Juni 2020

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


Nur grüner Wasserstoff nützt dem Klima

Der sauberste aller Brennstoffe ist nur dann wirklich sauber, wenn er mit Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt wird

(zu 200610)

"Ein reines Elektroauto war ihm nicht genug: Dudenhofens Pfarrer Josef Metzinger hat sich einen Wagen mit Brennstoffzelle gekauft. Das Auto wird mit Wasserstoff getankt, beim Fahren entsteht Wasserdampf als einziges Abgas. Metzingers Motivation für den kostspieligen Autokauf, für den er sogar einen Kredit aufnahm: Der Schutz der Schöpfung."

So begann unlängst ein Artikel in der Heidelberger "Rhein-Neckar-Zeitung", die zu den besseren deutschen Regionalzeitungen gehört, in diesem Fall aber fünf gerade sein ließ: Ein Brennstoffzellen-Fahrzeug ist nämlich unter den bisher gegebenen Umständen keineswegs der Gipfel klimafreundlicher Mobilität. Obwohl es tatsächlich keine Treibhausgase ausstößt, belastet es das Klima stärker als ein Batterie-Elektroauto, das im Fahrbetrieb ebenfalls CO2-frei ist, aber mit Strom betankt wird, der noch immer zur Hälfte durch Verbrennung von Kohle, Gas oder Öl erzeugt wird. Beim Brennstoffzellen-Auto ist diese Umweltbilanz noch schlechter, weil der benötigte Wasserstoff in aller Regel aus Erdgas, Kohle oder anderen fossilen Energien gewonnen wird, wobei erhebliche Mengen an Treibhausgasen frei werden.

Der technikaffine Gottesmann wäre deshalb mit einem Batterie-Auto besser bedient, falls es tatsächlich der "Schutz der Schöpfung" ist, der ihn zum Umstieg motiviert hat. Er bräuchte dann auch nicht 40 Kilometer weit bis zur nächsten Wasserstoff-Tankstelle in Heidelberg zu fahren. Das Elektroauto käme ihn außerdem billiger als die 77.000 Euro für das Brennstoffzellen-Fahrzeug.

Das ändert freilich nichts daran, dass die Wasserstoff-Technologie eine entscheidende Rolle bei der Energiewende spielt und Brennstoffzellen eines Tages sogar die Batterien verdrängen könnten. Insofern ist es erfreulich, wenn neuerdings das Thema Wasserstoff alle möglichen Wirtschaftskreise und Politiker bewegt. Zugleich muss allerdings differenziert werden zwischen grünem, blauem, grauem oder türkisem Wasserstoff sowie den unterschiedlichen Motivationen der Akteure, die sich für eine oder mehrere dieser Etikettierungen engagieren (siehe weiter unten). Sonst kommt es leicht zu Illusionen darüber, was Wasserstoff zu leisten vermag. Zum Beispiel dient es eben nicht sonderlich dem "Schutz der Schöpfung", wenn jemand sein Auto mit industrieüblichem Wasserstoff betankt. Da könnte er einfacher und billiger mit dem Vorprodukt Erdgas fahren.

Auf der Erde ist Wasserstoff ein Sekundär-Energieträger

Unzweifelhaft ist Wasserstoff aber der sauberste aller Brennstoffe, sofern von der Art seiner Gewinnung abgesehen wird. Seine Verbrennung hinterläßt nichts weiter als Wasser. Dass bei hohen Temperaturen auch Stickoxide entstehen, kann durch geeignete Techniken vermieden werden.

Im Universum ist Wasserstoff mit Abstand das häufigste Element. Dazu gehört die Sonne, wo er durch Kernfusion jene Energie freisetzt, die das Leben auf der Erde überhaupt erst hervorgebracht hat und bis heute ermöglicht. Auf unserem Planeten kommt er jedoch in atomarer Form (H) so gut wie gar nicht und auch als Elementmolekül (H2) nur in Verbindungen vor. Das liegt daran, dass er von der Anziehungskraft der Erde nicht in der Atmosphäre gehalten werden kann. Am häufigsten verbindet sich das Elementmolekül H2 mit Sauerstoff (O) zu Wasser (H2O). Um dieses H2 aus Wasser oder aus einer anderen Verbindung herauszulösen, bedarf es eines erheblichen Aufwandes an Energie.

