Das Bassermann-Palais am Mannheimer Marktplatz (nach dem Umbau zum Verlagsgebäude 1929). |
Die Gesellschafter des "General-Anzeigers" konnten bis in den Ersten Weltkrieg hinein mit steigenden Gewinnen rechnen. Trotz der beträchtlichen Abfindungen an den früheren Eigentümer Juillerat-Chasseur wurde beispielsweise bei der Gesellschafterversammlung im März 1907 ein Reingewinn von 48235 Mark und 67 Pfennig verteilt und im März 1911 ein Reingewinn von 53328 Mark und 43 Pfennig. (56) Natürlich hatte die Mark eine gänzlich andere Kaufkraft als heute. Ein Drucker, der damals zu den bestbezahlten Facharbeitern gehörte, verdiente zur gleichen Zeit wöchentlich knapp 30 Mark. (63) Ein Jahresgehalt von mehr als 2400 Mark für Angestellte unterlag, wie bereits erwähnt, schon der besonderen Genehmigung durch den Aufsichtsrat.
Es läßt sich anhand der Gesellschafterliste des Jahres 1910 leicht ausrechnen, was jeder der Teilhaber an Geld empfing, wenn er nach der nächsten Generalversammlung vom 25. März 1911 seinen Coupon am Schalter der "Süddeutschen Disconto-Gesellschaft", der "Rheinischen Creditbank" oder des Bankhauses "Marx & Goldschmidt" zur Einlösung vorlegte. Pro 1000 Mark-Anteil am Stammkapital gab es nämlich 100 Mark an Zinsen und Dividende, die zusätzlichen Vergütungen für die Aufsichtsratsmitglieder nicht gerechnet. So kam allein Ernst Bassermann auf eine Summe, für die ein Arbeiter drei Jahre lang hätte rackern müssen. Der Direktor Müller dürfte als Gesellschafter des Unternehmens weitaus mehr verdient haben, als sein Einkommen als Direktor betrug. Insgesamt hätten mit dem Reingewinn, der 1911 verteilt wurde, drei Dutzend Arbeiterfamilien ein Jahr lang ihr Auskommen gefunden.
Die Beteiligung am "General-Anzeiger" war dabei für die meisten Gesellschafter nur eine Art Zubrot zu ihren sonstigen Einkünften aus Industrie-, Handels- und Bankgeschäften. Das enorme Vermögen, das die Mannheimer Bourgeoisie damals anhäufte, fand seinen sichtbaren Ausdruck in den Wohnquartieren der Reichen, etwa im "Millionenviertel" der L-Quadrate und in der um die Jahrhundertwende neu angelegten Oststadt, deren breite Alleen mit Reitwegen für die standesgemäße Fortbewegung von Herrn und Frau Kommerzienrat versehen waren. Der damalige Stand der Verkehrstechnik und das meist noch persönliche Regiment des Unternehmers über seinen Betrieb erforderten weit mehr als heute die Ortsansässigkeit der Herrscher über Fabriken, Versicherungen, Handelsunternehmen und Banken. So wohnte auch der weitaus überwiegende Teil der Gesellschafter des "General-Anzeigers" damals direkt in Mannheim. (64) Die heutigen Gesellschafter des "Mannheimer Morgen" - obwohl von ihrem wirtschaftlichen Kaliber her zwei bis drei Nummern kleiner - haben dagegen ihre Villen überwiegend außerhalb der Stadtgrenzen, sei es in Heidelberg, an der Bergstraße oder sonst einem Ort.
Die damalige Bourgeoisie flüchtete nicht so weit, wenn sie sich Lärm, Gestank und Hektik ihrer eigenen Geschäfte zu entziehen versuchte. Als Beispiel bietet sich die Geschichte des Bassermann-Hauses am Marktplatz an. Die Dynastie der Bassermanns wies zwei Zweige auf, von denen wir den einen in Gestalt von Ernst Bassermann bereits kennengelernt haben. Er war ein Nachfahre des Eisenhändlers Ludwig Bassermann, der es schon in napoleonischer Zeit zu Wohlstand gebracht hatte. Der andere Zweig der Familie ging auf dessen Vetter Friedrich Bassermann zurück, einen Kaufmann und Bankier, der sich 1829 ein palastartiges Gebäude am Marktplatz errichten ließ. Dieses Gebäude diente mehreren Generationen als Wohnsitz und Geschäftslokal, darunter jenem Friedrich Daniel Bassermann, der 1848 als Mitglied der Nationalversammlung zum Inbegriff der Angst des Besitzbürgertums vor sozialen Umwälzungen wurde, indem er den sprichwörtlichen "Bassermann'schen Gestalten" zum Namen verhalf. Letzter Eigentümer des Gebäudes war ein Felix Bassermann. Nachdem dieser 1902 gestorben war, gefiel es der Witwe Anna in dem Gebäude nicht mehr, an dem inzwischen bimmelnd die Straßenbahnen vorbeifuhren. Sie zog deshalb 1913 in eine neuerrichtete Villa in der Collinistraße am Luisenpark.
