Oktober 2001

011001

ENERGIE-CHRONIK


Zwei EnBW-Vorstände wegen Panne im KKW Philippsburg zurückgetreten

Wegen einer sicherheitstechnischen Panne im Block 2 des Kernkraftwerks Philippsburg und damit verbundenen Fehlverhaltens traten Mitte Oktober zwei führende Manager der Energie Baden-Württenberg (EnBW) von ihren Posten zurück. Es handelt sich um den technischen Vorstand der EnBW Kraftwerke AG, Ulrich Gräber, und den für Technik zuständigen EnBW-Konzernvorstand Klaus Kasper.

Anlaß war, daß die Flutbehälter des Notkühlsystems nach der Wiederinbetriebnahme des Reaktors im August dieses Jahres nicht den vorgeschriebenen Borsäure-Gehalt aufwiesen. Nach dem Rücktritt der beiden Manager stellte sich zusätzlich heraus, daß Füllstände in den Notkühlbehältern zu niedrig waren und daß dieser Mangel seit 17 Jahren beim Wiederanfahren nach Revisionen in Kauf genommen worden war.

Die Affäre bewegte auch die Politik: Im baden-württembergischen Landtag forderten SPD und Grüne am 24. Oktober den Rücktritt von Umweltminister Ulrich Müller (CDU). Auf Bundesebene profilierte sich Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) als treibende Kraft bei der Aufdeckung der Nachlässigkeiten. Trittin forderte die Atomaufsichtsbehörden der Länder auf, das Qualitätsmanagement bei Betrieb und Überwachung sämtlicher Kernkraftwerke zu überprüfen.

In drei von vier Flutbehältern zu wenig Borsäure

Block 2 des Kernkraftwerks Philippsburg war am 12. August 2000 nach Abschluß der Jahresrevision wieder in Betrieb gegangen. Erst am 25. August wurde bemerkt, daß einer der Flutbehälter des Notkühlsystems nicht die vorgeschriebene Borsäurekonzentration aufwies. Und erst am 28. August stand nach Überprüfung sämtlicher vier Flutbehälter fest, daß mindestens drei nicht den vorgeschriebenen Borsäure-Wert hatten. Die EnBW schaltete die Anlage indessen nicht ab, sondern behob den Borsäure-Mangel in den folgenden Tagen bei laufendem Betrieb, so daß spätestens am 6. September in allen Behältern die vorgeschriebene Borsäure-Konzentration wieder zur Verfügung stand. Sie ordnete den Vorfall auch nur in die Stufe 0 der internationalen Bewertungsskala INES ein. Demnach hätte er keine oder nur sehr geringe sicherheitstechnische Bedeutung gehabt.

Bundesumweltministerium veranlaßt höhere Einstufung

Das baden-württembergische Umweltministerium als atomrechtliche Aufsichtsbehörde erfuhr erstmals am 27. August im Wege einer "Normalmeldung N" von dem Vorfall. Der Technische Überwachungsverein (TÜV) Süddeutschland bestätigte dem Ministerium in einer gutachterlichen Stellungnahme zunächst die Richtigkeit der Einstufung. Dies änderte sich allerdings, als das ebenfalls informierte Bundesumweltministerium die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) und die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) einschaltete. Nach deren Einschätzung hätte der Vorfall in Stufe 1 bzw. 2 der INES-Skala eingeordnet werden müssen. Stufe 2 hätte die unverzügliche Abschaltung des Reaktors bedeutet.

EnBW bestreitet zunächst Fehlverhalten

Am 28. September äußerte das Bundesumweltministerium in einer Pressemitteilung erstmals öffentlich Zweifel an der Einstufung. Am 5. Oktober stellte Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) die Zuverlässigkeit des Betreibers in Frage und bestellte seinen Stuttgarter Amtskollegen Ulrich Müller (CDU) für den folgenden Tag zu einem bundesaufsichtlichen Gespräch nach Berlin. Am 7. Oktober teilte Trittin mit, daß die EnBW sich zur Abschaltung von Philippsburg 2 bereiterklärt habe.

Die EnBW bestritt zunächst ein Fehlverhalten. Sie betonte, daß sie Block 2 freiwillig vorübergehend vom Netz nehme und daß auch der TÜV ihre Bewertung des Ereignisses geteilt habe. Es habe "zu keinem Zeitpunkt ein Sicherheitsrisiko" bestanden. Bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung gehe es "ausschließlich um die Frage, wie ein formales Abweichen von den Betriebsvorschriften bei der Einstufung des meldepflichtigen Ereignisses zu bewerten ist", hieß es in einer Pressemitteilung vom 6. Oktober.

EnBW-Chef Goll greift durch - zwei Vorstände müssen gehen

Inzwischen erklärten freilich das Stuttgarter Umweltministerium und der TÜV, sie seien von der EnBW unzureichend informiert worden. Umweltminister Ulrich Müller bekundete am 8. Oktober "ernsthafte Zweifel an einer hinreichend zuverlässigen Betriebsführung der Anlage". Die EnBW habe den Sachverhalt erst am 5. Oktober hinreichend dargestellt und eine Reihe von Fehlern eingeräumt. Ähnlich äußerte sich ein Sprecher des TÜV.

Noch am selben Tag meldete sich EnBW-Chef Gerhard Goll persönlich zu Wort: Per Pressemitteilung ließ er wissen, daß er im wesentlichen den Standpunkt des TÜV teile; wenn ihm die seit 25. August vorliegenden Erkenntnisse übermittelt worden wären, hätte er - nach dem Grundsatz "im Zweifel immer" - die Anlage abschalten lassen. Zugleich korrigierte Goll öffentlich seinen Pressesprecher Klaus Wertel: Dieser irre sich, wenn er die Auffassung vertrete, der TÜV müsse den Vorwurf mangelnder Information erst mal nachweisen.

