Dezember 2021 |
211202 |
ENERGIE-CHRONIK |
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Außer Rand und Band: Die Spotmarkt-Preise für Strom erreichten im Dezember neue Rekordhöhen. Der absolute Gipfel wurde am 21. Dezember für die Stunde ab 17 Uhr mit 620 Euro pro Megawattstunde erreicht. Kurz vor Monatsende lag der Dezember-Durchschnittspreis bei 232 Euro/MWh. |
Der Kollaps etlicher "Energiediscounter" für Strom und Gas, deren Geschäftsmodell durch die Preisexplosion am Spotmarkt zerfetzt wurde (211201), hat den Grundversorgern eine Menge von eher unerwünschten Neukunden beschert, die sie aufgrund von § 38 des Energiewirtschaftsgesetzes nun als "Ersatzversorger" beliefern müssen. Schon bisher wurden solche Neukunden mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Schließlich handelt es sich durchweg um Sonderkunden, die außérhalb der Grundversorgung einen vertraglich vereinbarten günstigeren Wahltarif abschlossen. Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass sie längere Zeit in der deutlich teuereren Grund- bzw. Ersatzversorgung verbleiben. Sie werden sich vielmehr möglichst schnell einen günstigeren Stromtarif suchen. Dabei sind für sie die von den örtlich zuständigen Grundversorgern angebotenen Wahltarife – wie schon früher – nicht unbedingt die erste Wahl.
Nun verschärft sich diese Problematik durch den Anstieg der kurzfristigen Beschaffungspreise für Strom und Gas. Darunter leiden – wenn auch in geringerem Maße – die Grundversorger und andere Energievertriebe mit einer längerfristig ausgelegten Beschaffungsstrategie ebenfalls. Durch die Neuzugänge schmelzen ihre Reserven, die mit Blick auf die angestammte Kundschaft angelegt wurden. Die kurzfristige Beschaffung zusätzlicher Gas- oder Strommengen für eine voraussichtlich nur vorübergehende Erhöhung des Kundenbestands kostet unverhältnismäßig viel Geld. Die gesetzlich auferlegte Grund- und Ersatzversorgung wird deshalb trotz des deutlich höheren Preisniveaus zum Zuschussgeschäft.
In die finanzielle Besorgnis mischt sich bei den Grundversorgern die Empörung darüber, dass die unsoliden Konkurrenten sich so einfach ihrer Verpflichtungen entledigen können und anscheinend nur auf einen Rückgang der Beschaffungspreise warten, um dann das alte Spiel von neuem zu beginnen. Für diesen Verdacht spricht zum Beispiel, dass die Stromio-Firmen zwar Knall auf Fall alle Lieferverträge kündigten, aber keineswegs ihre Zahlungsunfähigkeit erklärt haben.
Sogar ein kleiner Anbieter wie Neckermann-Strom, der tatsächlich Insolvenz beantragt hat, bezweckt damit erklärtermaßen lediglich die Einleitung eines Sanierungsverfahrens, "um das Unternehmen zu erhalten und den Betrieb vorzuführen" (sic!). Dann geht der Text so weiter: "Es gibt aber auch eine gute Nachricht: wir werden im Frühjahr, wenn sich der Strommarkt stabilisiert hat, voraussichtlich wieder in der Lage sein, den Geschäftsbetrieb aufzunehmen. Die EU-Kommission hält den derzeitigen Anstieg der Energiepreise für vorübergehend. Wir wünschen uns selbstverständlich, Sie dann als Kunden zurückzugewinnen."
