Februar 2018

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


 

Schildbürgerstreich Sommerzeit

Obwohl keine Energieeinsparungen zu erwarten waren, verpflichtete die EU alle Mitgliedsstaaten zur Zeitumstellung

(zu 180211)

 

Die Bürger von Schilda vergaßen beim Bau ihres neuen Rathauses die Fenster, worauf sie das Licht in Säcke verpackten und in das Gebäude hineintrugen. So etwas würde die EU-Kommission natürlich nie empfehlen oder gar gesetzlich anordnen. Sie denkt da schon ein bißchen differenzierter. Aber sie glaubte wohl allen Ernstes eine lichtvolle Entscheidung zu treffen, als sie vor 17 Jahren die Richtlinie 2000/84/EG erließ, die alle Mitgliedsstaaten der damaligen "Europäischen Gemeinschaft" (EG) zur Einführung der Sommerzeit verpflichtete.

Die "innere Uhr" stellt sich nicht automatisch um wie eine Funkuhr

Aufgrund dieser Richtlinie müssen die 512 Millionen Einwohner der 28 EU-Staaten zweimal im Jahr ihre Uhren um eine Stunde vor- bzw. zurückstellen. Das ist zwar viel Aufwand, aber noch die kleinere Mühe, zumal ja immer mehr Uhren per Funk gesteuert werden. Schwerer wiegt, daß sich der Organismus nicht so einfach umstellen läßt. Die "innere Uhr" des Menschen läuft zunächst in der alten Weise weiter. Bei den meisten dauert es Tage, bis ihr Biorhythmus sich einigermaßen an die Zeitverschiebung um eine Stunde gewöhnt hat.

Ein Mythos aus Zeiten, als die Stromrechnung noch Lichtrechnung hieß

Angeblich dient diese Mißhandlung einer halben Milliarde Menschen, die sich alle paar Monate wiederholt, der Einsparung von Energie. Durch bessere Ausnutzung des Tageslichts würde nämlich weniger Strom benötigt. – Ein Argument von einleuchtender Schlichtheit, das aber falsch ist. Es scheint jener Zeit zu entstammen, als die Stromrechnung noch "Lichtrechnung" hieß. Tatsächlich ist es sogar noch ein bißchen älter und wurde schon im Ersten Weltkrieg strapaziert, um Petroleum oder Paraffin zu sparen (siehe weiter unten). Die Gleichsetzung von Sommerzeit mit Energiesparen hat sich deshalb tief im kollektiven Bewußtsein von Generationen eingenistet. Das dürfte der eigentliche Grund sein, weshalb die Sommerzeit nach der Ölkrise der siebziger Jahre von den Politikern aus der Mottenkiste geholt und europaweit aufgehübscht wurde, denn im Zuge einer wenig sachkundig und teilweise demagogisch geführten Energieeinsparungs-Debatte ließ sich damit prima hausieren gehen.

Was schon auf nationaler Ebene Unsinn war, wurde in Brüssel europaweit für verbindlich erklärt

Schon bei beim Erlaß der EU-Richtlinie im Jahr 2000 war eigentlich klar, dass die Zeitumstellung überwiegend nur Nachteile mit sich bringen würde. Vor allem gab es die Energieeinsparung nicht, die sich angeblich durch bessere Ausnutzung der Tageshelligkeit erzielen ließ. Die minimale Verringerung des Stromverbrauchs für Beleuchtungszwecke wurde nämlich mehr als kompensiert durch einen erhöhten Energieverbrauch, der sich beispielsweise aus einem veränderten Freizeitverhalten der Bevölkerung ergab.

Der EU-Kommission waren die diesbezüglichen Untersuchungen bekannt, als sie ihren Vorschlag für die europaweit verbindliche Zeitumstellung vorlegte. In ihrer ausführlichen Begründung listete sie eine ganze Reihe von denkbaren Vor- und Nachteilen mit den dazu verfaßten Studien auf. Es fehlte allerdings eine schlüssige Aussage, was nun eigentlich überwiege. Stattdessen begründete sie den Erlaß der Richtlinie im wesentlichen damit, dass die Sommerzeit in den meisten Mitgliedsstaaten seit den siebziger Jahren eingeführt worden sei. Deshalb sei es notwendig, die Zeitumstellung innerhalb der einzelnen EU- Zeitzonen – inklusive Azoren und Estland sind es heute insgesamt vier – europaweit zu "harmonisieren". Bei der Beratung der Richtlinie hätten es die Mitgliedstaaten auch "mit großer Mehrheit abgelehnt, in die Richtlinie Ausnahmeregelungen aufzunehmen, die es einem Mitgliedstaat erlauben würden, auf die Anwendung der Sommerzeit zu verzichten".