Wasserstoff ist deshalb kein Primärenergieträger wie die fossilen Brennstoffe Kohle, Öl und Erdgas oder auch Sonnenstrahlung und Windkraft, sondern ein Sekundärenergieträger, der erst unter Einsatz von Primärenergie gewonnen werden muss. Das verbindet ihn mit dem elektrischen Strom, den die Natur in praktisch verwertbarer Form ebenfalls nicht bereithält. Deshalb hat es auch bis in die Neuzeit gedauert, bis beide Energieträger entdeckt wurden. Beim Wasserstoff war es der britische Chemiker Henry Cavendish, der 1766 erstmals die "brennbare Luft" beschrieb, die bei der Einwirkung von Säure auf Metalle entstand.

Das frühere "Stadtgas" bestand zur Hälfte aus Wasserstoff

Praktische Bedeutung erlangte Wasserstoff mit dem Aufkommen der städtischen Gasversorgungen im 19. Jahrhundert. Das "Leuchtgas", wie es bis zum Siegeszug der elektrischen Beleuchtung hieß, bestand etwa zur Hälfte aus Wasserstoff. Der Rest waren Methan und andere Kohlenwasserstoffe. Genauso beschaffen war das "Stadtgas", mit dem in der Bundesrepublik bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts Haushalte und Gewerbe versorgt wurden (in der DDR sogar größtenteils bis zu deren Ende). Speziell für die Bedürfnisse der Stahl- und Chemieindustrie entstanden an der Ruhr und im mitteldeutschen Industriegebiet schon vor über achtzig Jahren reine Wasserstoff-Leitungen.

Die Erzeugung von Wasserstoff ist also nichts neues. Seine großtechnische Nutzung für die Ammoniaksynthese und andere industrielle Verfahren ist ebenfalls schon mehr als hundert Jahre alt. Bis heute wird der weltweite Bedarf an Wasserstoff jedoch zu mehr als neunzig Prozent aus fossilen Energieträgern gedeckt, wobei an die Stelle der Kohle inzwischen das Erdgas als wichtigster Ausgangsstoff getreten ist. Nur bescheidene Bedeutung erlangte dagegen die Elektrolyse, obwohl sie ebenfalls schon seit zweihundert Jahren bekannt ist. Das lag vor allem an den höheren Kosten dieses Verfahrens, das sich nur in Nischen behaupten konnte.

Vier Farben symbolisieren unterschiedliche Techniken zur Gewinnung desselben Produkts

Das soll nun anders werden. Am 10. Juni hat die schwarz-rote Bundesregierung endlich ihre "Nationale Wasserstoffstrategie" vorgelegt, die ursprünglich bereits für März angekündigt war. Die Verzögerung hatte zum Teil mit der Corona-Krise zu tun, zum Teil aber auch mit Meinungsverschiedenheiten über den Stellenwert von elektrolytisch erzeugtem "grünen" Wasserstoff. Die Etikettierung ein- und desselben Stoffs mit insgesamt vier Farben wird im Glossar auf der letzten Seite des Papiers so erklärt:

Grüner Wasserstoff wird durch Elektrolyse von Wasser hergestellt, wobei für die Elektrolyse ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien zum Einsatz kommt. Unabhängig von der gewählten Elektrolysetechnologie erfolgt die Produktion von Wasserstoff CO2-frei, da der eingesetzte Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen stammt und damit CO2-frei ist.

Grauer Wasserstoff stammt aus fossilen Brennstoffen. In der Regel wird dabei Erdgas unter Hitze in Wasserstoff und CO2 umgewandelt (Dampfreformierung). Das CO2 wird anschließend ungenutzt in die Atmosphäre abgegeben und verstärkt so den globalen Treibhauseffekt: Bei der Produktion einer Tonne Wasserstoff entstehen rund 10 Tonnen CO2.

Blauer Wasserstoff ist grauer Wasserstoff, dessen CO2 bei der Entstehung jedoch abgeschieden und gespeichert wird (engl. Carbon Capture and Storage, CCS). Das bei der Wasserstoffproduktion erzeugte CO2 gelangt so nicht in die Atmosphäre und die Wasserstoffproduktion kann bilanziell als CO2-neutral betrachtet werden.

