August 2019

190801

ENERGIE-CHRONIK


 

Die im Abstand von 15 Sekunden durchgeführten Messungen zeigen, dass die Netzfrequenz bis 15.52 Uhr ziemlich genau der Norm von 50 Hertz entsprach. Dann fiel sie schlagartig unter die Toleranzgrenze von 49,50 Hertz. Darin widerspiegelte sich das Erzeugungsdefizit, das durch den Ausfall des ersten Kraftwerks entstand. Die automatisch ausgelösten Regelmechanismen scheinen dann eine kurzfristige Erholung bewirkt zu haben, die aber vom Ausfall des zweiten Kraftwerks durchkreuzt wurde, weshalb die Frequenz noch tiefer bis auf 48,89 Hertz absackte. Spätestens jetzt konnte der völlige Zusammenbruch des britischen Stromnetzes nur noch durch flächendeckende Abschaltungen abgewendet werden.

Stromausfälle in Großbritannien lösen regierungsamtliche Untersuchung aus

In Großbritannien kam es am 9. August zu gravierenden Stromausfällen. Betroffen waren Millionen Menschen im Bereich der vier englischen Verteilerunternehmen, die dem landesweiten Netzbetreiber National Grid gehören. Allein im Zuständigkeitsbereich der Western Power Distribution fiel so für rund 500.000 Kunden in den Midlands, Südwestengland und Wales der Strom aus. Die UK Power Networks sprachen von schätzungsweise 300.000 betroffenen Abnehmern in London und im Südosten Englands. Hinzu kamen weitere 110.000 Kunden in Yorkshire und Nordostengland sowie etwa 26.000 in Nordwestengland. Verschont blieben dagegen die beiden schottischen Verteilerunternehmen, die National Grid nicht eigentumsmäßig unterstehen.

Mechanismen der Netzregelung werden überprüft

Die Stromausfälle wurden durch zwei Kraftwerke verursacht, die fast gleichzeitig vom Netz gingen. Die Abschaltung erfolgte in beiden Fällen automatisch, weil anscheinend die Schutzelektronik so eingestellt war, dass sie die Situation im Netz als Sicherheitsrisiko interpretierte. Das Erzeugungsdefizit hätte indessen die Versorgungssicherheit nicht gefährden dürfen. Die zuständige Ministerin für Wirtschaft und Energie, Andrea Leadsom, hat deshalb das regierungsamtliche "Energy Emergencies Exekutive Committee" beauftragt, gemeinsam mit der Regulierungsbehörde Ofgem und der Energiebranche die Mechanismen der Netzregelung zu überprüfen. Der Ausschuss tagte erstmals am 12. August. Er soll bis Mitte September über erste Ergebnisse berichten und bis Anfang November einen umfassenden Bericht vorlegen. Der Netzbetreiber National Grid ESO wurde aufgefordert, bis 16. August seine wichtigsten vorläufigen Erkenntnisse und bis 16. September einen technischen Abschlussbericht vorzulegen.

Nach Blitzschlag ins Transportnetz schalteten gleich zwei Kraftwerke ab


Die 14 Strom-Verteilernetze in Großbritannien gehören sechs Unternehmen. Von dem Stromausfall betroffen waren die vier Töchter von National Grid, die in England und Wales zehn Verteilernetze betreiben.
Grafik: Ofgem

Der Stromausfall begann am Freitagnachmittag kurz vor 16 Uhr (WEZ), als fast gleichzeitig das GuD-Kraftwerk Little Barford und der Offshore-Windpark Hornsea 1 in der Nordsee abschalteten. Anfänglichen Angaben zufolge ging zuerst das Gaskraftwerk vom Netz, während der Windpark zwei Minuten später folgte. Laut "Financial Times" (16.8.) hat der Netzbetreiber National Grid diese Darstellung inzwischen aber in dem vorläufigen Bericht korrigiert, den er der Regulierungsbehörde Ofgem vorlegte. Demnach hat sich zuerst der Windpark abgeschaltet, weil ein Blitzschlag ins Transportnetz eine Überspannung verursachte. Die Netzstabilität sei dadurch aber noch nicht verloren gegangen. Erst der anschließende Ausfall des Gaskraftwerks habe die Netzfrequenz bis auf 48,889 sinken lassen und damit die automatischen Lastabwürfe auf der Verteilebene bewirkt.

Das Gaskraftwerk Little Barford hat sich vermutlich wegen des inzwischen eingetretenen Frequenzabfalls abgeschaltet. Es gehört dem deutschen RWE-Konzern und verfügt über eine Netto-Leistung von 740 MW, hat zu diesem Zeitpunkt aber nur 664 MW eingespeist. Der Windpark Hornsea 1 wird vom dänischen Oersted-Konzern betrieben, der bis November 2017 Dong Energy hieß. Er umfasst im Endausbau 174 Windkraftanlagen mit einer Nennleistung von jeweils 7 MW. Davon waren erst zwei Drittel installiert. Indessen wird schon seit Februar mit den verfügbaren Kapazitäten Strom erzeugt. Am 9. August ergab das eine Leistung von 812 MW.

