April 2023

230406

ENERGIE-CHRONIK


 

Als Siemens und Framatome vor zwanzig Jahren den Auftrag zur Errichtung eines dritten Reaktors im finnischen Kernkraftwerk Olkiluoto erhielten, war das auch als Demonstrationsobjekt für Deutschland gedacht: Mit dem angeblich besonders sicheren und preisgünstigen EPR-Reaktor, der in vier Jahren fertiggestellt sein würde, wollten sie hierzulande den Widerstand gegen die Kernenergie überwinden und den Neubau von Reaktoren wieder in Gang bringen. Tatsächlich geriet der EPR aber bisher zu einem einzigen Fiasko (siehe Hintergrund, August 2020). Vor allem seine erste Realisierung in Olkiluoto führte eindringlich vor Augen, wie teuer, langwierig und unwirtschaftlich der Bau von Kernkraftwerken ist – von den mit Betrieb und Entsorgung verbundenen Risiken ganz zu schweigen. Darüber kann auch dieses farblich ansprechende Pressefoto nicht hinwegtäuschen: Rechts von dem neuen Druckwasserreaktor (1600 MW netto) sind die beiden Siedewasserreaktoren mit einer Leistung von jeweils 880 MW zu sehen, die 1980 bzw. 1978 ans Netz gingen. Gekühlt wird mit dem Wasser der Ostsee.
Foto: TVO

Kernkraftwerk Olkiluoto nach 18 Jahren Bauzeit im kommerziellen Betrieb

In Finnland hat am 16. April das Kernkraftwerk Olkiluoto 3 den kommerziellen Betrieb aufgenommen. Der Reaktor wurde im März 2021 erstmals mit Kernbrennstoff beladen und hatte im Dezember 2021 erstmals seine Kritikalität erreicht (211204). Der ursprünglich für Januar angekündigte Probebetrieb am Netz konnte jedoch erst am 12. März beginnen: Innerhalb von vier Monaten wurde die Leistung des Reaktors bis Herbst 2022 schrittweise bis auf 1.600 MW erhöht. Auch während dieser Phase der Inbetriebnahme kam es noch mehrfach zu Verzögerungen. So fand sich im Sommer 2022 Fremdmaterial im Dampf-Zwischenüberhitzer der Turbine, was Reparaturen erforderlich machte (220609). Im Herbst wurden außerdem Schäden an den Speisewasserpumpen festgestellt, weshalb die Inbetriebnahmearbeiten erst Ende 2022 wieder fortgesetzt werden konnten.

Die Bauzeit wurde mehr als viermal so lang und die Kosten haben sich mehr als verdreifacht

Bei Baubeginn im Jahr 2005 wurden die Kosten des Kernkraftwerks noch mit drei Milliarden Euro veranschlagt. Die Fertigstellung sollte bis 2009 erfolgen. Aber schon 2008 wurden die Kosten  auf 4,5 Milliarden Euro geschätzt. Am Ende waren es über 10 Milliarden Euro. Von der Erteilung des Bauauftrags (031205) bis zur jetzt erfolgten kommerziellen Inbetriebnahme vergingen gut zwanzig Jahre. Gerechnet ab Baubeginn waren es 18 Jahre. Damit wurde die Bauzeit um mehr als das Vierfache überschritten und die Kosten stiegen um mehr als das Dreifache.

Mit dem EPR sollte der Widerstand gegen den Neubau von Reaktoren überwunden werden