Türkiser Wasserstoff ist Wasserstoff, der über die thermische Spaltung von Methan (Methanpyrolyse) hergestellt wurde. Anstelle von CO2 entsteht dabei fester Kohlenstoff. Voraussetzungen für die CO2-Neutralität des Verfahrens sind die Wärmeversorgung des Hochtemperaturreaktors aus erneuerbaren Energiequellen sowie die dauerhafte Bindung des Kohlenstoffs.

Die vier Farben stehen also für unterschiedliche Techniken zur Gewinnung desselben Produkts. Der Wasserstoff an sich ist so farblos wie der Sauerstoff, mit dem er sich zu Wasser verbindet. Auch sonst gibt es qualitativ keinen Unterschied zwischen den vier Wasserstoff-Kategorien, wenn man mal davon absieht, dass der Reinheitsgrad bei der elektrolytischen Erzeugung am größten ist. Die Unterscheidung bezieht sich lediglich auf die Treibhausgase, die bei der Gewinnung entweder erst gar nicht entstehen, in großem Umfang das Klima belasten oder mehr schlecht als recht am Entweichen in die Atmosphäre gehindert werden.

"Power-to-X" kann "Strom zu Gas" oder "Strom zu Sprit" bedeuten

Es gibt verschiedene Verfahren, um aus grünem Wasserstoff Ammoniak, Methanol, Methan oder andere Folgeprodukte zu gewinnen. Sofern diese Folgeprodukte nicht feststehen oder nicht konkret benannt werden sollen, wird gern von Power-to-X (PtX) gesprochen. Wenn sie in gasförmiger oder flüssiger Form anfallen, ist entsprechend von Power-to-Gas (PtG) bzw. von Power-to-Liquid (PtL) die Rede. Gemeint ist jeweils die elektrolytische Erzeugung von Wasserstoff, der entweder direkt verwertet oder in andere Brennstoffe umgewandelt wird.

Anschaulicher sind die deutschen Bezeichnungen "Strom zu Gas" und "Strom zu Sprit". Dabei enthält "Strom zu Gas" in beiden Sprachen insofern eine gewisse Unschärfe, als eben nicht nur die Umwandlung von Strom zu Wasserstoff gemeint ist, sondern auch dessen Überführung in Methan oder andere Energieträger. Eine derartige Weiterverarbeitung kann aber nur in Ausnahmefällen sinnvoll sein. Besonders gilt das für "Strom zu Sprit".

Grünstrom ist zu knapp und wertvoll für "Power Fuels"

In der Wasserstoffdiskussion, wie sie gegenwärtig von interessierten Wirtschaftskreisen und ihren politischen Unterstützern geführt wird, wird trotzdem oft so getan, als ob "Power Fuels" die fossilen Brennstoffe ersetzen und ablösen müssten. Diese synthetischen Kraftstoffe werden als "klimaneutral" bezeichnet, weil der dazu verwendete Wasserstoff mit Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt wurde. Tatsächlich emittieren sie nur soviel Kohlendioxid, wie bei ihrer Herstellung der Atmosphäre entzogen wurde. In einer Broschüre der Deutschen Energie-Agentur (dena), die dem Bundeswirtschaftsministerium untersteht, werden die "Power Fuels" deshalb sogar zur "dritten Säule" der Energiewende verklärt:

"Die direkte Nutzung erneuerbaren Stroms sowie die umfangreiche Hebung von Energieeffizienzpotenzialen gelten als die beiden zentralen Säulen der Energiewende. Studien der vergangenen Monate haben jedoch gezeigt, dass für die Erreichung der klimapolitischen Ziele eine dritte Säule hinzukommt: der Einsatz von Power Fuels."

Es wird also dafür plädiert, Verbrennungsmotoren nicht mit Benzin, Diesel oder Kerosin, sondern mit synthetischen Kraftstoffen zu betreiben. Zugleich wird so getan, als ob sich grüner Wasserstoff in hinreichenden Mengen erzeugen ließe, um daraus massenhaft gasförmige oder flüssige Energieträger herzustellen.