Erzeugungslücke war größer als die sofort aktivierbare Regelenergie

Insgesamt betrug der Verlust an Erzeugungskapazität also knapp 1,5 Gigawatt. Das war ein bißchen mehr als die 1,2 Gigawatt, die der Reaktor Sizewell B als größter britischer Kraftwerksblock erreicht. Ein solches Erzeugungsdefizit müßte in jedem Fall verkraftet werden können, ohne dass es gleich zur flächendeckenden Abschaltung von Stromkunden kommt. Außerdem betrug die Netzlast zu diesem Zeitpunkt lediglich 29 Gigawatt. Sie war demnach sommerlich entspannt, während sie im vergangenen Winter bis zu 47 Gigawatt erreichte. Dass es trotzdem nicht gelang, das Erzeugungsdefizit auszuregeln, läßt auf netztechnische Versäumnisse schließen. Aus dem vorläufigen Bericht des Netzbetreibers an die Regulierungsbehörde soll hervorgehen, dass für die Frequenzregelung lediglich 1000 Megawatt zur Verfügung standen. Die Erzeugungslücke wäre also um ein Drittel größer gewesen als die sofort aktivierbare Regelenergie.

Britische Frequenzregelung stützt sich im wesentlichen auf Batteriespeicher

National Grid hat in den vergangenen Jahren die klassische Primärregelung, die über die rotierende Masse der Generatoren von Großkraftwerken erfolgt, durch ein neues Verfahren namens "Enhanced Frequency Response" ersetzt, das sich im wesentlichen auf Batteriespeicher stützt. Es reagiert bereits in Sekundenbruchteilen auf Frequenzänderungen und ermöglicht es so, dichter an der Normfrequenz von 50 Hertz zu bleiben, die im britischen Übertragungssystem höchstens um ein Prozent nach oben oder unten schwanken darf. Der erforderliche Aufwand an Regelenergie wird dadurch im Normalfall geringer und auch kostengünstiger.

Allerdings muss National Grid dennoch für alle Eventualitäten gerüstet bleiben und auch eine außergewöhnliche Diskrepanz zwischen Erzeugung und Verbrauch ausgleichen können. Der Mangel an Regelenergie am 9. August weckt den Verdacht, dass der Netzbetreiber diesen Gesichtspunkt vernachlässigt und für ein eher hypothetisches Risiko gehalten hat. Anstelle eines außergewöhnlichen Bedarfs an Regelenergie scheint er als einzige Vorsorge die Abschaltung der Verteilnetze einkalkuliert zu haben.

Kompletter Zusammenbruch mit "Schwarzstart" konnte vermieden werden

Vor diesem Hintergrund wurden die jetzigen Stromausfälle durch einen Automatismus ausgelöst, der die zehn Netze der vier Verteilerunternehmen in England und Wales, die zu National Grid gehören, mehr oder weniger umfassend abschaltete. Dadurch gelang es, wenigstens das Übertragungsnetz zu stabilisieren und ein weiteres Absinken der Netzfrequenz unter das gesetzlich vorgeschriebene Limit zu verhindern. Andernfalls wäre in ganz Großbritannien die Stromversorgung zusammengebrochen und ein "Schwarzstart" erforderlich geworden, der Stunden oder gar Tage gedauert hätte.

Nach erfolgter Stabilisierung des Übertragungsnetzes und der Aktivierung von Kraftwerksreserven konnte deshalb die Stromversorgung in den Verteilernetzen relativ schnell wieder aufgebaut werden. Schon nach einer Viertelstunde durften die Verteilnetzbetreiber mit der Wiederherstellung beginnen. Nach ungefähr einer Stunde war die Stromversorgung großteils wieder hergestellt. Die verursachten Störungen dauerten aber teilweise länger. Unter anderem wurde auch der Zugverkehr erheblich beeinträchtigt.

Vorrang hatte nicht die Stromversorgung, sondern die Verschlankung der Frequenzregelung

National Grid hat sogleich versucht, das starke Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch als ein außergewöhnliches Ereignis darzustellen, dessen Auswirkungen man durch sonst zuverlässig funktionierende Mechanismen der Netzregelung minimiert habe. "Dies war ein höchst ungewöhnliches Ereignis, das es in den letzten zehn Jahren noch nie gegeben hat", erklärte ein Unternehmenssprecher. "Bis zu den Ereignissen am Freitag hat sich das System in sicheren Grenzen gehalten." Zugleich dementierte er Medienberichte, wonach es bereits in der Vergangenheit Beinahe-Stromausfälle und andere Warnsignale für die Unzuverlässigkeit des bisherigen Systems der Netzregelung gegeben habe.

