August 2018 |
180812 |
ENERGIE-CHRONIK |
Im deutschsprachigen EU-Raum beteiligten sich bis zu 3,79 Prozent der Bevölkerung an der Online-Umfrage. In allen anderen Ländern waren es dagegen weniger als ein Prozent, wobei Italien und Rumänien mit 0,04 Prozent das Schlusslicht bilden (Großbritannien muß wegen des Brexits als Sonderfall gelten). Den üblichen Ansprüchen an eine repräsentative statistische Erhebung kann das Ergebnis sicher nicht genügen. Es widerspiegelt eher qualitative als quantitative Aspekte, zumal sich mehr Gegner als Befürworter beteiligt haben dürften. Schon gar nicht handelte es sich um eine Art Volksabstimmung mit verbindlichen Handlungsanweisungen für die Politik. Das hat die EU-Kommission auch von vornherein klargestellt. Trotzdem ergab sich ein so eindrucksvolles Stimmungsbild, dass sie nunmehr einen Vorschlag zur Abschaffung der Zeitumstellung vorlegen will. |
Bei einer europaweiten Online-Befragung, welche die EU-Kommission vom 4. Juli bis zum 16. August durchführte (180716), haben mehr als 80 Prozent der Teilnehmer für die Abschaffung des Wechsels zwischen Normalzeit und Sommerzeit votiert, der durch eine vor 18 Jahren erlassene EU-Richtlinie sämtlichen Mitgliedsstaaten auferlegt wurde und angeblich eine Energieeinsparung bewirken sollte (siehe Hintergrund, Februar 2018). Dies berichtete am 29. August zunächst die "Westfalenpost", worauf auch die "Deutsche Presse-Agentur" und die ARD-Tagesschau nachzogen. Alle drei beriefen sich auf "gut unterrichtete Kreise in Brüssel" bzw. "Kreise des Europäischen Parlaments".
Die EU-Kommission hatte am 17. August lediglich mitgeteilt, dass aus den 28 EU-Staaten mehr als 4,6 Millionen Rückmeldungen eingegangen seien. Nach dem inoffiziellen Bekanntwerden des Abstimmungsergebnisses veröffentlichte sie jedoch am 31. August weitere Angaben. Demnach sprachen sich genau 84 Prozent gegen die Zeitumstellung aus. Aus den vorläufigen Ergebnissen geht auch hervor, dass mehr als Dreiviertel der Teilnehmer (76 Prozent) die halbjährliche Zeitumstellung als "sehr negative" oder "negative" Erfahrung bewerten. Als Gründe für die Abschaffung wurden gesundheitliche Beeinträchtigungen und die Zunahme von Unfällen im Straßenverkehr sowie nur geringe Energieeinsparungen angeführt.
Die endgültigen Ergebnisse sollen in den kommenden Wochen bekanntgeben werden. Die zuständige Kommissarin Violeta Bulc kündigte an, dass die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Gesetzgebungsvorschlag zur Änderung der seit 16 Jahren geltenden Regelung vorlegen werde. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker äußerte sich ebenfalls in diesem Sinn.
Das Ergebnis der Online-Umfrage ist für die Gesamtheit der EU-Bürger nur bedingt repräsentativ, da von den 4,6 Millionen Rückmeldungen allein gut drei Millionen aus Deutschland stammten, das mit einer Beteiligungsquote von 3,79 Prozent der Bevölkerung auch alle anderen Staaten übertraf. Besonders hoch war die Beteiligung ferner in Österreich und Luxemburg (siehe Grafik 1).
Die meisten Gegner der Zeitumstellung gab es dagegen bei den Teilnehmern aus Finnland und Polen, die zu 95 Prozent für die Abschaffung votierten. Von der finnischen Regierung war auch der Vorstoß des Europäischen Parlaments zur Abschaffung der Zeitumstellung initiiert worden. Höher als in Deutschland war die Ablehnung ferner in Estland, Slowenien, Kroatien, Schweden, Lettland, Portugal, Irland, Ungarn und Spanien. In Frankreich und Belgien war sie mit 84 Prozent genauso hoch wie in Deutschland (siehe Grafik 2). Zugleich war aber hier das Interesse vergleichsweise gering, denn es beteiligte sich jeweils nur etwa ein halbes Prozent der Bevölkerung an der Abstimmung.
