Juli 2017 |
170712 |
ENERGIE-CHRONIK |
Brokdorf ist das letzte Kernkraftwerk an der Elbe, das noch in Betrieb ist. Wie in Stade, Brunsbüttel und Krümmel hat man den Kühlturm eingespart und die billigere Direktkühlung mit Flußwasser gewählt. Bis Ende 2021 soll auch hier Schluß sein. Auf Anordnung der Atomaufsicht darf der Reaktor seine Reststrommengen aber nur noch mit verminderter Leistung und Lastwechselgeschwindigkeit abarbeiten, weil sonst eine unzulässige Korrosion der Brennstäbe droht. Foto: Alois Staudacher / Wikipedia
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Das Kernkraftwerk Brokdorf darf nur noch in einem "abgesicherten Modus" betrieben werden, der die Bruttoleistung auf 95 Prozent der genehmigten Höhe reduziert und die Lastwechselgeschwindigkeit auf die Hälfte verringert. Von der Einhaltung dieser Auflage machte die schleswig-holsteinische Atomaufsicht jetzt das Wiederanfahren des Reaktors abhängig. Sie reagierte damit auf eine ungewöhnlich schnelle und starke Korrosion an den Brennstäben, die bei der jüngsten Jahresrevision festgestellt wurde. Wie der Energiewendeminister Robert Habeck (Grüne) am 17. Juli mitteilte, ist nach den vorliegenden Erkenntnissen das Hüllmaterial der Brennstäbe durch die hohen Leistungsanforderungen sowie ein immer häufigeres, schnelles Hoch- und Runterfahren des Reaktors überstrapaziert worden. Am 29. Juli erteilte die Atomaufsicht die Erlaubnis zum Wiederanfahren des Reaktors mit einer vorläufig auf 88 Prozent reduzierten Leistung.
Der Vorgang zeigt, daß Kernkraftwerke sich in der Praxis keineswegs so flexibel hoch- und runterfahren lassen, wie seinerzeit in der Auseinandersetzung um die geplante Laufzeiten-Verlängerung für die deutschen Reaktoren behauptet wurde (100312). Die Atomlobby wollte damals das Argument entkräften, daß die Kernkraftwerke den erneuerbaren Energien im Wege stehen. "Die Stromerzeugung aus Kernenergie gleicht bereits die unstetige Einspeisung von Strom etwa aus Windenergie aus", verkündete beispielsweise der E.ON-Vorstand Ralf Güldner als Präsident des Deutschen Atomforums (100516). Mit ähnlichen Behauptungen unterstützten wirtschaftsnahe Professoren die geplante Laufzeiten-Verlängerung bei einer Anhörung des Bundestags (100705). Die Deutsche Physikalische Gesellschaft hielt es in einer Studie sogar für unbedenklich, die Leistung von Reaktoren in nur zwei Minuten um zwanzig Prozent verändern oder innerhalb von zehn Minuten von Vollast auf die Hälfte zu reduzieren, weil die dadurch auftretende Materialermüdung bei der Auslegung der Kernkraftwerke bereits berücksichtigt worden sei (100612).
Die jetzt in Brokdorf erlassenen Auflagen bestätigen die bereits in Frankreich gemachte Erfahrung, daß eine höhere Flexibilität des Reaktorbetriebs mit höherem Verschleiß, größerer Unsicherheit und mehr Reaktor-Ausfällen erkauft wird (091202, 101207). Die deutschen Kernkraftwerke sind als Grundlastlieferanten konzipiert worden, die mit gleichbleibender Leistung rund um die Uhr laufen. Diese Grundlast war einst relativ hoch und mußte nur um den Mehrbedarf ergänzt werden, der sich aus den stunden- oder minutenlangen Schwankungen des Verbrauchs ergab. Inzwischen kollidiert die kleiner werdende Grundlast aber – soweit sie aus Kernenergie oder Braunkohle bestritten wird – mit der ständig zunehmenden und größtenteils fluktuierenden Einspeisung aus erneuerbaren Stromquellen, die mitunter fast schon die gesamte Erzeugung aus konventionellen Kraftwerken ersetzen könnte. Die noch am Netz befindlichen Kernkraftwerke werden deshalb von ihren Betreibern häufiger durch Lastwechsel strapaziert als früher.
