Juni 2016 |
160616 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die Netzentgelte, die den Netzbetreibern durch
die Begünstigung der Großstromverbraucher entgehen, wurden
bisher über einen bundesweiten Mechanismus gleichmäßig
auf die kleineren Stromverbraucher umgelegt. Die in dieser Grafik angegebenen
Gesamtsummen für die Jahre 2012 bis 2014 ergeben insgesamt 1,7
Milliarden Euro. Außer den "entgangenen Erlösen"
nach Satz 1 (blau) sowie Satz 2 und 3 (rot) von § 19 Abs. 2 der
Stromnetzentgeltverordnung sind darin gut eine Million Euro für
die sogenannten WP-Bescheinigungen enthalten, die in diesen Balken-Diagrammen
optisch verschwinden, aber trotzdem ein nettes Zusatzgeschäft für
die Wirtschaftsprüfungs-Branche bedeuten.
Quelle: www.netztransparenz.de |
Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat das Umlageverfahren für nichtig erklärt, mit dem bisher nach § 19 Abs. 2 StromNEV die Stromnetzentgelt-Vergünstigungen für Großverbraucher auf die kleineren Stromkunden abgewälzt wurden. Er bestätigte damit eine entsprechende Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom März 2013, vor dem ein Übertragungsnetzbetreiber gegen den Wälzungsmechanismus geklagt hatte. Darüber hinaus erklärte er auch die 2013 erfolgte Neufassung des Paragraphen in diesem Punkt für ungültig und annullierte die Ausführungsbestimmungen, die von der Bundesnetzagentur erlassen wurden. Als höchstrichterliche Entscheidung ist das Urteil nicht angreifbar und damit rechtskräftig.
Die jetzt ergangene Entscheidung stellt nicht die Netzentgelt-Ermäßigungen für die Großstromverbraucher an sich in Frage, sondern nur das Verfahren zur Umlage der dadurch entstehenden Kosten auf die übrigen Stromverbraucher. Sie hat dennoch weitreichende Auswirkungen, die vorerst noch nicht genau zu überblicken sind. Wie zuvor schon das Oberlandesgericht Düsseldorf ist auch der Bundesgerichtshof der Ansicht, daß das bundesweite Umlageverfahren ebenso unzulässig ist wie die Totalbefreiung der Großstromverbraucher von den Netzentgelten, mit der es zusammen im Jahre 2011 eingeführt wurde. An diesem innigen Zusammenhang ändere auch die 2013 erfolgte Rücknahme der Totalbefreiung nichts.
Unter den geltenden gesetzlichen Vorschriften dürfte das Urteil eine Rückabwicklung der "§ 19 StromNEV-Umlage" erforderlich machen, mit der die Übertragungsnetzbetreiber die Kosten der Großverbraucher-Begünstigung bisher bundesweit einheitlich auf alle übrigen Stromverbraucher verteilt haben. Dabei wäre in solchen Netzgebieten, in denen nur wenige oder keine Großstromverbraucher sitzen, mit einer Senkung der Netzentgelte zu rechnen. Umgekehrt würden die Netzentgelte dort steigen, wo viele Großstromverbraucher angesiedelt sind.
Darüber hinaus lenkt das BGH-Urteil erneut die Aufmerksamkeit auf die skandalös anmutenden Netzentgelt-Befreiungen für Großstromverbraucher, die gemäß § 19 Abs. 2 der Stromnetzentgeltverordnung lediglich 10 bis 20 Prozent des Normalsatzes entrichten müssen. Es ist nicht auszuschließen, daß es den politischen Anstoß zu einer Senkung dieser Rabatte gibt, zumal bei der EU-Kommission noch immer ein Beihilfeverfahren wegen dieses Paragraphen läuft.
Die 2005 in Kraft getretene Stromnetzentgeltverordnung sah in § 19 Abs. 2 von Anfang an ein vermindertes "individuelles Netzentgelt" für Großstromverbraucher vor. Sie begrenzte es aber ursprünglich auf die Hälfte des normalen Netzentgelts. Die dadurch entstehenden Mehrkosten wurden vom jeweils zuständigen Netzbetreiber auf die Netzentgelte und damit auf die übrigen Stromverbraucher derselben Netzregion abgewälzt.