Das ist freilich eine Milchmädchenrechnung. Der Klimaschutz steht und fällt mit der möglichst effizienten Verwendung des Stroms aus erneuerbaren Energien. Von Effizienz kann bei "Power fuels" aber keine Rede sein: Damit betriebene Autos benötigen ungefähr fünfmal soviel Energie wie batteriebetriebene Fahrzeuge. Der letztendliche Wirkungsgrad der aufgewendeten elektrischen Energie beträgt lediglich ungefähr 13 Prozent. Das liegt an den kumulierten Verlusten bei Elektrolyse, Umwandlung zu Sprit und im Verbrennungsmotor. Auch ein Brennstoffzellen-Fahrzeug würde – trotz der auch hier auftretenden Verluste bei der Elektrolyse –  besser abschneiden, denn es kann den grünen Wasserstoff mit einem Wirkungsgrad von rund siebzig Prozent wieder in Strom verwandeln, der dann durch den Elektromotor fast ungeschmälert in kinetische Energie umgesetzt wird.

Wenn ein Großteil des Stroms aus erneuerbaren Quellen für den "klimaneutralen" Betrieb von Verbrennungsmotoren verwendet wird, ist das deshalb kein Beitrag zum Klimaschutz. Es schwächt ihn sogar, weil der noch immer viel zu geringe Erneuerbaren-Anteil an der Stromerzeugung in ineffizienter Weise vergeudet wird und für sinnvollere Anwendungen nicht mehr zur Verfügung steht. Sinnvoller sind beispielsweise eben Fahrzeuge mit Batterien oder Brennstoffzellen.

In dem Papier zur "Nationalen Wasserstoffstrategie", das die Koalition jetzt vorgelegt hat, taucht der Begriff "Power Fuels" übrigens nicht auf. Die Sache allerdings schon. Sie wird nun jedoch anders umschrieben und – vermutlich auf Drängen des Koalitionspartners SPD und des Bundesforschungsministeriums – auf namentlich genannte Ausnahmen beschränkt:

"Insbesondere in der Luftfahrt, zu Teilen im Schwerlastverkehr, bei mobilen Systemen für die Landes- und Bündnisverteidigung und in der Seeschiffahrt sind viele Routen und Anwendungen nicht rein elektrisch darstellbar. Deshalb müssen die derzeit eingesetzten fossilen Einsatzstoffe und Energieträger durch auf erneuerbarem Strom basierende Alternativen, wie z. B. durch PtX-Verfahren hergestelltes Kerosin, ersetzt werden."

Grauer Wasserstoff würde noch 2030 einen Anteil von achtzig Prozent haben

Dafür taucht in dem Papier der Koalition ein neuer Großverbraucher auf, der das bescheidene Potential an grünem Wasserstoff ebenfalls restlos verzehren könnte und dann noch lange nicht satt wäre. Das sind die rund 70 Terawattstunden Wasserstoff, welche die deutsche Industrie gegenwärtig jährlich verbraucht und die zu mehr als neunzig Prozent aus fossilen Brennstoffen erzeugt werden. "Diese Anwendungen müssen soweit wie möglich in eine auf grünem Wasserstoff basierende Produktion überführt werden", heißt es in dem Papier.

Das ist im Prinzip richtig. Es kommt allerdings darauf an, wie man die Einschränkung "so weit wie möglich" versteht. Momentan hapert es in Deutschland schon beim weiteren Ausbau landgestützter Windkraftanlagen als der bislang ergiebigsten regenerativen Stromquelle. Die Nutzung der Windkraft auf See kam aus anderen Gründen nicht so voran, wie das ursprünglich geplant war (200506). Wenn nun Offshore-Windparks speziell für die Erzeugung von Wasserstoff ausgewiesen werden sollen, geht das zwangsläufig zu Lasten der Einspeisung ins Netz der allgemeinen Stromversorgung.