Das Kernkraftwerke Olkiluoto 3 wurde im Auftrag des finnischen Stromversorgers TVO von der französischen Framatome und Siemens errichtet. Framatome lieferte den nuklearen Teil der Anlage und Siemens die konventionelle Kraftwerkstechnik mit Dampfturbine, Generator, und Leittechnik. Die Framatome ANP gehörte zu 66 Prozent der französischen Nuklear-Holding Areva (010916) und zu 34 Prozent der Siemens AG, nachdem diese ihr Nukleargeschäft Anfang 2001 in den neuen Weltmarktführer bei Kernkraftwerken eingebracht hatte (010215). Die beiden Unternehmen wollten mit Olkiluoto 3 zum ersten Mal den "Europäischen Druckwasserreaktor" (EPR) verwirklichen, an dessen Entwicklung sie seit Anfang der neunziger Jahre arbeiteten (920103) und den sie den Stromversorgern mit einem günstigen Preis von 4,2 Milliarden Mark – also etwa 2,3 Milliarden Euro – schmackhaft zu machen versuchten (970811). Mit der angeblich höheren Sicherheit des EPR wollten sie vor allem in Deutschland den Widerstand gegen die Kernenergie überwinden und den Neubau von Reaktoren wieder in Gang bringen (siehe Hintergrund, August 2020). Die bayerische Landesregierung unterstützte den in Bayern ansässigen Siemens-Konzern durch die Gewährung eines günstigen Kredits für den Auftraggeber TVO in Höhe von 1,95 Milliarden Euro (040711).

Nach der Bekräftigung des deutschen Atomausstiegs verzichtete Siemens endgültig auf das Nukleargeschäft

Spätestens 2006 war klar, dass es auf der Baustelle erhebliche Probleme gab und der Zeitplan nicht eingehalten werden konnte (061007). Im Jahr der geplanten Fertigstellung verklagten sich dann die Beteiligten wechselseitig vor der Internationalen Handelskammer ICC auf Schadenersatz, wobei Areva/Siemens eine Milliarde Euro und TVO 1,4 Milliarden Euro verlangte (090909). Inzwischen war auch das geschäftliche Bündnis zwischen Siemens und dem Areva-Konzern zerbrochen (090104). Ersatzweise verhandelte der Siemens-Konzern mit Kreml-Chef Putin über ein neues Bündnis mit dem russischen Nuklearkonzern Rosatom (090202). Das war allerdings in jeder Hinsicht sehr unüberlegt, und er und mußte deshalb dem Ex-Partner 648 Millionen Euro zahlen (110510). Zu der fatalen Liaison mit der russischen Atomindustrie kam es dann zum Glück doch nicht, weil sich Siemens unter dem Eindruck der Katastrophe von Fukushima (110301) und des daraufhin erneut bekräftigten deutschen Atomausstiegs endgültig von der Nuklearenergie verabschiedete (110908).

In Finnland blieb Siemens weiterhin Zwangspartner von Areva

In Finnland blieb Siemens aber mit der französischen Areva zwangsweise verbunden, weil das gemeinsam vereinbarte Reaktorprojekt nicht vorankam. Im Sommer 2012 mußten beide eingestehen, dass Olkiluoto 3 auch bis 2014 nicht fertig sein würde (121002). Anfang 2013 nannte TVO das Jahr 2016 als Termin für die Inbetriebnahme (130207). Zwei Jahre später hieß es, daß der Reaktor frühestens 2018 ans Netz gehe (140906). Im Oktober 2014 teilten die Finnen mit, dass sie in dem seit sechs Jahren andauernden Schiedsverfahren ihre Forderungen an die Lieferanten von 1,8 auf 2,3 Milliarden Euro erhöhen würden. Areva und Siemens erhöhten darauf am 23. Oktober ihr Forderungen an die Auftraggeber von 1,9 auf 3,5 Milliarden Euro (141020). Aufgrund einer im März 2018 erzielten Einigung galt Mai 2019 als neuer Termin für die Inbetriebnahme. Andernfalls sollten Strafzahlungen fällig werden (180309). Offenbar mussten diese auch gezahlt geworden, da der Termin nicht eingehalten werden konnte.

Zum Schluss demonstrierten die Prozessgegner dann aber doch wieder Eintracht: Als im Dezember 2021 der Reaktor erstmals die Kritikalität erreichte, feierten sie dieses "historische Ereignis" mit blumigen Sprüchen über das gelungene Werk und die enorme Leistung, die damit vollbracht worden sei. Sowohl Auftraggeber als auch Lieferant vermieden es geflissentlich, auch nur ein Wort über die gigantischen Kostensteigerungen und Bauzeitüberschreitungen zu verlieren. So störte keinerlei Mißton das gemeinsam gesungene Hohelied der Kernenergie (211204).

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