Oktober 2002

021002

ENERGIE-CHRONIK


Kernkraftwerk Obrigheim darf bis Ende 2004 betrieben werden

Das Kernkraftwerk Obrigheim darf noch bis Ende 2004 betrieben werden. Dies teilte Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) am 14. Oktober mit. Er gab damit zum Teil einem Antrag der Energie Baden-Württemberg (EnBW) statt, die eine Strommenge von 15 Terawattstunden vom Kernkraftwerk Neckarwestheim II auf die Anlage in Obrigheim übertragen wollte. Dies hätte eine Laufzeitverlängerung um fünfeinhalb Jahre bedeutet. Trittin kürzte die Strommenge auf 5,5 Terawattstunden, was einer Laufzeitverlängerung um zwei Jahre entspricht. Außerdem verband er die Genehmigung mit der Auflage, diese Strommenge nicht von der Restlaufzeit des Kernkraftwerks Neckarwestheim II abzuziehen - dem jüngsten aller Reaktoren - , sondern vom wesentlich älteren Block I des Kernkraftwerks Philippsburg.

Das Kernkraftwerk Obrigheim würde somit noch vor den nächsten Bundestagswahlen abgeschaltet. Es wäre der zweite Reaktor, der nach Inkrafttreten der Ausstiegs-Vereinbarung (010602) und der darauf basierenden Novellierung des Atomgesetzes (020404) vom Netz geht. Bereits im Oktober 2000 hatte E.ON angekündigt, das inzwischen 30 Jahre alte Kernkraftwerk Stade bis zum Herbst 2003 stillzulegen (001003).

Streit um die Einlösung einer mündlichen Zusage Schröders gegenüber EnBW-Chef Goll

Obrigheim ist seit 1968 in Betrieb und damit das älteste Kernkraftwerk in Deutschland. Beim Inkrafttreten der Vereinbarung über den Ausstieg aus der Kernenergie hatte es die vorgesehene durchschnittliche Laufzeit von 32 Jahren bereits erreicht. In der Vereinbarung wurde ihm deshalb ausdrücklich eine Übergangsfrist bis Ende 2002 eingeräumt. Die Vereinbarung ermöglicht zwar die Übertragung von Strommengen von älteren auf jüngere Anlagen, so daß die Kernkraftwerksbetreiber die Laufzeiten ihrer Anlagen im Einzelfall verändern können. Die Übertragung von Strommengen von jüngeren auf ältere Anlagen ist aber nur mit Zustimmung der Bundesregierung möglich. EnBW-Chef Gerhard Goll stimmte deshalb im Juni 2000 der Ausstiegs-Vereinbarung erst zu, nachdem ihm Bundeskanzler Gerhard Schröder unter vier Augen zugesichert hatte, die Bundesregierung werde einen Antrag der EnBW auf Verlängerung der Laufzeit für Obrigheim genehmigen.

Gerüchte über eine derartige "Geheimabsprache" gab es schon damals. Schröder sicherte sich damit in letzter Minute die Zustimmung von EnBW-Chef Gerhard Goll zum Kompromiß über den Ausstieg aus der Kernenergie (000601). Andernfalls wäre der Kompromiß zwischen Bundesregierung und Kernkraftwerksbetreibern an der EnBW gescheitert. (Spiegel, 7.10.; Berliner Zeitung, 17.10.).

Der Verlängerungsantrag der EnBW datiert vom 26. September. Bereits am 3. April hatte Goll beim Umweltministerium wegen einer Verlängerung vorgefühlt. Presseberichten zufolge kam es daraufhin am 10. April zu einem Treffen zwischen Schröder und Goll, bei dem der Bundeskanzler seine Zusage bekräftigte. Der Staatssekretär im Umweltministerium, Rainer Baake, soll ebenfalls an dem Treffen teilgenommen haben, was Baake indessen entschieden bestreitet (SZ, 19.10.; Berliner Zeitung,19.10.: Welt, 21.10.)