Die Bundesregierung stellt in ihrem Papier fest, dass nur grüner Wasserstoff "auf Dauer nachhaltig" sein kann. Sie verfolge deshalb das Ziel, "grünen Wasserstoff zu nutzen, für diesen einen zügigen Markthochlauf zu unterstützen sowie entsprechende Wertschöpfungsketten zu etablieren". Bis zum Jahr 2030 sollen Elektrolyse-Anlagen mit einer Leistung bis zu insgesamt 5 Megawatt errichtet werden, und zwar "einschließlich der dafür erforderlichen Offshore- und Onshore-Energiegewinnung". Im Idealfall wären das Windkraft- oder Solaranlagen, die jährlich bis zu 20 Terawattstunden liefern, mit denen bis zu 14 Terawattstunden grüner Wasserstoff erzeugt werden könnte. Bis spätestens 2040 sollen weitere 5 Megawatt Elektrolyse-Kapazität hinzukommen.

An der Dominanz des grauen Wasserstoffs würde das aber selbst dann nichts ändern, wenn die Elektrolyseure zu hundert Prozent aus erneuerbaren Energiequellen gespeist würden anstatt aus dem normalen Strom-Mix. Der gesamte deutsche Wasserstoff-Bedarf wird derzeit zu sieben Prozent per Elektrolyse gedeckt. Demnach stünde bis 2030 mehr als dreimal soviel grüner Wasserstoff zur Verfügung. Zugleich rechnet das Papier aber mit einem Anstieg des Gesamtbedarfs auf 90 bis 110 Terawattstunden bis 2030, weshalb grauer Wasserstoff mit einem Anteil von mindestens achtzig Prozent weiterhin dominieren würde. Ferner wird von Schätzungen gesprochen, wonach bis 2050 für die Umstellung der deutschen Stahlproduktion jährlich über 80 Terawattstunden an "treibhausgasneutralem" Wasserstoff benötigt würden. Hinzu kämen weitere 22 TWh für die Umstellung der deutschen Raffinerie- und Ammoniakproduktion. Zusammen ergäbe das einen Bedarf von gut 100 Terawattstunden klimaneutralen Wasserstoffs allein für die Stahl- und Chemieindustrie.

Stromspeicherung mit Wasserstoff wurde bisher völlig vernachlässigt

Es wird schon schwer genug sein, die gesetzlich fixierten Zielvorgaben für die Erhöhung des Erneuerbaren-Anteils am Stromverbrauch zu erreichen. Woher sollen die zusätzlichen Kapazitäten für grünen bzw. klimaneutralen Wasserstoff kommen? Die regelmäßig auftretenden Überschüsse an EEG-Strom, die aus netztechnischen Gründen abgeregelt, ins Ausland exportiert oder zu Fernwärme verbraten werden, bringen mengenmäßig nicht genug. Sie hätten aber schon längst der Anlass sein müssen, ein System zur Stromspeicherung mittels der Elektrolyse zu entwickeln, die sich für die Umwandlung einer fluktuierenden Stromeinspeisung zu Wasserstoff sehr gut eignet. Der so erzeugte Wasserstoff könnte dann rückverstromt werden, um kleinere oder größere Schwankungen des Stromverbrauchs auszugleichen. Der Betrieb solcher Anlagen würde am besten den Netzbetreibern überlassen. Aber so etwas passt natürlich nicht zu dem etablierten System, das die Netzbetreiber verpflichtet, ihren ganzen Regelenergie-Bedarf in einem komplizierten und manipulationsanfälligen Bieterverfahren täglich neu bei externen Anbietern einzukaufen.

Im Programm der Bundesregierung wird diese genauso sinnvolle wie naheliegende Verwendung von grünem Wasserstoff zum Ausgleich von Lastschwankungen nicht einmal erwähnt. Und auch die Ambitionen der Übertragungsnetzbetreiber gehen bisher in eine andere Richtung: Sie haben sich in zwei Konsortien mit den Gasfernleitungsbetreibern zusammengetan, um gemeinsam Großanlagen mit einer Elektrolyse-Leistung bis zu 100 MW zu errichten (181008). Eine Rückverstromung ist dabei nicht geplant. Es geht also nur um die Ersetzung von grauem Wasserstoff. Die Bundesnetzagentur hat die Genehmigung solcher Power-to-Gas-Projekte unter Verweis auf die geltende Rechtslage abgelehnt (190805). Das neoliberale Grundgerüst des Energiemarktes ist aber durchaus flexibel, sobald mächtige Kapitalinteressen ins Spiel kommen. Das bisherige "Unbundling" beginnt deshalb an bestimmten Stellen schon zu bröckeln. Dies zeigt beispielsweise die Änderung des Wind-auf-See-Gesetzes, das seit mehr als zwei Jahren die Errichtung von Offshore-Windkraftanlagen erlaubt, die nicht ins Netz einspeisen, sondern Wasserstoff erzeugen (181105). Rückenwind bekam das Bündnis von Strom- und Gasnetzbetreibern auch durch den Bundesrat, der ein "Markthochlaufprogramm" zur elektrolytischen Wasserstofferzeugung forderte (190207).

