prozent) und Brandenburg (0,8 Prozent) nur minimale Ergebnisse erzielte. Als der Profilneurotiker von dem Gespräch im Kanzleramt Wind bekam, organisierte er deshalb schnell noch seinen eigenen Wirtschaftsgipfel, der am selben Tag im Reichstagsgebäude stattfand, also direkt gegenüber dem Kanzleramt. Dabei lud er vor allem Vertreter von kleineren Unternehmen ein, die nicht zur Gesprächsrunde im Kanzleramt gehörten.

Beide "Wirtschaftsgipfel" waren reine Schauveranstaltungen und an sich völlig bedeutungslos. Zusammen ergaben sie aber ein Stück aus dem Tollhaus, das die Unfähigkeit der Koalition demonstrierte, wenigstens noch einen Minimalkonsens zu wahren. In der medialen Kritik wurde der Vorgang vielfach mit einem "Kindergarten" verglichen. Auch der CDU-Chef Friedrich Merz griff diesen Vergleich gerne auf.

Ab Oktober 2024 bereitete sich die FDP auf die "offene Feldschlacht" mit SPD und Grünen vor

Am 31. Oktober verschickte Lindner ein 18-seitiges Papier mit Forderungen für eine "Wirtschaftswende", die von den Koalitionspartnern keinesfalls akzeptiert werden konnten. Der Forderungskatalog wirkte deshalb so, als ob es die FDP darauf angelegt hätte, die Koalition zu beenden. Wie sich später herausstellte, arbeitete die Parteizentrale zu diesem Zeitpunkt tatsächlich schon an einem Szenario, das auf acht Seiten "D-Day-Ablaufszenarien" beschrieb und vorläufig noch streng geheim war. Der Begriff "D-Day" steht im Englischen für den Stichtag militärischer Operationen. Außerdem hat er eine ganz besondere Bedeutung als Synonym für den 6. Juni 1944, als die Alliierten in der Normandie landeten, um Europa von der Hitler-Herrschaft zu befreien. Eines dieser Szenarien begann mit der Phase I namens "Zündung" und endete mit der Phase IV "Beginn der offenen Feldschlacht". Die Phasen II und III befassten sich mit dem Setzen und medialen Verbreiten des "Narrativs", also mit einer möglichst geschickten propagandistischen Vorgehensweise

Natürlich hatten die Parteisoldaten der FDP keine militärische Operation im Sinn. Die Verwendung des Wortes D-Day und andere Anleihen beim militärischen Jargon machten aber doch sehr anschaulich, dass sie ihre Koalitionspartner quasi als Feinde betrachteten und generalstabsmäßig die endgültige Zerstörung der Ampel-Regierung planten, und zwar zu einem Zeitpunkt, den nur sie bestimmen würden. Lindners provokativer Forderungskatalog zu einer "Wirtschaftswende" taucht in diesem Papier ebenfalls auf, und zwar unter der anschaulichen Bezeichnung "Torpedo". Auch ein Redetext bzw. "Statement CL" war vorbereitet, mit dem Christian Lindner am "D-Day" den von ihm herbeigeführten Bruch der Koalition begründen sollte.

Scholz tat Lindner nicht den Gefallen, gemeinsam zurückzutreten – stattdessen feuerte er ihn endlich

