Dezember 2007 |
071206 |
ENERGIE-CHRONIK |
Kinder bis zu fünf Jahren erkranken mehr als doppelt so häufig an Leukämie, wenn sie nahe an einem Kernkraftwerk wohnen. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung des Deutschen Kinderkrebsregisters in Mainz, die im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) durchgeführt wurde. Sie erstreckte sich über den Zeitraum von 1980 bis 2003 und erfaßte 41 Landkreise in der Umgebung der 16 deutschen KKW-Standorte. Dabei ergab sich, daß im Umkreis von fünf Kilometern um die Reaktoren 77 Kinder an Krebs erkrankten. Darunter befanden sich 37 Kinder mit Leukämie. Im statistischen Durchschnitt wären im selben Zeitraum jedoch nur 48 Krebs- bzw. 17 Leukämiefälle zu erwarten gewesen. Im untersuchten Zeitraum von 23 Jahren traten somit an den deutschen KKW-Standorten19 Leukämie-Fälle mehr auf als zu erwarten gewesen wäre. Oder anders gesagt: Pro Jahr und bundesweit erkrankt im Umkreis von fünf Kilometern um die 16 deutschen KKW-Standorte durchschnittlich ein Kind unter fünf Jahren (statistisch exakt: 1,2 Kinder) mehr an Krebs als in einer zufällig ausgewählten Kontrollgruppe.
Die Veröffentlichung der Studie löste in Medien und Politik erhebliche Aufregung aus, zumal sie für Laien einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Leukämie und KKW-Emissionen zu belegen schien. Zugleich wurde die quantitative Bedeutung des erhöhten Leukämie-Risikos in aller Regel enorm überschätzt. Tatsächlich fügt sich aber die jetzt veröffentlichte Studie in frühere Untersuchungen ein, die das Deutsche Kinderkrebsregister bereits 1992 (920208) und 1997 (971111) vorgelegt hat. Schon damals ergaben sich im Zuge diverser Berechnungsweisen Hinweise auf eine erhöhte Leukämie-Rate in der näheren Umgebung von Kernkraftwerken. Wegen der geringen Fallzahlen war aber nicht klar, ob es sich lediglich um rechnerische Scheinergebnisse oder statistisch relevante Abweichungen handelte. Im Unterschied dazu gelten die jetzigen Befunde als statistisch signifikant und methodisch gut abgesichert, da die Untersuchung von vornherein auf die Klärung dieser Frage abgestimmt worden war. Aber auch die neuen Ergebnisse können nur statistische Stichhaltigkeit beanspruchen und keinen ursächlichen Zusammenhang mit den Emissionen von Kernkraftwerken belegen, da epidemiologische Studien zur Erbringung eines solchen Nachweises generell ungeeignet sind. Zum Beispiel scheinen sich ähnlich erhöhte Leukämie-Raten um Standorte feststellen zu lassen, an denen die Errichtung von KKW zwar geplant, aber nicht verwirklicht wurde. Zudem gilt bisher als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, daß die aus Kernkraftwerken emittierte Strahlung ungefährlich ist, weil sie um den Faktor 1000 bis 100.000 unter der Intensität der natürlichen radioaktiven Strahlung liegt.
Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) bemühte sich indessen darum, die Ergebnisse der Studie, mit denen aufgrund des geschilderten Sachverhalts durchaus zu rechnen war und die im wesentlichen schon seit Anfang 2007 vorlagen, in einem möglichst dramatischen Licht erscheinen zu lassen. "Das Ergebnis der Studie ist belastbar", erklärte BfS-Präsident Wolfgang König, als er das 337 Seiten umfassende Abschlußdokument am 10. Dezember der Öffentlichkeit präsentierte. "Es ist nach bisheriger Prüfung kein Fehler bzw. Irrtum bei der Entwicklung des Studiendesigns noch bei der Gewinnung und Analyse der Daten erkennbar, der den beobachteten Effekt erklären könnte."
König räumte zwar ein, daß die Studie "zur Kausalität der Erkrankungen keine Aussagen machen kann". Zugleich betonte er aber im Gegensatz zu den Autoren der Studie, daß ein solcher Zusammenhang "keinesfalls ausgeschlossen werden könne". Derselben Ansicht sei das zwölfköpfige Expertengremium, das im Auftrag des BfS die Einzelheiten der Studie vorgab und ihre Durchführung begleitete.