Ins gleiche Horn stieß der Vorstandsvorsitzende von National Grid, John Pettigrew, indem er sinngemäß argumentierte, hier sei ein größeres Übel durch ein kleineres verhindert worden: "The system did the job that it was designed to do – by protecting many more millions of customers nationwide from potential loss of power." Immerhin räumte Pettigrew ein, dass nun auch untersucht werden müsse, "ob das System in seiner jetzigen Form die Stromversorgung richtig priorisiert".

Bisher sieht es danach aus, als habe National Grid anstelle der Stromversorgung sein verschlanktes System der Frequenzregelung priorisiert. Kurz vor dem Stromausfall veröffentlichte der Netzbetreiber eine Broschüre mit dem Titel "Future of the Electricity National Control Centre". Darin rühmt er sich, die Frequenzhaltung selbst dann gewährleisten zu können, wenn der größte Teil der Erzeugung oder der Last ausfällt: "We maintain sufficient levels of frequency response on the system to protect against the loss of the largest supply of generation or demand to avoid breaching security standards." Das läßt sich auch so verstehen, dass die Netzregelung einseitig auf die Übertragungsebene zugeschnitten wurde. Die Frequenzhaltung ist zwar sicher eine elementare Voraussetzung für die Stabilität des gesamten Netzbetriebs. Sie ersetzt aber keineswegs andere Maßnahmen zur Gewährleistung und Erhöhung der Versorgungssicherheit. Dazu gehört die Bereitstellung ausreichender Regelenergie, damit es erst gar nicht zu flächendeckenden Lastabwürfen kommt.

Der Netzbetreiber hätte somit zwar Aufwand und Kosten gespart, aber einen großen Teil des Risikos auf die Stromverbraucher abgewälzt, die im Dunkeln sitzen oder im Zug auf der Strecke liegen bleiben, wenn es doch nicht klappt. Es trifft wohl auch nicht zu, dass bisher alles gut gegangen sei. Laut "Guardian" (12.8.) kam es in den vergangenen Monaten schon mehrfach zu kritischen Situationen. Zum Beispiel sei im Juni die Netzfrequenz nur noch um Haaresbreite von der 49,5-Hertz-Grenze entfernt gewesen, nachdem sich alle drei Blöcke des Gaskraftwerks West Burton von EDF Energy ohne Vorwarnung abgeschaltet hätten.

National Grid hat den "Electricity System Operator" seit 1. April juristisch verselbständigt

National Grid ist schon in den Anfängen der Liberalisierung wegen Stromausfällen in die Kritik geraten (030909). Dem börsennotierten Unternehmen gehören in England und Wales das Strom-Übertragungsnetz sowie auf der ganzen Insel das Gas-Transportnetz. Zugleich ist es landesweit - mit Ausnahme von Nordirland, aber inklusive Schottland – für den Betrieb der Strom- und Gastransportnetze zuständig. Über eine US-Tochter ist die National Grid Group außerdem schon seit fast zwanzig Jahren auf den amerikanischen Strommarkt tätig.

Seit 1. April dieses Jahres hat National Grid die Regelung des Strom-Übertragungsnetzes der neu gegründeten Tochter National Grid ESO übertragen. Die drei Buchstaben stehen für "Electricity System Operator". Mit der juristischen Verselbständigung will der Mutterkonzern vermutlich das Risiko von Schadenersatzklagen wegen grober Fehler beim Netzbetrieb mindern. Offiziell lautete die Begründung: "Die Trennung des ESO-Geschäfts von National Grid Electricity Transmission schafft Transparenz bei unseren Entscheidungen und gibt uns die Gewissheit, dass alles, was wir tun, den Wettbewerb fördert und letztlich den Verbrauchern zugute kommt."

Großbritannien ist auch bei der Stromversorgung eine Insel

Die Stromversorgung in Großbritannien erfolgt über ein eigenes Verbundsystem (früher UKTSOA), das mit den anderen vier europäischen Verbundsystemen vor zehn Jahren unter dem Dach der ENTSO-E angesiedelt wurde (090207). Dieses Verbundsystem beschränkt sich auf die britische Insel. Das ebenfalls zum "Vereinigten Königreich" gehörende Nordirland bildet zusammen mit der Republik Irland ein eigenes Verbundsystem, das noch kleiner ist (früher ATSOI). Ein Stromaustausch mit dem vielfach größeren kontinentaleuropäischen Verbundsystem (früher UCTE) sowie den skandinavischen Ländern (früher Nordel) ist nur in sehr beschränktem Umfang über Seekabel möglich, die per Hochspannungs-Gleichstromübertragung (HGÜ) die unterschiedlichen Wechselstrom-Systeme miteinander verbinden.

 

Links (intern)