Die Kommission wußte nur zu gut, was es mit den angeblichen Energieeinsparungen auf sich hatte

Zu den angeblichen Energieeinsparungen hieß es damals in der Begründung beispielsweise, daß diese aufgrund der meisten Untersuchungen "lediglich in der Größenordnung zwischen 0 und 0,5 Prozent liegen". Außerdem sei es schwierig, "zwischen Einsparungen im Stromverbrauch und Energieeinsparungen insgesamt zu unterscheiden". Die wichtigste Untersuchung, die es in Deutschland zu diesem Thema gegeben habe, sei ebenfalls zu dem Schluß gelangt, dass die Sommerzeit nicht zu Energieeinsparungen führe.

Durchaus bekannt waren der Kommission auch die zahlreichen Einwände gegen die Sommerzeit, nicht zuletzt der Vorwurf, dass sie den Biorhythmus störe und sich vor allem bei Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen negativ auf den Schlaf auswirke: "Die Gegner der Sommerzeit argumentieren, daß es zu Störungen des Biorhythmus sowohl beim Menschen als auch bei den Tieren komme. Sie beklagen sich auch darüber, daß es nach der Zeitumstellung im Frühjahr morgens noch dunkel sei, wenn die in der Landwirtschaft Beschäftigten mit der Arbeit beginnen, daß sie in den heißesten Stunden des Tages arbeiten bzw. ihre Arbeit in die Abendstunden verlegen müßten und so ihre Freizeit nicht mit ihrer Familie verbringen könnten." Demgegenüber würden die Befürworter der Sommerzeit ins Feld führen, "dass Mensch und Tier sich innerhalb weniger Tage vollkommen auf die Zeitumstellung einstellen".

Obwohl die Kommission mitunter sehr selbstherrlich agiert, wie das Glühlampenverbot gezeigt hat (180106), war also die Einführung der Sommerzeit weniger ihre eigene Entscheidung als auf die Ignoranz der einzelnen nationalen Regierungen zurückzuführen, welche die Zeitumstellung bereits eingeführt hatten. Der Kommission ging es im wesentlichen nur noch darum, den kollektiven Unsinn europaweit zu "harmonisieren". Die formale Verantwortung für die verpflichtende Einführung der Zeitumstellung in allen Mitgliedsstaaten lag letztendlich sowieso beim Europäischen Parlament und dem Rat, ohne deren Zustimmung der Gesetzgebungsvorschlag der Kommission nicht in Kraft getreten wäre.

Im Ersten Weltkrieg sollte die Sommerzeit zum Sieg verhelfen

In Deutschland wurde die Sommerzeit erstmals 1916 eingeführt. Mit ihr sollte Energie gespart werden, um den Ersten Weltkrieg zu gewinnen. Es ging dabei noch nicht um Strom – elektrisches Licht war ein Luxus – , sondern um die Einsparung von Kohle, Paraffin und Gas. Kurz darauf zog Großbritannien nach und führte ebenfalls die Sommerzeit ein. Auf den Ausgang des Krieges dürften beide Maßnahmen keinen Einfluß gehabt haben. 1919 wurde die Sommerzeit in Deutschland wieder abgeschafft. Im Zweiten Weltkrieg griffen dann aber die Nazis 1940 wieder auf sie zurück, womit sie nun vor allem die Einsparung von Strom bezweckten. Nach dem Krieg, als infolge der Zerstörungen ein enormer Strommangel bestand, gab es auf Anordnung der Besatzungsmächte bis 1949 sogar zeitweilig eine sommerliche Zeitverschiebung um zwei Stunden.

DDR erhoffte sich Energieeinsparungen und zwang Bundesrepublik zum Nachziehen

Im geteilten Nachkriegsdeutschland kam es erst dreißig Jahre später wieder zur Einführung der Sommerzeit. Den Anstoß gab dabei die DDR. Diese war generell von einer Mangelwirtschaft geprägt und ging auch energiewirtschaftlich auf dem Zahnfleisch. Die Regierenden in Ostberlin klammerten sich deshalb an die vermeintliche Energieeinsparung wie einen Strohhalm, als sie im Oktober 1979 völlig überraschend bekanntgaben, ab dem kommenden Jahr die Sommerzeit einzuführen.

