Dezember 2016 |
161201 |
ENERGIE-CHRONIK |
Das Bundesverfassungsgericht hat am 6. Dezember den Gesetzgeber zur Änderung des geltenden Atomgesetzes verpflichtet, weil die Schlußtermine für die sukzessive Abschaltung aller Reaktoren in § 7 Abs. 1a zu knapp bemessen seien, um die im selben Paragraphen zugesicherten Reststrommengen restlos abarbeiten zu können. Ferner vermissen die Karlsruher Richter eine Regelung, welche die KKW-Betreiber für den Ankauf von Brennelementen oder ähnliche Investitionen entschädigt, die sie im Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit der Laufzeiten-Verlängerung vorgenommen hätten, die ihnen die schwarz-gelbe Koalition erst kurz zuvor beschert hatte. In beiden Fällen werde das in Artikel 14 des Grundgesetzes verankerte Recht auf Eigentum verletzt. Das Atomgesetz müsse deshalb bis zum 30. Juni 2018 in den beanstandeten Punkten revidiert werden (siehe auch Hintergrund).
Zur Zeit sind in Deutschland noch acht Reaktoren in Betrieb. Laut Atomgesetz müssen sie bis zu den hier genannten Terminen stillgelegt werden. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind diese Termine aber nicht mehr in Stein gemeißelt, falls sie der Abarbeitung der bewilligten Reststrommengen im Wege stehen sollten und der Gesetzgeber keine anderen Möglichkeiten nutzt, um ihre Korrektur zu vermeiden. |
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts betrifft jedoch ausdrücklich nicht den Atomausstieg, wie ihn die rot-grüne Koalition mit dem Ende 2001 beschlossenen "Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergie" eingeleitet hat. Es wird auch nicht beanstandet, daß die schwarz-gelbe Koalition die extreme Aufstockung der Reststrommengen, die sie den Atomkonzernen gewährt hatte, nach der Katastrophe von Fukushima wieder zurücknahm. Sogar die Schlußtermine für die einzelnen Reaktoren, die sie dem Atomgesetz hinzufügte, werden grundsätzlich für zulässig erachtet und nur insoweit in Frage gestellt, als dadurch eine vollständige Abarbeitung der zugesicherten Reststrommengen für die Kernkraftwerke Krümmel und Mülheim-Kärlich nicht möglich wird.
"Die festgestellten Verfassungsverstöße berühren das Hauptziel der 13. AtG-Novelle, die Beschleunigung des Atomausstiegs, nicht im Kern", heißt es in dem Urteil wörtlich. "Die Rücknahme der Ende 2010 in großem Umfang zugeteilten Zusatzstrommengen, die Einführung fester Endtermine für den Betrieb der einzelnen Kernkraftwerke und die Staffelung der Abschaltfristen haben sich im Grundsatz als vereinbar mit dem Grundgesetz erwiesen. Die verfassungsrechtlich zu beanstandenden Defizite sind zwar nicht unerheblich. betreffen jedoch gemessen an der Gesamtregelung nur Randbereiche."
Geklagt hatten die KKW-Betreiber RWE, E.ON und Vattenfall. Die Energie Baden-Württemberg (EnBW) verzichtete auf eine Verfassungsbeschwerde, weil ihr als faktisch hundertprozentiges Unternehmen der öffentlichen Hand dieses Rechtsmittel nicht zur Verfügung steht (120714). Die Klageberechtigung des Vattenfall-Konzerns erschien ebenfalls sehr zweifelhaft, weil er ein ausländisches Unternehmen ist und zu hundert Prozent dem schwedischen Staat gehört. Parallel zur Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht hat Vattenfall deshalb die Bundesrepublik beim Schiedsgericht der Weltbank in Washington verklagt (141001 und Hintergrund). Überraschenderweise haben die Karlsruher Richter die Klage der Schweden aber doch zugelassen. Sie begründeten dies mit europarechtlichen Überlegungen: Die durch EU-Recht geschützte Niederlassungsfreiheit erfordere es, die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde auch solchen inländischen juristischen Personen des Privatrechts einzuräumen, die einem ausländischen Staat gehören.