Am 6. November kam es dann bei einer Sitzung des Koalitionsausschusses tatsächlich zum Ende der Ampel. Es war aber nicht die FDP, die den Zeitpunkt und die Umstände des Bruchs bestimmte, sondern der Bundeskanzler Scholz. Dieser forderte Lindner ultimativ auf, sich zur Ampel zu bekennen und die erforderliche parlamentarische Unterstützunge für das Beschließen von Ausnahmen von der Schuldenbremse nicht länger zu verweigern. Lindner soll dies abgelehnt und als Alternative vorgeschlagen haben, dass die gesamte Regierung zurücktreten und Neuwahlen einleiten könne. Als Scholz dieses Ansinnen ablehnte, soll Lindner ihn wörtlich gefragt haben: "Olaf, würdest du mich dann rauswerfen?" Der Kanzler soll daraufhin nur entgegnet haben, das er zum Rücktritt der gesamten Regierung nicht bereit sei. Zugleich machte er den Vorschlag, dass alle Beteiligten die Problematik nochmals kurz überdenken. Er brauche aber noch an diesem Abend eine Zu- oder Absage. Im zweiten Fall werde er "seine Konsequenzen" ziehen. Die FDP zog sich daraufhin zu einer dreißigminütigen Beratung zurück, in deren Verlauf Springers "Bild" online meldete, dass Lindner dem Bundeskanzler Neuwahlen vorgeschlagen habe. Nach diesem Affront reichte es Scholz endgültig: Als Lindner zurückkehrte, um das negative Ergebnis der Beratungen mitzuteilen, eröffnete er ihm stante pede, dass er ihn in seinem Kabinett nicht mehr haben wolle und am nächsten Tag den Bundespräsidenten um die Entlassung des Finanzministers bitten werde. Mit den anderen FDP-Ministern wolle er noch mal reden.

Die "D-Day-Ablaufszenarien" wurden am 29. September von der Parteiführung in Auftrag gegeben

Möglicherweise wusste der Kanzler bereits von den "D-Day"-Planungen, die erstmals am 15. November von der "Süddeutschen Zeitung" und dem Wochenblatt "Die Zeit" publiziert wurden. Die FDP gab sich zunächst alle Mühe, diese Affäre herunterzuspielen. In einer ersten Stellungnahme gegenüber der "Süddeutschen" erklärte Lindner: "Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 haben wir immer wieder und in verschiedenen Runden unsere Regierungsbeteiligung bewertet. Selbstverständlich wurden immer wieder Szenarien erwogen und Stimmungsbilder eingeholt." Dummerweise bestritt dann aber der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai am 18. November in einem Interview mit dem Privatsender ntv, dass der Begriff "D-Day" jemals in FDP-Kreisen verwendet worden sei. "Dieser Begriff ist nicht benutzt worden", behauptete er. "Das ist falsch und das, was medial unterstellt wird, ist eine Frechheit."

Der Generalsekretär scheint sich darauf verlassen zu haben, dass SZ und "Zeit" von diesen Planungen nur erfahren hätten, ohne im Besitz des Dokuments selber zu sein. Den Auftrag zur Erarbeitung dieses Papiers erteilte das sogenannte F-Kabinett bei einer Klausur, die am 29. September 2024 in der Truman-Villa am Griebnitzsee stattfand, in der die Friedrich-Naumann Stiftung der FDP ihren Sitz hat. Das F-Kabinett war das Koordinierungsgremium für die Arbeit der FDP innerhalb der Bundesregierung. Neben den drei FDP-Ministern gehörten dazu unter anderen der Fraktionschef Christian Dürr, der Generalsekretär Djir-Sarai und der Bundesgeschäftsführer Carsten Reymann. Diese hochkarätige Runde soll sich mit großer Mehrheit für das Ende der Ampel ausgesprochen haben, mit Ausnahme des Verkehrsministers Volker Wissing und des Vize-Regierungssprechers Wolfgang Büchner.

Bundesgeschäftsführer und Generalsekretär mussten sich der Partei zuliebe opfern

Es dauerte indessen keine zwei Wochen, bis die "Süddeutsche" auch über die Vorgänge in der Villa am Griebnitzsee informiert war und sogar über ein Original des Strategiepapiers verfügte. Als sie die FDP-Führung am 28. November mit Fragen zu dem Dokument konfrontierte, hielt diese es für klüger, die Flucht nach vorn anzutreten: Sie veröffentlichte es auf der eigenen Internetseite, bevor es andere taten. Einen Tag später opferten sich gleich zwei Vertreter der Parteiführung: Der Bundesgeschäftsführer Carsten Reymann trat als formal zuständiger Sündenbock zurück. Der Generalsekretär Bijan Djir-Sarai verzichtete ebenfalls auf sein Amt. Er wollte dies aber keinesfalls als Schuldbekenntnis eines Lügners verstanden wissen : "Ich habe unwissentlich falsch über ein internes Dokument informiert", behauptete er. Trotzdem übernehme er nun die politische Verantwortung .