In der Bundesrepublik waren bis dahin solche Überlegungen, die schon anläßlich der Ölkrise des Jahres 1973 auftauchten und in etlichen Nachbarländern verwirklicht wurden, gerade mit Blick auf die DDR abgelehnt worden. Aufgrund des am 1. August 1978 in Kraft getretenen "Gesetzes über die Zeitbestimmung" wäre die Bundesregierung ohne weiteres ermächtigt gewesen, "zur besseren Ausnutzung der Tageshelligkeit und zur Angleichung der Zeitzählung an diejenige benachbarten Staaten durch Rechtsverordnung für einen Zeitraum zwischen dem 1. März und dem 31.Oktober die mitteleuropäische Sommerzeit einzuführen". Man wollte aber die Spaltung Deutschlands nicht auch noch auf zeitlichem Gebiet vertiefen. Zum Beispiel hätte eine einseitige Sommerzeit-Verschiebung der für beide Staaten geltenden Mitteleuropäischen Zeit (MEZ) dazu geführt, dass die "Tagesschau" der ARD oder die ZDF-Nachrichten in der DDR schon eine Stunde früher über die Bildschirme geflimmert wären und deshalb weniger Zuschauer gefunden hätten.

Die ostdeutschen Machthaber hätten es dagegen sicher begrüßt, wenn die propagandistischen Einwirkungsmöglichkeiten des Westfernsehens durch eine Verschiebung des gewohnten Tagesablaufs um eine Stunde nach vorn oder hinten etwas geschwächt worden wären. Aber das war sicher nicht der Grund für die einseitige Einführung der Sommerzeit durch die DDR. Man glaubte vielmehr ernsthaft, damit Energie einsparen und die Produktivität steigern zu können. Auf diese Weise gewinne die "ganze zweite Schicht" eine Stunde mehr Tageslicht, begeisterte sich Wolfgang Rauchfuß, der als Leiter der Zentralen Energiekommission und stellvertretender Vorsitzender des DDR-Ministerrats den Beschluß vor Parteijournalisten erläuterte.

Schon nach einem Jahr wollte die DDR die Zeitumstellung wieder abschaffen

In aller Eile zog die Bundesrepublik nun nach. Am 7. November 1979 erließ die Bundesregierung auf Grundlage des bereits erwähnten Gesetzes über die Zeitbestimmung die "Verordnung über die Einführung der mitteleuropäischen Sommerzeit für das Jahr 1980". So konnten am 6. April 1980 um 2 Uhr morgens in beiden deutschen Staaten gleichzeitig die Uhren um eine Stunde vorgestellt und am 28. September wieder zurückgedreht werden. Im August 1980 folgte eine ähnliche Verordnung für die beiden folgenden Jahre.

Überraschenderweise wollte dann aber die DDR das "Experiment", wie sie die Zeitumstellung plötzlich nannte, nicht mehr fortführen: "Aufgrund wissenschaftlicher Gutachten, die der Regierung der DDR vorliegen und der im Jahre 1980 gemachten Erfahrungen ist es nicht zweckmäßig, das Experiment mit der Sommerzeit im nächsten Jahr zu wiederholen", hieß es am 28. Oktober 1980 in einer knappen Mitteilung im "Neuen Deutschland", dem Sprachrohr der Staatspartei SED. "Es erbrachte keine Vorteile für die Energiewirtschaft und für die anderen Bereiche der Volkswirtschaft, sondern verursachte auf einigen Gebieten sogar zusätzliche Kosten."

Als die Bundesrepublik an der Sommerzeit festhielt, schwenkte auch die DDR wieder um

Statt der erhofften Energieeinsparungen bescherte die Sommerzeit also nur zusätzliche Kosten. Das hatte man nun auch in der DDR erkannt. In der Bundesrepublik wollte man dagegen an der Umstellung festhalten. Als die DDR im Oktober 1980 ihre Kehrtwende bekanntgab, war im Bundesgesetzblatt bereits die Verordnung zur Ausdehnung der Sommerzeit auf die Jahre 1981 und 1982 erschienen. In Bonn herrschte deshalb erst mal Ratlosigkeit und Empörung. Am 5. November 1980 beschloß dann die frisch im Amt bestätigte Regierung von Helmut Schmidt, an der Verordnung und der Sommerzeit generell festzuhalten. Dies geschah mit Blick auf die westeuropäischen Nachbarn und die EG-Richtlinie vom 22. Juli 1980, die ab 1981 erstmals diesen Punkt regelte. Diese Richtlinie beschränkte sich indessen noch darauf, Beginn und Ende der Sommerzeit für solche Mitgliedsstaaten festzulegen, die sich auf nationaler Ebene für die Einführung entschieden hatten.