Die am 30. Juni 2011 verabschiedete Neufassung des Atomgesetzes hatte die neu eingeführten Schlußtermine für den Betrieb der Kernkraftwerke so festgesetzt, daß E.ON und EnBW ihre Reststrommengen nicht nur locker abarbeiten konnten, sondern sogar über zusätzliche Spielräume verfügten (110601). Der Vattenfall-Konzern schied dagegen aus dem Kreis der aktiven KKW-Betreiber aus, weil er seine beiden Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel nicht mehr in Betrieb nehmen durfte. Dabei verfügte Krümmel noch über eine erhebliche Reststrommenge, die den Weiterbetrieb bis 2021 ermöglicht hätte. Offenbar gingen die Gesetzesmacher davon aus, daß der langjährige Geschäftspartner E.ON oder auch EnBW diese Reststrommengen übernehmen und entsprechend honorieren würden. Dies sahen die Karlsruher Richter freilich anders: Für sie kommt es bei der Verwertbarkeit der Reststrommengen auf eine "konzerninterne Betrachtungsweise" an. Und weil in dem neugefaßten Atomgesetz auch nirgendwo die Rede davon war, daß E.ON die Reststrommengen des Geschäftspartners übernehmen soll, billigten sie Vattenfall die Entschädigung zu.
Im Unterschied zu E.ON und EnBW tat sich der RWE-Konzern schwer damit, die ihm zustehenden Reststrommengen im Rahmen der gesetzten Schlußtermine abzuarbeiten. Das lag an dem Kontingent für das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich, das er im Jahr 2000 bei den Verhandlungen über den Atomkonsens von der rot-grünen Koalition bewilligt bekam. Im Gegenzug hatte er sich bereit erklärt, dieses Kernkraftwerk, das schon seit 1998 stillstand, nie mehr in Betrieb zu nehmen (000601, 030906). Auch in diesem Fall saßen die Gesetzesmacher einem Irrtum auf, wenn sie davon ausgingen, daß RWE gewisse Abstriche an einem rein fiktiven Kontingent verschmerzen werde. Aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts sind die Phantom-Reststrommengen für das längst stillgelegte Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich genausoviel wert wie die von tatsächlich produzierenden Reaktoren. Deshalb darf auch RWE nun eine Entschädigung verlangen.
Die Aktien von E.ON und RWE gingen nach Bekanntwerden des Urteils kurzfristig in die Höhe, um dann wieder abzusinken. Offenbar hatte man die finanziellen Auswirkungen zunächst überschätzt. Es würde anderen Gerichten obliegen, die prinzipiell zuerkannten Entschädigungsansprüche genauer zu beziffern. Die KKW-Betreiber könnten aber keinesfalls mit Summen rechnen, die auch nur entfernt an die rund 19 Milliarden Euro heranreichen, zu denen sich ihre Forderungen insgesamt addiert hätten. Vermutlich würden sie sogar weniger als eine Milliarde bekommen.
Der E.ON-Konzern behauptete am 6. Dezember, er habe "hunderte Millionen Euro in einen längeren Betrieb der Kernkraftwerke investiert", die durch die atompolitische Wende der schwarz-gelben Koalition nach der Katastrophe von Fukushima "vollständig entwertet" worden seien. RWE und Vattenfall wollten sich zur Höhe von Entschädigungsansprüchen vorläufig nicht äußern.
Wahrscheinlicher als nun folgende Schadenersatzprozesse ist ein Verzicht auf derartige Klagen. Mit der Neuordnung der Zuständigkeiten für den Abbau von Kernkraftwerken und die Endlagerung der radioaktiven Abfälle, die der Bundestag am 15. Dezember beschloß, sind die KKW-Betreiber finanziell sehr gut weggekommen (161202). Um dieses Ergebnis nicht zu gefährden, haben sie Anfang Dezember bereits zwanzig Klagen zurückgezogen. Dies reicht dem Bundestag aber noch nicht. Mit den Stimmen der Regierungsparteien und der Grünen hat er explizit die Erwartung geäußert, daß die Atomkonzerne im Zuge eines mit der Regierung abzuschließenden öffentlich-rechtlichen Vertrages auch auf die restlichen Klagen verzichten (161204). Es wäre politisch unklug und würde schlecht zu dieser vorgegebenen Marschroute passen, wenn sie nun mit neuen Schadenersatzansprüchen kämen.
Alternativ zu einer Entschädigung läßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch eine gesetzliche Neuregelung zu, welche die beanstandeten Defizite bei der Abarbeitung der Reststrommengen für Krümmel und Mülheim-Kärlich beseitigt. Zum Beispiel könnte eine "entsprechende Verlängerung der Laufzeiten einzelner konzerneigener Kernkraftwerke" erfolgen, heißt es ganz am Schluß des Karlsruher Urteils. Eine weitere Möglichkeit zur Kompensation der Verstromungsdefizite sei die "gesetzliche Sicherstellung einer Weitergabemöglichkeit von nicht mehr verstrombaren Elektrizitätsmengen an Konzerne mit überschießenden Verstromungskapazitäten zu ökonomisch zumutbaren Bedingungen". Im Klartext dürfte damit vor allem gemeint sein, daß der E.ON-Konzern verpflichtet wird, die Reststrommengen von Vattenfall zu übernehmen, zumal er an dem Reaktor Krümmel zur Hälfte beteiligt ist.