Juni 2019 |
190601 |
ENERGIE-CHRONIK |
Entgegen den Erwartungen hat der Europäische Rat am 20. Juni keine Einigkeit darüber erzielt, für die EU das Ziel einer "Klimaneutralität" der Treibhausgas-Emissionen bis zum Jahre 2050 zu proklamieren. Es hätte sich dabei lediglich eine Absichtserklärung ohne entsprechende Verpflichtungen für die Mitgliedsstaaten gehandelt. Dennoch scheiterte die für den Beschluss erforderliche Einstimmigkeit am fortdauernden Widerstand Polens, Tschechiens, Ungarns und Estlands.
In den vom Rat verabschiedeten "Schlussfolgerungen" ist nun lediglich die Rede davon, "einen gerechten und sozial ausgewogenen Übergang zu einer klimaneutralen EU im Einklang mit dem Übereinkommen von Paris (1) zu bewerkstelligen". Die Fussnote (1) hinter Paris wird dabei so erläutert: "Für eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten muss die Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden." In der zunächst veröffentlichten Fassung der Schlussfolgerungen war versehentlich sogar diese Erläuterung entfallen.
"Eine Einstimmigkeit war heute nicht möglich", teilte Ratspräsident Donald Tusk nach der Sitzung mit. "Wir haben jedoch guten Grund zu der Annahme, dass sich dies ändern könnte, da kein Land die Möglichkeit einer positiven Entscheidung in den kommenden Monaten ausgeschlossen hat."
Die vier Blockierer-Staaten sind bei ihrer Stromerzeugung besonders stark auf fossile Brennstoffe fixiert. Polen hat deshalb auch mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof zu verhindern versucht, dass der bislang unwirksame Handel mit Emissionszertifikaten tatsächlich zu einer echten Belastung der Kohleverstromung werden könnte (180604). Im übrigen will es seine übergroße Abhängigkeit von der Kohleverstromung und die dadurch entstehenden Treibhausgas-Emissionen eher durch den Einstieg in die Kernenergie als durch Ausbau der Erneuerbaren mindern (120306). In ähnlicher Weise plant Ungarn den weiteren Ausbau seines Kernkraftwerks Paks (170304), während die Erneuerbaren bisher so gut wie keine Rolle spielen. Tschechien setzt ebenfalls auf einen Mix aus Kohle-, Gas- und Atomstrom. Nicht unterschätzt werden darf auch der politische Einfluss des tschechischen EPH-Konzerns, der europaweit Kohlekraftwerke aufkauft und auf ein Scheitern der Energiewende spekuliert (181007). Das kleine Estland erzeugt seinen Strom überwiegend mit der Verbrennung von Ölschiefer, wobei noch mehr CO2 als bei Kohle entweicht. In Relation zu seiner Größe setzt es damit besonders viel Treibhausgase frei.
Das Ziel einer "klimaneutralen" EU bis zum Jahr 2050 wurde von der Kommission im November 2018 entworfen. Es sollte "für die Welt wegweisend" das Pariser Klimaabkommen umsetzen, das auf der 21. UN-Weltklimakonferenz im Dezember 2015 zustande kam und eine Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs gegenüber der vorindustriellen Zeit auf unter zwei Grad fordert (151209). Die Klimaneutralität ist dabei so zu verstehen, dass weiterhin stattfindende CO2-Emissionen durch Ausgleichsmaßnahmen kompensiert werden. Das könnten beispielsweise Aufforstungsmassnahmen sein. Solche sind freilich nur in sehr beschränkten Umfang möglich. Dagegen könnten die sogenannten CCS-Technologien für Abscheidung, Transport und unterirdische Lagerung von Kohlendioxid auf diese Weise einen beträchtlichen Stellenwert erlangen. Sie gerieten vor knapp einem Jahrzehnt in Verruf und wurden in Deutschland praktisch untersagt (120604), weil sie etliche Risiken bergen und letztendlich nur dazu dienen sollten, die weitere Kohleverstromung zu ermöglichen (Hintergrund, Mai 2011). Auf EU-Ebene wurden sie aber schon damals von den Staats- und Regierungschefs in den "Energiefahrplan 2050" aufgenommen, mit dem bis zum Jahr 2050 eine weitgehende "Dekarbonisierung" der Energiewirtschaft erreicht werden soll (120305).
Wie das Pariser Klimaabkommen selber war das EU-Ziel "Klimaneutralität bis 2050" von Anfang nicht verbindlich, sondern hatte deklamatorischen Charakter. Dennoch sträubte sich die deutsche Bundesregierung bis vor kurzem, eine solche Absichtserklärung mitzutragen. Auch Österreich, Griechenland, Italien, Slowenien, Litauen und Kroatien waren von dem Vorschlag zunächst nicht angetan. Die Opponenten dürften ihren Widerstand dann um so leichter aufgegeben haben, als mit der vermeintlichen Zustimmung des Rats wegen der erforderlichen Einstimmigkeit ohnehin nicht zu rechnen war.