Daraufhin war es die DDR, die jetzt ihre Entscheidung revidierte und mit der Bundesrepublik gleichzog. Schon Anfang Dezember 1989 verkündete sie, die Zeitumstellung auch 1981 wieder vornehmen zu wollen. Das geschah nicht nur zur Verbesserung des politischen Klimas zwischen beiden Staaten, das durch den Zeit-Dissens getrübt worden war, sondern hatte vor allem ganz handfeste Gründe. Zum Beispiel hätte eine Zeitverschiebung in Berlin, wo die S-Bahn in beiden Teilen der Stadt der DDR-"Reichsbahn" unterstand, zu Komplikationen bei der Einhaltung der Fahrpläne geführt. Ähnliche Probleme ergaben sich an den Grenzen zu den "Bruderländern" Polen und Tschechoslowakei, die an der Sommerzeit festhielten.

Sowjetunion führte sogar Sommerzeit mit zweistündiger Verschiebung ein

Zu allem Überfluss verbot sich Kritik an der Sommerzeit für die DDR schon mit Blick auf die Sowjetunion: Diese hatte in allen ihren Zeitzonen schon seit 1930 eine Art permanente Sommerzeit eingeführt, die wegen der willkürlichen einstündigen Zeitverschiebung auch als "Dekretzeit" bezeichnet wurde. Und ausgerechnet jetzt fügte der große Bruder dieser Dekretzeit ab 1981 auch noch eine förmliche Sommerzeit hinzu, so daß die reguläre Zeit im Sommer um insgesamt zwei Stunden vorgestellt wurde. Zur Begründung hieß es aus Moskau, dass damit Energie gespart und den Sowjetbürgern mehr Raum für Freizeitaktivitäten geboten werde. Was der Kreml für richtig hielt, durfte aber nach herrschender Partei-Doktrin nicht falsch sein, sondern hatte als Vorbild zu gelten. Deshalb wurde die Erkenntnis, dass die Sommerzeit gar nichts bringt und sogar kontraproduktiv ist, im Osten Deutschlands schnell wieder verdrängt. Russland hat die ganzjährige Normalzeit erst 2014 wieder eingeführt.

Im Westen war Kritik am Unsinn der Sommerzeit zwar zulässig, konnte aber die Regierungen der einzelnen Staaten nicht daran hindern, ihren Bürgern ebenfalls zweimal im Jahr eine Zeitumstellung zuzumuten. An Energieeinsparung glaubte dabei kaum noch einer der Politiker. In dieser Hinsicht wußten inzwischen die meisten zu gut Bescheid. Für sie zählte jedoch, dass die Sommerzeit von den meisten Menschen tatsächlich eng mit Energiesparen assoziiert wurde und insoweit positiv besetzt war. Auf dieses populäre Mißverständnis wollte so schnell kein Politiker verzichten. Es klang einfach zu vernünftig, wenn sie die Einführung der Sommerzeit auch und vor allem mit Energieeinsparungen begründeten. Sie kamen so auf billige Weise zum grünen Heiligenschein eines Volkserziehers, der mit administrativen Mitteln der freiwilligen Energie-Askese nachhilft.

Schon 1979 bekannte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage von Bundestagsabgeordneten, dass der möglichen Stromspareffekt im Sommer mit allenfalls 0,15 Prozent und im Winter mit 0,02 Prozent zu veranschlagen sei. Dann folgte der schöne Satz: "Wenn auch der direkte Einspareffekt danach nur gering sein dürfte, könnte doch von der Einführung der Sommerzeit ein gewisser Signaleffekt ausgehen." Deutlicher gesagt: Der Politik ging es gar nicht um reale Energieeinsparung, sondern um eine propagandistische Aktion.

Als die EU-Kommission den Unsinn ab 2002 auch noch für alle Mitgliedsstaaten zur Pflicht machte, bestand nicht mal mehr die Möglichkeit, ihn wenigstens auf nationaler Ebene rückgängig zu machen. Eine Klage der französischen Vereinigung "Association contre l'heure d'été", die unter Berufung auf Artikel 230 des EG-Vertrags die Nichtigkeitserklärung dieser biorhythmischen Mißhandlung von Millionen Menschen verlangte, wurde im Juni 2002 vom Europäischen Gerichtshof als unzulässig abgewiesen. Nach Ansicht der Luxemburger Richter konnten die Kläger nicht hinreichend belegen, dass sie von dem jährlich zweimal stattfindenden obrigkeitlichen Eingriff in ihren persönlichen Tagesablauf "unmittelbar und individuell betroffen" seien, was der genannte Artikel als Voraussetzung einer Klage verlange.

Man kann nur hoffen, dass der jetzige Vorstoß der EU-Parlamentarier (180211) der Anfang vom Ende der Sommerzeit ist.