Umstieg von Erdgas auf Wasserstoff ist für Netzbetreiber langfristig vorteilhaft

Der Abbau bisher bestehender Hemmnisse wie der Strombesteuerung und die gezielte Förderung von Elektrolyse-Anlagen an Land wie auf See sind sicher geeignet, um die Erzeugung von grünem Wasserstoff und dessen sinnvolle Verwendung voranzubringen. Es muss aber aber zugleich verhindert werden, dass private Profitinteressen über Gebühr bedient werden. Zum Beispiel haben die deutschen Gas-Fernleitungsnetzbetreiber zu Anfang des Jahres die "Vision für eine erste deutschlandweite Wasserstoffinfrastruktur" vorgestellt, die zu über 90 Prozent auf der Umrüstung des bestehenden Erdgasnetzes zu Wasserstoff-Leitungen beruhen würde (200106). Auch von grünem Wasserstoff ist dabei viel die Rede. Der würde aber nur einen Bruchteil der Leitungskapazitäten füllen, deren Errichtung ohne Staatshilfen unrentabel wäre. Außerdem wäre es unnötig, allein für den Transport von grünem Wasserstoff derart aufwendige Leitungssysteme zu errichten. Der stellvertretende russische Energieminister Sorokin griff dieses Thema sogleich auf, indem er davon sprach, dass fünf bis sieben Prozent der Ostsee-Pipeline von Erdgas auf Wasserstoff umgerüstet werden könnten – wobei dieser dann eben bereits in Russland aus dem dort geförderten Erdgas erzeugt würde. Der neue Uniper-Vorstandsvorsitzende Andreas Schierenbeck setzte im April auf diesen Schelmen anderthalbe, indem er sogar eine 80-prozentige Umrüstung der Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 auf Wasserstoff für möglich hielt.

Die wirtschaftlichen Hauptakteure verweisen gern auf die Notwendigkeit von mehr grünem Wasserstoff, wobei dieser aber in ihren Szenarien hauptsächlich eine propagandistisch-ablenkende Rolle spielt. Der Erdgas-Branche dürfte es vor allem darum gehen, sich langfristig für einen Substitutions-Wettbewerb zu wappnen, bei dem eine auf erneuerbare Energien gestützte Stromerzeugung das Erdgas auch beim Endenergieverbrauch von Industrie und Haushalten verdrängen könnte. Der allmähliche Umstieg von Erdgas auf Wasserstoff ist deshalb für die Gasnetzbetreiber langfristig notwendig und vorteilhaft. Auch die russische Gazprom passt sich gern oder notgedrungen den veränderten Kundenwünschen an. Für das weltweite Klima macht es allerdings keinen Unterschied, ob die Treibhausgase aus der Dampfreformierung von Erdgas bereits in Russland oder erst in Westeuropa anfallen.

Industrie findet grünen Wasserstoff gut, aber Farbenblindheit noch besser

Auch sonst wird in den Erdgas-Pipelines, die umgerüstet werden sollen, nur ein minimaler Anteil grünen Wasserstoffs enthalten sein. Hauptsächlich wird es sich um konventionellen Wasserstoff handeln, dem dann zunehmend elektrolytisch erzeugter Wasserstoff beigemischt wird. Dieser wird in der Regel nicht von speziellen Offshore-Windparks ohne Netzanbindung stammen und hundertprozentig "grün" sein, sondern mit ganz normalem Strom aus dem Netz erzeugt werden. Er wird also nur "kohlenstoffarm" sein, und zwar insoweit, als es der Strom-Mix selber ist. Dagegen lässt sich grundsätzlich nichts einwenden. Schließlich geht es auch hier wie bei der Stromerzeugung um die schrittweise Minderung der Treibhausgas-Emissionen und nicht um fetischistische Reinheitsgebote, die der Erreichung dieses Ziels eher hinderlich wären. Aber man sollte doch im Hinterkopf behalten, dass elektrolytisch erzeugter Wasserstoff nicht per se klimafreundlich ist.