Die beantragte Verlängerung für Obrigheim belastete zeitweilig erheblich die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Grünen. Führende Politiker der Grünen lehnten zunächst jede Verlängerung der Laufzeit ab, obwohl anscheinend zumindest Bundesumweltminister Jürgen Trittin seinerzeit von Schröder über die Zusage an die EnBW informiert worden war. Im Koalitionsvertrag vom 16. Oktober ( 021001) sind der Konflikt um Obrigheim und der Kompromiß zu seiner Beilegung nicht erwähnt - vermutlich, weil sonst die Annahme des Koalitionsvertrags durch den Parteitag der Grünen gefährdet gewesen wäre. EnBW-Chef Gerhard Goll bekundete Verständnis für die politischen Zwänge, die Gerhard Schröder zu Abstrichen an seiner ursprünglichen Zusage nötigten. Dagegen übten Umweltorganisationen und Teile der Grünen heftige Kritik an dem Kompromiß: Der vorgesehene Ausstieg aus der Kernenergie werde damit zur "Farce".

Trittin entdeckt plötzlich "gravierende Sicherheitsmängel" in Obrigheim

Noch während der Auseinandersetzung um den EnBW-Antrag auf Laufzeitverlängerung für Obrigheim hatte Bundesumweltminister Trittin die Atomaufsicht des Landes Baden-Württemberg zu einem bundesaufsichtlichen Gespräch einbestellt, um "gravierende Mängel" im Sicherheitsmanagement des Kernkraftwerks Obrigheim zu erörtern. Der Stuttgarter Umweltminister Ulrich Müller (CDU) lehnte es indessen zweimal ab, der Aufforderung Trittins Folge zu leisten, da es sich offensichtlich um eine "politische Schauveranstaltung" für die Koalitionsverhandlungen und den bevorstehenden Parteitag der Grünen handele. Einige Tage später übersandte er dem Bundesumweltministerium eine schriftliche Stellungnahme (Stuttg. Ztg., 14.10. , 15.10., 26.10.)

In der Tat bezog sich das Bundesumweltministerium auf Sicherheitsmängel, die bereits seit einem Jahr bekannt sind. Damals hatte sich im Zusammenhang mit der Affäre um das Kernkraftwerk Philippsburg herausgestellt, daß auch in Obrigheim und Neckarwestheim  die Füllstände in den Notkühlbehältern jahrelang zu niedrig waren ( 011001). Die für Obrigheim zuständige Staatsanwaltschaft Mosbach leitete deshalb Ermittlungen ein und beauftragte den Bremer Physiker Richard Donderer mit einem Gutachten. Auf einen Bericht dieses Sachverständigen, der auch Mitglied der Reaktorsicherheitskommission ist (990303), berief sich das Bundesumweltministerium bei seiner jetzigen Vorladung.

Jahrelanger Streit um die Dauerbetriebsgenehmigung für Obrigheim

Der Obrigheimer Druckwasserreaktor war im Auftrag der EnBW-Vorgänger EVS und Badenwerk sowie mehrerer regionaler Stromversorger von der Siemens AG errichtet und 1968 in Betrieb genommen worden. Mit 340 MW verfügt er nur über knapp ein Viertel der Leistung modernerer Anlagen wie Neckarwestheim II oder Philippsburg II. 1987 stellte sich überraschend heraus, daß dem Reaktor die förmliche Genehmigung für den Dauerbetrieb fehlte. Nach einer jahrelangen juristischen Auseinandersetzung erteilten die SPD-Landesminister Schäfer (Umwelt) und Spöri (Wirtschaft) 1992 die abschließende Genehmigung für den Weiterbetrieb ( 920804). Anfang 1994 tauchten Vorwürfe wegen Sicherheitsmängeln auf (940110), die den Landtag zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses veranlaßten (940216) und vorübergehend die Abschaltung des Reaktors zur Folge hatten (940310). Im April 1995 wurde die abschließende Genehmigung für den Weiterbetrieb durch ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs wieder aufgehoben (950404). Das baden-württembergische Umweltministerium sah jedoch keinen Anlaß, an der Sicherheit der Anlage zu zweifeln (951003). Im Januar 1997 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht die 1992 erteilte Dauerbetriebsgenehmigung (970115). Im Oktober 1999 wies EnBW-Chef Goll einen Bericht zurück, wonach er der rot-grünen Bundesregierung die vorzeitige Abschaltung des Reaktors als Gegenleistung für politische Unterstützung des Einstiegs der EdF bei der EnBW angeboten habe (991007).