Das änderte sich, als die schwarz-gelbe Bundesregierung 2011 beschloß, die Großverbraucher völlig von den Netzentgelten zu befreien. Die Mehrkosten, die auf den Rest der Stromverbraucher zu verteilen waren, wurden dadurch erheblich größer. Um diese Begünstigung einer kleinen, aber einflußreichen Klientel möglichst unauffällig über die politische Bühne bringen zu können, war es für die Regierung wichtig, es nicht zu einer regionalen Häufung der Mehrkosten kommen zu lassen, sondern diese bundesweit gleichmäßig auf alle kleineren Stromverbraucher zu verteilen. Deshalb wurde zusammen mit der Komplettbefreiung der Großstromverbraucher das bundesweite Umlageverfahren eingeführt, das jetzt der Bundesgerichtshof für unzulässig erklärt hat. Es funktionierte so, daß die Übertragungsnetzbetreiber den regionalen Netzbetreibern ihre "entgangenen Erlöse" erstatteten, um sich diese Kosten dann ihrerseits über einen bundesweit einheitlichen Aufschlag auf die Netzentgelte zurückzuholen.
Die fragliche Regelung in § 19 Abs. 2 der Stromnetzentgeltverordnung wurde auch als "Mitternachtsparagraph" bezeichnet, weil sie vom Wirtschaftsausschuß des Bundestags in letzter Minute einem unübersichtlichen Artikelgesetz eingefügt und vom Parlament anstandslos abgenickt wurde (111109). Auch der Bundesrat ließ die Änderung unbesehen passieren. Die schwarz-gelbe Koalition begründete ihr handstreichartiges Vorgehen damit, daß die Großabnehmer durch konstant hohe Stromflüsse zur Netzstabilität beitragen würden. Dieses Argument war von Anfang an äußerst fadenscheinig, da es noch nie einen Grund gab, ein vorgegebenes Netznutzungsverhalten extra zu belohnen. Außerdem existierte die netzstabilisierende Wirkung nur in der Phantasie der Lobby und ihrer politischen Taschenträger. Die netztechnische Realität sah ganz anders aus (siehe Hintergrund).
Die Totalbefreiung hatte allerdings nicht lange Bestand, weil sie im März 2013 vom Oberlandesgericht Düsseldorf für unzulässig erklärt wurde (130303). Wie das Gericht feststellte, hat der Bundestag diese Regelung ohne ausreichende Rechtsgrundlage abgenickt, weil die in § 24 des Energiewirtschaftsgesetzes erteilten Ermächtigungen dafür nicht ausreichen. Eine komplette Befreiung der Großstromverbraucher von den Netzentgelten verletze außerdem das Diskriminierungsverbot in § 21 des Energiewirtschaftsgesetzes. Daß anstelle der Bundesregierung der Bundestag die Verordnung erlassen habe, ändere nichts daran, daß diese uneingeschränkt der gerichtlichen Überprüfung auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht unterliege.
Dieses Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf wurde vom Bundesgerichtshof am 6. Oktober höchstinstanzlich bestätigt. Auch die jetzt ergangenen Entscheidung zum Umlageverfahren – die vom 12. April datiert ist, aber erst Anfang Juni bekannt wurde – bestätigt sie insgesamt nochmals (siehe externe Links zu beiden Urteilen).
In zusätzliche Bedrängnis geriet die Bundesregierung durch die die EU-Kommission, die durch die Totalbefreiung ebenfalls alarmiert wurde und ein Beihilfeverfahren einleitete (131202). Um sowohl der Justiz als auch der Kommission den Wind aus den Segeln zu nehmen, entschloß sich die schwarz-gelbe Bundesregierung zu einer Neuformulierung des § 19 Abs. 2 StromNEV, welche die Totalbefreiung formal wieder abschaffte. Stattdessen wurde den Großverbrauchern nun ein extrem hoher Netzentgelt-Nachlaß von achtzig bis neunzig Prozent eingeräumt, der bis heute gilt (130714). Die Korrektur war also weitgehend kosmetischer Art. Das Umlageverfahren zur bundesweit gleichmäßigen Verteilung der regional unterschiedlichen Mehrbelastung für die kleineren Stromverbraucher wurde sogar unverändert beibehalten.