Zum Beispiel mußte die Erzeugung der Kernkraftwerke am 30. April um bis zu 37 Prozent zurückgefahren werden, weil die Erneuerbaren bis zur Mittagszeit einen stündlichen Anteil von 75 Prozent an der Stromerzeugung erreichten. Gemessen am Inlandsverbrauch waren es sogar 96 Prozent, denn der mittels Kohle und Kernkraft produzierte Überschuß wurde ins Ausland verkauft und dort verbraucht. Dieses starke Zurückfahren der Kernenergie war allerdings eine Ausnahme. Üblicherweise hat die Atomstrom-Einspeisung noch immer den Charakter eines weitgehend gleichförmigen Grundlastbandes. Dies läßt beispielsweise die "Smard"-Grafik für den 20. Juli erkennen, auf der die stündlichen MWh-Werte für Kernenergie im Tagesverlauf lediglich um etwa vier Prozent schwanken (170701).
Das Kernkraftwerk Brokdorf wurde 1986 in Betrieb genommen. Es gehörte damals der E.ON-Vorläuferin PreussenElektra AG (80 Prozent) und der Hamburgischen Electricitäts-Werke AG (20 Prozent). Zuvor war es ein Jahrzehnt lang wiederholt zu starken Protesten gegen das Bauprojekt gekommen, bei denen sich bis zu 50.000 Demonstranten und 10.000 Polizisten gegenüberstanden. Mit einer Nettoleistung von 1326 MW übertraf der neue Reaktor die zuvor errichteten Kernkraftwerke Stade (640 MW), Brunsbüttel (771 MW) und Krümmel (1260 MW), deren Reaktoren ebenfalls mit Frischwasser aus der Elbe gekühlt wurden, um den Bau eines Kühlturms einzusparen. Inzwischen ist an der Elbe nur noch Brokdorf in Betrieb, soll aber bis Ende 2021 ebenfalls stillgelegt werden.
Die Atomaufsicht hatte 2006 dem Betreiber E.ON eine Erhöhung der elektrischen Bruttoleistung von 1440 auf 1480 Megawatt genehmigt. Nach ihren Feststellungen scheint dies im Zusammenwirken mit einer veränderten Fahrweise des Reaktors die Hauptursache der jetzt festgestellten Korrosion zu sein: Seit 2011 habe E.ON immer häufiger den sogenannten Lastfolgebetrieb praktiziert, der sich an der Auslastung der Stromnetze orientiert. In den Betriebszyklen ab 2015 sei diese Lastwechselfahrweise weiter intensiviert worden.
Schon seit 2011 gab es Hinweise auf eine etwas erhöhte Korrosion. Anfang 2017 wurde dann erstmals der Grenzwert überschritten. Obwohl das Hüllrohrmaterial immer dieselbe Beschaffenheit hatte, zeigten sich unter den geänderten Einsatzbedingungen an dem sonst grundsätzlich sehr korrosionsbeständigen Material bei einigen Brennstäben Oxidationsschichten im oberen Bereich, wo diese nicht erwartet wurden. Das Wachstum dieser Oxidschichten war ebenfalls ungewöhnlich stark. Ihr zulässiger Grenzwert liegt bei höchstens 100 Mikrometer bzw. 0,1 Millimeter, und zwar für die gesamte Einsatzdauer eines Brennelementes, die in der Regel bis zu 5 Zyklen oder etwa 5 Jahre beträgt. Er wurde aber bei mehreren Brennstäben überschritten, obwohl sie erst zwei Zyklen im Einsatz waren. In einem Fall wurde sogar eine Oxidschicht von 152 Mikrometer gemessen.
Die festgestellte Oxidation habe aber zu keinem "Integritätsverlust" der Brennstäbe geführt, so daß keine radioaktiven Stoffe freigesetzt worden seien, versicherte das Ministerium. Selbst bei einem Integritätsverlust würde es zu keiner erhöhten Strahlenbelastung der Bevölkerung kommen, weil dann die Radioaktivität im Primärkreis des Druckwasserreaktors verbleiben würde und die Anlage kontrolliert abgefahren werden könne.
Übrigens war es schon 1995 in Brokdorf zu Schäden an den Brennelementen gekommen (950708, 950915). Damals wurden bei einer Revision an 25 von insgesamt 193 eingesetzten Brennelementen Schäden an den Hüllrohren festgestellt. Ferner zeigten sich Schäden an den Abstandhaltern der Hüllrohre. Die ausgetretene Radioaktivität habe unterhalb der Grenzwerte gelegen, versicherte damals die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der grünen Bundestagsfraktion.