Januar 2022 |
220103 |
ENERGIE-CHRONIK |
Zahlreiche Grundversorger verlangen neuerdings von Strom- und Gasverbrauchern, denen der bisherige Lieferant abhanden gekommen ist und die deshalb automatisch in die Ersatzversorgung fallen, deutlich höhere Strompreise als von bisherigen Bestandskunden der Grundversorgung. Sie begründen dies damit, dass ihnen die kurzfristige Beschaffung zusätzlicher Energiemengen bei der gegenwärtigen Preisexplosion an den Spotmärkten andernfalls Verluste bescheren würde und deshalb nicht zuzumuten sei (211202). Bei Verbraucherschützern und auch bei Politikern stößt dieses Argument auf heftige Kritik.
Der Bundesverband der Verbraucherzentralen vzbv veröffentlichte dazu am 20. Januar unter dem Titel "Strom- und Gaskunden dürfen nicht die Zeche für Marktversagen zahlen" eine Presseerklärung und ein "Positionspapier zur Schieflage auf dem Energiemarkt", in dem diese Praxis als unzulässig charakterisiert wird (siehe PDF). Die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen beantragte gegen die drei Grundversorger Rheinenergie, Wuppertaler Stadtwerke und Stadtwerke Gütersloh eine einstweilige Verfügung, nachdem diese auf Abmahnungen nicht reagiert hatten. Die beiden grünen Minister Robert Habeck (Wirtschaft und Klima) und Steffi Lemke (Justiz und Verbraucherschutz) sahen ebenfalls Handlungsbedarf, um die Stromkunden künftig vor überhöhten Preisen zu schützen, wenn sie infolge von "zum Teil offenbar rechtswidrigen" Kündigungen der Lieferverträge in die Ersatzversorgung fallen. Die Bundestagsfraktion der Linken wollte am 25. Januar in einer Kleinen Anfrage wissen, "wie viele Menschen seit Beginn des Jahres 2021von der Insolvenz eines Strom- oder Gasanbieters betroffen sind".
Wie die Bundesnetzagentur am 27. Januar auf Anfrage der ENERGIE-CHRONIK mitteilte, haben seit Anfang vorigen Jahres bisher 42 Energievertriebe die Beendigung der Belieferung ihrer Kunden angezeigt. Davon lieferten sieben sowohl Strom als auch Gas, 31 nur Strom und vier nur Gas. Der Großteil dieser Anbieter dürfte im vierten Quartal 2020 vom Markt verschwunden sein, doch wollte die Behörde dazu keine näheren Angaben machen. Ebensowenig war sie bereit, die betreffenden Firmen namentlich zu nennen. Um eine komplette Übersicht zu haben, müsste man deshalb die zuletzt mit Stand vom 14. Dezember aktualisierten Listen der Strom- und Gasversorger mit früheren Versionen vergleichen (siehe PDF).
Laut dem Vergleichsportal Check24 (14.1.) haben viele Grundversorger ihren Pflichttarif für Strom generell gegenüber dem Vorjahr erhöht, wobei die Erhöhungen gut 4,5 Millionen Haushalte betreffen und im Durchschnitt 65 Prozent betragen. Für einen Haushalt mit einem Verbrauch von 5000 Kilowattstunden jährlich bedeute dies zusätzliche Kosten von 1.068 Euro jährlich. 337 Grundversorger hätten neue Tarife ausschließlich für Neukunden der Grund- bzw. Ersatzversorgung eingeführt, wodurch die Preise sogar um 103 Prozent gestiegen seien.
Nach Angaben des Vergleichsportals Verivox (7.1.) kostete die Grundversorgung für einen Drei-Personen-Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 4.000 Kilowattstunden Anfang Januar im bundesweiten Durchschnitt 35,15 Cent pro Kilowattstunde. Das seien 3,5 Prozent mehr als im Dezember 2021. Hinzu seien die Netzentgelte im bundesweiten Durchschnitt um vier Prozent gestiegen. Deshalb komme die Absenkung der EEG-Umlage auf 3,72 Cent/kWh (211001) erst gar nicht bei den Verbrauchern an. Innerhalb der letzten zwölf Monate habe sich der Strom für Haushalte um knapp 40 Prozent verteuert. An der Stromterminbörse liege der Preis für eine Megawattstunde im kommenden Jahr, der sich bisher im langjährigen Mittel zwischen 35 und 55 Euro bewegte, nun aktuell bei über 130 Euro.
Der Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) führte Mitte Dezember unter 733 Mitgliedsunternehmen eine "Umfrage zur Tarifgestaltung in der Grund- und Ersatzversorgung" durch. Bei einer Teilnahmequote von 24 Prozent gaben 93 Prozent der Antwortenden an, dass sie im vergangenen Jahr "aufgrund einseitiger Vertragskündigungen oder Insolvenzen dritter Energielieferanten eine nicht prognostizierte Zahl von Kunden in der Grund- bzw. Ersatzversorgung aufnehmen" mussten. Der Zugang habe dabei meistens zwischen 100 und 999 Kunden gelegen (57 Prozent), gefolgt von unter 100 (33 Prozent), 1000 bis 5000 (7 Prozent) und mehr als 5000 (2 Prozent). Einen gesonderten Grundversorgungstarif für Haushaltsneukunden hatten bisher 72 der antwortenden 174 Unternehmen eingeführt (41 Prozent). Die übrigen bereiteten zu mehr als der Hälfte einen solchen Tarif für alle Fälle vor oder hatten die Einführung schon fest geplant. Gegen den unerwünschten Zugang von Nichthaushaltskunden bzw. Großverbrauchern hatten sich sogar 74 Prozent der Antwortenden bereits auf diese Weise abgesichert.