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Die 84 Prozent der Teilnehmer, die in Deutschland gegen die Zeitumstellung votierten, entsprachen genau dem EU-Durchschnitt, der natürlich von der stark überproportionalen Beteiligung im bevölkerungsreichsten Mitgliedsland maßgeblich geprägt wurde. Eine frühere Meinungsumfrage hatte eine Mehrheit von 73 Prozent gegen die Zeitumstellung ergeben. Daraus läßt sich ungefähr abschätzen, wie sehr das Ergebnis der Umfrage dadurch beeinflußt wurde, dass sich mehr Gegner als Anhänger der Zeitumstellung beteiligt haben.
Trotzdem haben die beiden "Volksparteien" Union und SPD diese klare Mehrheit, die es auch unter ihren Wähler geben dürfte, noch vor kurzem desavouiert, indem sie die Abschaffung der Zeitumstellung ablehnten. Ein entsprechender Antrag wurde am 22. März von der FDP im Bundestag eingebracht. Die schwarz-rote Regierungsmehrheit hat ihn gegen die Stimmen von FDP, Linken und AfD abgelehnt, während sich die Grünen enthielten. Eine Diskussion gab es nicht. Der ganze Vorgang dauerte ungefähr eine Minute.
Vermutlich ging es den Regierungsparteien bei der Ablehnung aber weniger um den Antrag an sich als um einen Profilierungsversuch der Opposition, den sie keinesfalls unterstützen wollten. Denn auch in ihren eigenen Reihen gab es schon immer Gegner wie Befürworter der Zeitumstellung. "Wenn das Ergebnis einer Konsultation so offensichtlich ist, dürfen die europäischen Gremien es nicht ignorieren; viele Menschen leiden unter der Zeitumstellung, und die erhofften Vorteile sind nicht eingetreten", erklärte jetzt der südwestfälische CDU-Europaabgeordnete Peter Liese gegenüber der "Westfalenpost", als diese erstmals das Umfrageergebnis veröffentlichte. Er forderte die EU-Kommission auf, noch in diesem Jahr einen Vorschlag zur Änderung der bisherigen Regelung zu machen, damit das Gesetz noch vor der Europawahl im kommenden Mai verabschiedet werden kann. Liese hat sich als gesundheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im EU-Parlament seit längerem gegen die Zeitumstellung engagiert. Seine Stellungnahme erfolgte "auf Anfrage", wie die Redaktion anmerkte. Das schließt freilich nicht aus, dass sie von ihm auch das Umfrageergebnis erfahren haben könnte.
Bemerkenswert ist, dass sich die meisten Gegner der Zeitumstellung für eine dauernde Beibehaltung der Sommerzeit aussprachen. Bisher weiß man das aber nur inoffiziell. Anscheinend erwägt die EU-Kommission, es den Mitgliedsstaaten zu überlassen, in welcher Weise sie die Abschaffung des Wechsels zwischen Normalzeit und Sommerzeit vollziehen. Das könnte auch der Grund sein, weshalb sie in ihrer Verlautbarung vom 31. August zu diesem wichtigen Punkt der Umfrage noch keinerlei Angaben machte.
Der Chronobiologe Till Rönneberg vom Institut für Medizinische Biologie an der Uni München erklärte das klare Votum für die Sommerzeit mit den "höchst dilettantischen und propagandistischen Formulierungen" der Umfrage, die beispielsweise den vergleichsweise negative Assoziationen auslösenden Begriff "Winterzeit" anstelle von "Normalzeit" verwendet hat. In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" (30.8.) meinte er weiter:
"Insgesamt ist es verrückt, was der Mensch da macht. Es gibt eine Normalzeit und eine 'Daylight Saving Time" im Sommer. Am besten wäre es, letztere abzuschaffen. Die innere Uhr richtet sich nicht nach einer Armband- oder einer Turmuhr. 85 Prozent der Deutschen brauchen einen Wecker, um aufzuwachen. Das bedeutet, dass die meisten dann noch gar nicht fertig sind mit dem Schlafen. Bei dauerhafter Sommerzeit wäre das noch eine Stunde früher. Das ist schlecht. Wir werden dicker, dümmer, grantiger, bekommen mehr Diabetes, wenn wir nicht in unseren natürlichen, von der inneren Uhr vorgegebenen Zeitfenstern schlafen können."