Die Erdgas-Branche möchte die Treibhausgas-Emissionen möglichst in den Hintergrund treten lassen, die weiterhin entstehen. Der bereits erwähnte Uniper-Chef Schierenbeck, den die Bundesregierung am 10. Juni in ihren "Nationalen Wasserstoffrat" berief (200610), hat das in einem Interview mit dem "Tagesspiegel" (14.4.20) so formuliert:

"Ich wünsche mir beim Wasserstoff eine gewisse Farbenblindheit. Damit meine ich, dass abgesehen vom grauen Wasserstoff, bei dessen Erzeugung CO2 freigesetzt wird, alle übrigen Farben gleichbehandelt werden sollen. Ich sehe kein Problem darin, wenn LNG oder Pipeline-Gas dekarbonisiert und damit Wasserstoff produziert wird. Dann brauchen wir natürlich auch eine Anschubfinanzierung."

CCS ist nur als Notlösung für Kohlekraftwerke tot

Die Bundesregierung vermeidet ein derart plakatives Bekenntnis zur klimapolitischen Gleichwertigkeit von grünem, blauen und türkisem Wasserstoff. Vor allem hütet sie sich vor einem Plädoyer für blauen Wasserstoff aus fossilen Brennstoffen, bei dem das anfallende Kohlendioxid "klimaneutral" in unterirdischen Deponien unter Verschluss gehalten werden soll. Sie will nicht zur Unzeit ein Fass wieder aufmachen, das vor zehn Jahren mit dem CCS-Gesetz mühsam zugedeckelt wurde (110703). Damals hatten die Großkraftwerksbetreiber mit viel Aufwand die CO2-Beseitigung mittels Carbon Capture and Storage (CCS) propagiert, um neue Kohlekraftwerke errichten oder zumindest die bestehenden Anlagen so lange wie nur möglich betreiben zu können. Rückenwind bekamen sie von einer 2009 in Kraft getretenen EU-Richtlinie. Dieses Projekt zur Verlängerung der Kohlestrom-Ära war allerdings auch innerhalb der CDU sehr umstritten. Zur Enttäuschung der Kohle-Lobby glich deshalb die Umsetzung der EU-Richtlinie durch die damalige schwarz-gelbe Koalition eher einem Begräbnis erster Klasse (siehe Hintergrund, Mai 2011).

Wirklich tot ist CCS indessen nur als Notlösung für den Neubau und weiteren Betrieb von Kohlekraftwerken. Vor kurzem tauchte die "Speicherung und Nutzung von CO2" sogar in den Eckpunkten des Klimaschutzprogramms 2030 wieder auf, die das "Klimakabinett" der schwarz-roten Bundesregierung im September 2019 vorlegte (190902). Wörtlich heißt es dort: "Für Emissionen aus Industrieprozessen, die nicht anderweitig vermieden werden können, kann die Speicherung und Nutzung von CO2 auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität 2050 eine Lösung bieten. Die Bundesregierung wird die Forschung und Entwicklung zu dieser Technologie fördern." Diese Initiative richte sich "an die gesamte deutsche Grundstoffindustrie".

Türkiser Wasserstoff steckt noch im Laborstadium

Die Bundesregierung unterstützt auch die – durchaus sinnvolle – Forschung für türkisen Wasserstoff, bei dem das Kohlendioxid in fester Form als Kohlenstoff bzw. Graphit unschädlich gemacht werden soll. Zur Zeit läuft ein solches Projekt unter Koordination des Chemiekonzerns BASF, wobei das Forschungsministerium eine Finanzhilfe von 8,7 Millionen Euro gewährt. Die Arbeiten stecken allerdings noch im Laborstadium. Falls es innerhalb des nächsten Jahrzehnts gelingen sollte, sie in die großtechnische Praxis umzusetzen, könnte der türkise Wasserstoff mit fünfmal weniger Strom als bei der Elektrolyse gewonnen werden. Strom aus erneuerbaren Quellen wird bei diesem Verfahren aber ebenfalls benötigt, damit das Endergebnis als klimaneutral gelten kann.