"Es ist unsere Aufgabe, das uneingeschränkte Vertrauen aller in unser Tun wiederherzustellen", erklärte Goll in einer weiteren Pressemitteilung vom 9. Oktober. "Dazu gehört zunächst, Fehler einzugestehen. Unser Kraftwerksbereich hat menschliche Fehler gemacht." Er selbst habe von der Sachlage "ansatzweise" erst am 6. Oktober und ausführlich erst am Vortag erfahren. Personelle Konsequenzen seien nun unumgänglich: Am 12. Oktober teilte die EnBW die Ablösung Ulrich Gräbers als technischer Vorstand der EnBW Kraftwerke AG mit. Nachfolger Gräbers wurde Otto Hasenkopf, der seine bisherige Funktion als technischer Vorstand der Neckarwerke Stuttgart (NWS) beibehält. Am 15. Oktober legte Klaus Kasper "im HInblick auf die Ereignisse um das Kernkraftwerk Philippsburg" sein Amt als technischer Vorstand bei der EnBW-Holding nieder. Kasper wird anscheinend für das unglückliche Taktieren der EnBW gegenüber den Vorstößen des Bundesumweltministeriums verantwortlich gemacht. Im übrigen soll er selber erst nach vier Wochen von dem Störfall erfahren haben.

Trittin gibt Füllstands-Mängel bekannt

Am 24. Oktober teilte das Bundesumweltministerium mit, daß die EnBW einen weiteren Mangel in Block 2 gemeldet habe: Beim Wiederanfahren des Reaktors waren die vorgeschriebenen Kühlmittel-Füllstände in allen vier Flutbehältern deutlich unterschritten worden. Es handele sich dabei um kein einmaliges Versäumnis, sondern dieses Risiko sei beim Wiederanfahren von Block 2 seit 17 Jahren nach Revisionen in Kauf genommen worden. Damit hätte möglicherweise das Wasser nicht ausgereicht, um bei einem Störfall die Notkühlung zu unterhalten.

Die EnBW gab erst am 26. Oktober eine Pressemitteilung heraus, in der sie über die Abweichungen von den vorgeschriebenen Füllständen berichtete. Ähnliche Abweichungen habe es in den Kernkraftwerken Obrigheim und Neckarwestheim gegeben, an denen die EnBW maßgeblich beteiligt ist. Zugleich kündigte EnBW-CheF Goll die Einsetzung eines neutralen nuklearen Sonderbeauftragten an, der unabhängig von Weisungen der EnBW sei und Zugang zu allen relevanten Vorgängen und Daten bekommen werde.

Umweltminister Ulrich Müller (CDU) geriet wegen der Füllstands-Mängel erneut unter Druck. Wie sich herausstellte, waren seine Beamten schon am 16. Oktober von EnBW-Seite formlos über die neuen Erkenntnisse unterrichtet worden. Sie informierten den Minister aber erst, nachdem die EnBW am 22. Oktober eine "Sofortmeldung" der Stufe 2 nachgereicht hatte. Die Oppositionsparteien warfen Müller bewußtes Verschweigen vor. Erneut ins Visier der Kritik geriet auch der Leiter der Atomabteilung, Ministerialdirigent Dietmar Keil, den Müller erst in der Landtagsdebatte am 24. Oktober in Schutz genommen hatte.

Außerplanmäßige Stillstände bei drei Reaktoren

Die EnBW veröffentlichte am 23. Oktober eine Ad-hoc-Mitteilung nach § 15 WpHG, wonach Block 2 des Kernkraftwerks Philippsburg voraussichtlich bis Ende November abgeschaltet bleibe. Am dritten Oktober-Wochenende lagen kurzfristig sogar beide Blöcke des Kernkraftwerks still, weil in Block 1 ein klemmendes Ventil ausgetauscht werden mußte. Außerdem konnte das Kernkraftwerk Neckarwestheim nicht, wie geplant, nach Abschluß der Revision am 30. Oktober wieder in Betrieb genommen werden. Die neuntägige Revision hatte dort vier meldepflichtige Ereignisse zutage gefördert, die von der EnBW in die Kategorie N (normal) eingestuft wurden.

"Kleiner Polit-Gau für die EnBW"

Nach Meinung des "Handelsblatt" (15.10.) lieferte die EnBW mit ihrer anfänglichen Hinhaltetaktik dem Bundesumweltminister "eine Steilvorlage, sich als tatkräftiger Vorkämpfer der Sicherheit in Kernkraftwerken zu profilieren". Die Stuttgarter CDU-Landesregierung habe sich bisher immer vehement für die Kernenergie eingesetzt. Es sei deshalb für die EnBW "ein kleiner Polit-Gau" gewesen, als Trittin auch den Stuttgarter Amtskollegen Ulrich Müller von seiner Linie überzeugen konnte.

Die "Süddeutsche Zeitung" (24.10.) kommentierte: "Das für Störfälle ausgetüftelte System an Barrieren und unabhängig voneinander funktionierenden Sicherheitsebenenen ist nichts wert, wenn es nicht ernst genommen wird. Es kann zwar in weitem Umfang menschliches Versagen wettmachen, es versagt aber, wenn Menschen bewußt Risiken in Kauf nehmen. So verspielt die Kernenergie das Vertrauen derer, die ihr noch vertrauten."