Vor diesem Hintergrund hat zum Beispiel die Mannheimer MVV am 11. Dezember bekanntgegeben, dass sie ihre beiden Gas-Grundversorgungstarife ausschließlich für "Erdgas-Neukunden" bzw. Ersatzversorgte erhöht. Nach der letzten Preiserhöhung im November, die mit den gestiegenen Einkaufspreisen begründet wurde und für damalige Bestandskunden weiterhin ab 1. Januar 2022 maßgeblich bleibt, galt für den günstigeren Grund- und Ersatzversorgungstarif 2 (Gasheizung bzw. ab 3700 kWh/Jahr generell günstiger) ein Verbrauchspreis von 9,70 Cent/kWh und ein Servicepreis von 86,87 Euro/Jahr. Nun stieg der Verbrauchspreis für neu hinzukommende Ersatzversorgte um gut das Doppelte auf 17,58 Cent/kWh, während der Servicepreis unverändert blieb. Ende Dezember veröffentlichte die MVV zusätzlich eine "Mitteilung an unsere Nicht-Haushaltskunden". Sie betraf speziell neu hinzukommende Gas-Großverbraucher mit Leistungsmessung (über 10.000 kWh/Jahr). Diesen wurde nun ab 29. Dezember ein Verbrauchspreis von 26,61 Cent/kWh, ein Leistungspreis von 18,93 Euro/kWh/Jahr und ein Servicepreis von 2.504,95 Euro/Jahr abverlangt.
Wie der Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) am 29. November wissen ließ, wird eine solche Aufspaltung der Grund- und Ersatzversorgungspreise zwar von der Landeskartellbehörde NRW für zulässig gehalten, doch sei die Rechtslage nicht abschließend geklärt. Die Landeskartellbehörde habe in einer ersten Kurzbewertung auf Anfrage eines Stadtwerks die energie- und kartellrechtliche Zulässigkeit einer solchen Preisdifferenzierung deshalb bejaht, weil die Grundversorger als Versorger letzter Instanz dazu verpflichtet sind, die Versorgung aller, insbesondere schutzbedürftiger Haushaltskunden, mit Energie sicherzustellen. Die Grundversorger unterlägen daher dem sogenannten Kontrahierungszwang. Diese Rechtslage machten sich letztendlich auch die Energielieferanten zunutze, die nunmehr die Belieferung ihrer Kunden aus Kostengründen einstellen. Deren wirtschaftliches Risiko trügen nunmehr die Grundversorger. Verwehre man es daher dem Grundversorger, auf die steigenden Preise der Energiebeschaffung in Form einer Preisspaltung für Neukunden zu reagieren, so könne dies eine verfassungswidrige Ausgestaltung der Grundversorgungspflicht sein.
Am 23. Dezember nahm der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) mit gleich zwei Verlautbarungen seiner führenden Repräsentanten zu diesem Thema Stellung: "Die Weigerung von Stromio, ihre Kundinnen und Kunden weiterhin zu beliefern, offenbart einmal mehr eine schwerwiegende Regulierungslücke", erklärte die BDEW-Präsidentin Marie Luise Wolff. "Billiganbieter betreiben Geschäftemacherei auf Kosten der Kunden und wälzen das ökonomische Risiko auf die Grundversorger ab. Hier muss die neue Bundesregierung eingreifen. Vor dem Hintergrund der durch externe Faktoren explodierenden Preise an den Energiemärkten kann es nicht weiter angehen, dass Anbieter in Niedrigpreiszeiten Reibach machen und sich bei steigenden Preisen nicht mehr um ihre Kunden kümmern. Die Grundversorger übernehmen Verantwortung für ihre Bestandskunden und garantieren die Belieferung neuer Kunden unkompliziert und unterbrechungsfrei. Das muss von der Politik honoriert und unseriösen Geschäftsmodellen in der Daseinsvorsorge Einhalt geboten werden.“
Ganz ähnlich äußerte sich die Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäfstführung, Kerstin Andreae: "Unsere Unternehmen stehen vor erheblichen Herausforderungen aufgrund der explodierenden Energiebeschaffungspreise. Ein wesentliches Problem besteht darin, dass unseriöse Billiganbieter ihre Kunden nicht mehr beliefern, die dann in der Ersatzversorgung landen. Für sie müssen die Unternehmen zu den aktuell extrem hohen Preisen zusätzlich Energie zukaufen – über die von ihnen langfristig für ihren ursprünglich absehbaren Bedarf beschafften Mengen hinaus."
Der BDEW fordere deshalb die Bundesregierung dazu auf, den Energieversorgern unter bestimmten Voraussetzungen den Zugriff auf zinslose zweckgebundene Darlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu ermöglichen. Vor allem müsse dringend ein Tarif für die Grundversorgung von Neukunden rechtssicher eingeführt werden. Es sei auch im Sinne des Verbraucherschutzes, "wenn Bestandskunden nicht für das Verhalten der Discountunternehmen aufkommen müssen".