Das jetzt vorgelegte Regierungspapier geht weder auf blauen noch auf türkisen Wasserstoff näher ein, sondern belässt es bei dem Hinweis, dass sich in den nächsten zehn Jahren ein globaler und europäischer Wasserstoffmarkt herausbilden werde: "Auf diesem Markt wird auch CO2-neutraler (z. B. 'blauer' oder 'türkiser') Wasserstoff gehandelt werden. Aufgrund der engen Einbindung von Deutschland in die europäische Energieversorgungsinfrastruktur wird daher auch in Deutschland CO2-neutraler Wasserstoff eine Rolle spielen und, wenn verfügbar, auch übergangsweise genutzt werden."

Auch sonst geht die jetzt vorgelegte "Nationale Wasserstoffstrategie" davon aus, dass die Europäisierung und Globalisierung des Marktes alle auftauchenden Probleme irgendwie lösen werde. Zum Beispiel heißt es da: "Zentrale Herausforderungen lassen sich nur im EU-Kontext klären: Etwa Lösungen zur Erzeugung in wind- und/oder sonnenreichen Gebieten und der Verteilung des Wasserstoffs bedürfen zwangsläufig der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit."

Neuauflage des gescheiterten "Desertec"-Projekts?

In ihrem "Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket", das sie am 10. Juni beschloss, hat die schwarz-rote Koalition schon jetzt die sieben Milliarden Euro für den "Markthochlauf" der Wasserstofftechnologie in Deutschland um weitere zwei Milliarden Euro für "internationale Partnerschaften" aufgestockt. Damit könnten beispielsweise Solaranlagen in den Wüsten Nordafrikas errichtet werden, mit deren Strom grüner Wasserstoff erzeugt und nach Europa expediert wird. Theoretisch ließe sich so das Problem lösen, dass das realisierbare technische Potenzial für Strom aus erneuerbaren Energien sowohl in Deutschland als auch in anderen EU-Staaten begrenzt ist.

Aber nur theoretisch. In der Praxis tauchen ähnliche Probleme auf wie beim "Desertec"-Projekt, mit dem vor elf Jahren die Stromversorgung Europas aus den sonnenreichen Gebieten Nordafrikas und des Nahen Ostens verwirklicht werden sollte (090604). Ein Konsortium aus Finanzwirtschaft, Elektrokonzernen, Stromversorgern und Anlagenbauern lockte damals mit der Vision eines Supernetzes von Island bis zum Persischen Golf, wobei ein relativ kleines Quadrat in der Sahara den Flächenbedarf markierte, um den Strombedarf der ganzen Welt zu decken (090702). Die Euphorie hielt nicht lange an. Stattdessen erscholl nach ein paar Monaten immer dringlicher der Ruf nach massiver staatlicher Unterstützung des unausgegorenen Projekts (100806). Als diese ausblieb, siechte die "Desertec Industrial Initiative" (Dii) unaufhaltsam vor sich hin, bis sie im Oktober 2014 faktisch verschied (141010).

Die "Desertec Industrial Initiative" verschwand indessen nicht ganz, sondern wurde in ein kleines Beratungsunternehmen umgewandelt, das sich Dii Desert Energy nennt. Durch den von der EU verkündeten "Green Deal" (191204) und die milliardenschweren Wasserstoff-Pläne der Bundesregierung sieht sich diese Resttruppe um den ehemaligen Dii-Geschäftsführer Paul van Son nun wieder mächtig im Kommen: Vor kurzem hat sie eine "MENA Wasserstoff Allianz" proklamiert, "um die Entwicklung von Wertschöpfungsketten für grüne Moleküle in der MENA-Region zu beschleunigen". MENA steht für die krisengeschüttelte Region "Middle East & North Africa", in der inzwischen noch viel mehr politische Instabilität und Chaos herrschen als seinerzeit bei der "Desertec"-Gründung.