In auffallendem Kontrast zu König maß die Mainzer Professorin Maria Blettner, unter deren Leitung die Studie entstand, den Ergebnissen weit weniger Bedeutung bei. Wenn König Hinweise dafür habe, daß radioaktive Strahlung als Ursache nicht auszuschließen sei, "dann weiß er mehr als wir", sagte sie in einem Interview mit dem Berliner "Tagesspiegel" (11.2.). Die vom BfS bestimmte Expertenkommission zur Begleitung der Studie sei im wesentlichen mit Kernkraftgegnern besetzt gewesen, was die Zusammenarbeit "nicht ganz einfach" gemacht habe. Außerdem beklagte sich Blettner über die vorzeitige Veröffentlichung der Studie auf einer Pressekonferenz, von der sie nichts gewußt habe. Bundesumweltministerium und BfS betonten demgegenüber, daß sie zu der Pressekonferenz eingeladen worden sei.
Blettner leitet das Institut für Biometrie der Uni Mainz, bei dem das "Deutsche Kinderkrebsregister" angesiedelt ist. Im Mai 2001 war sie aus Protest gegen die Personalpolitik des damaligen Bundesumweltministers Jürgen Trittin (Grüne) als Vorsitzende der Strahlenschutzkommission (SSK) zurückgetreten (010519). Dagegen gehört BfS-Präsident Wolfgang König zu denen, die ihre Posten der Personalpolitik Trittins verdanken (990305).
Für Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) dürfte die Studie, die
noch sein Vorgänger Trittin in Auftrag gab und deren Durchführung eine Summe
im höheren sechsstelligen Bereich gekostet haben soll, in der aktuellen Auseinandersetzung
um längere Laufzeiten für Kernkraftwerke eine willkommene Unterstützung
sein. Die kernkraftfreundliche "Frankfurter Allgemeine" (13.12.) äußerte
sogar den Verdacht, er habe die Studie als Begleitmaßnahme zu seinem Klimapaket
(071204) gerade jetzt publizieren lassen, "damit niemand
auf den Gedanken kommt, daß man dieses Ziel auch mit Hilfe der Kernenergie erreichen
könnte".
Dennoch – oder gerade deshalb – äußerte sich Gabriel deutlich
zurückhaltender als der ihm unterstellte BfS-Präsident: "Nach derzeitigem
wissenschaftlichem Kenntnisstand kann der beobachtete Anstieg der Erkrankungen nicht
durch die Strahlenbelastung aus einem Atomkraftwerk erklärt werden." Er
habe die Strahlenschutzkommission (SSK) mit einer umfassenden Bewertung der Ergebnisse,
des Studienkonzepts, der erhobenen Daten sowie der Frage eines möglichen Ursachenzusammenhanges
beauftragt und werde nach deren Stellungnahme über das weitere Vorgehen entscheiden.
Auf Antrag der "Grünen" diskutierte der Bundestag am 13. Dezember über Konsequenzen aus der Studie. "Der bisher in der Wissenschaft angenommene Wirkungszusammenhang zwischen niedriger radioaktiver Strahlung und Krebserkrankungen muss wissenschaftlich neu bewertet und an die Erkenntnisse dieser Studie angepasst werden", forderte der grüne Abgeordnete Hans-Josef Fell. Die Reaktorbetreiber hätten entweder nachzuweisen, daß die erhöhte Zahl von Krebsfällen nicht durch den laufenden Betrieb der Kernreaktoren verursacht wird, oder ihre Reaktoren stillzulegen. Ähnlich argumentierte Hans-Kurt Hill als energiepolitischer Sprecher der Linkspartei.
Dagegen verwiesen Abgeordnete der CDU/CSU auf den fehlenden Nachweis eines Wirkungszusammenhangs: "Es gibt Forschungsbedarf, sonst gar nichts", meinte der Unionsabgeordnete Georg Nüßlein. Seine Fraktionskollegin Katherina Reiche sah "altbewährte Stimmungsmache gegen die Kernkraft" am Werk.
Für die SPD wies Christoph Pries den Verdacht zurück, die Studie solle "Antipathien gegen die Kernenergie schüren". Im übrigen werteten er und andere Abgeordnete der SPD das Ergebnis vor allem als Bestätigung dafür, daß am gesetzlich verankerten Ausstieg aus der Kernenergie festgehalten werden müsse. Nach Ansicht der SPD-Abgeordneten Marlies Volkmer ist durch die Studie "klargeworden, dass es keine Entwarnung vor den Risiken der Kernkraft geben kann und daß der schnelle Ausstieg aus dieser Hochtechnologie unbestritten richtig und wichtig ist",
Als Vertreter des Bundesumweltministeriums meldete der parlamentarische Staatssekretär Michael Müller Zweifel an, ob die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung noch ausreichen. Unzutreffend sei die Aussage von Frau Blettner, man habe sie nicht zur Pressekonferenz des BfS eingeladen. Ebenso sei es "schlicht falsch", das vom BfS bestimmte Expertengremium, das die Studie begleitete, als einseitig atomkritisch zu bezeichnen. Die Kommission zeichne sich vielmehr durch eine "plurale Zusammensetzung" aus.