Für unsere Darstellung ist das folgende Schicksal des Gebäudes am Marktplatz durchaus von Belang, weil es nun nämlich vom "General-Anzeiger" gekauft und zum neuen Verlags- und Druckgebäude umgebaut wurde. Noch heute steht das Verlagsgebäude des "Mannheimer Morgen" an diesem Ort. Im Erdgeschoß befindet sich sogar - ironischer Fingerzeig der Geschichte auf die am "General-Anzeiger" beteiligte Diskonto-Gesellschaft - eine Filiale der "Deutschen Bank"...
Der Übergang des Gebäudes an den "General-Anzeiger" hatte noch spezielle Hintergründe. Ernst Bassermann gehörte, wie schon erwähnt, dem anderen Zweig der Familie, den "Eisen-Bassermanns" an. Seine Tochter Carola hatte jedoch Kurt Bassermann geheiratet, den Sohn von Felix Bassermann, des letzten Eigentümers des Gebäudes am Marktplatz. Für diesen Kurt Bassermann war das Gebäude schon deshalb nutzlos, weil er als Direktor der Süddeutschen Disconto-Gesellschaft in Freiburg ansässig war. Die Diskonto-Gesellschaft besaß ihrerseits ab 1917 beachtliche Anteile am "General-Anzeiger" (wir werden darauf noch zurückkommen). Die persönlichen Beziehungen Kurt Bassermanns zum "General-Anzeiger" - seine Frau Carola besaß eine bescheidene Beteiligung von 1000 Mark - hatten sich unterdessen durch den 1917 erfolgten Tod Ernst Bassermanns zu einer beachtlichen Erbschaftsangelegenheit ausgewachsen. Daß sich Hans Bassermann, der einzige Sohn des verstorbenen Nationalliberalen-Führers, am 26. Oktober 1919 in einem depressiven Anfall erschießen und damit das Erbteil der Schwester noch vermehren würde, konnte damals nicht vorausgesehen werden. (65)
Am 10. April 1919 ging das Gebäude am Marktplatz ins Eigentum der "Dr. H. Haas'schen Buchdruckerei GmbH" über. Witwe Anna Bassermann handelte dabei "als Vertreterin des Gesamtgutes der fortgesetzten Gütergemeinschaft" zwischen ihr und den Kindern Helene, Kurt, Elisabeth und Felix. Man wird jedoch getrost den Bankdirektor Kurt Bassermann als die eigentlich treibende Kraft bei dem Geschäft ansehen dürfen. Der Kaufpreis betrug 7?5000 Mark. Davon wurden 20Q000 Mark durch Gesellschafter-Anteile am "General-Anzeiger" abgegolten, 100 000 Mark in bar ausgezahlt und die Restschuld von 475 000 Mark bei jährlich viereinhalbprozentiger Verzinsung durch Hypotheken auf die verkauften Grundstücke R 1, 4-6 und R 1, 12 abgesichert. Zusätzlich bedang sich die Bassermann-Sippe einen Sitz im Aufsichtsrat der "Dr. H. Haas'schen Buchdruckerei GmbH" bzw. des "General-Anzeigers" aus. (56).
Trotzdem wurde aus der Absicht, Druckerei, Verlag und Redaktion des "General-Anzeigers" aus der zunehmend ungünstigen Randlage in E 6 an den Marktplatz zu verlegen, vorläufig nichts. Die Unruhe der Revolution von 1918 und die anschließende Inflation machten einen Strich durch die Rechnung. Erst zehn Jahre später, am 19. Oktober 1929, kam es zum Umzug ins ehemalige Bassermann-Palais. Fünfzehn Jahre später, auf den Tag genau, fiel das Gebäude den Bomben des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Nochmals fünfzehn Jahre später errichtete der "Mannheimer Morgen" an derselben Stelle sein neues Verlagsgebäude.
So wie einst der Dr. Haas seinem "General-Anzeiger" zu kurfürstlichem Glanz verhalf, indem er dessen Jahrgänge ab der Gründung des "Mannheimer Journals" datierte, hat der "Mannheimer Morgen" später aus dem Standort seines Verlagsgebäudes am Marktplatz eine Pseudo-Tradition abgeleitet, die mit der Realität noch weniger gemein hat. Er versäumt nämlich bei passender Gelegenheit nie den Hinweis, daß die heutige Zeitung "am selben Platz" erscheine, "wo 1848 ein Friedrich Daniel Bassermann die ,Deutsche Zeitung' gegründet hat". (66) Tatsächlich hat der bereits erwähnte Friedrich Daniel Bassermann nicht nur dem Gespött der "Bassermann'schen Gestalten" zum Leben verholfen, sondern überdies von Juli 1847 bis September 1848 den Verleger für die "Deutsche Zeitung" gemacht. Bei diesem Blatt handelte es sich sozusagen um das Zentralorgan der damaligen deutschen Bourgeoisie, das einen heftigen Kampf gegen Demokraten und Republikaner führte. Es wurde von Professoren wie Gervinus und Häusser in Heidelberg redigiert und dort auch gedruckt. Mit dem Haus am Marktplatz in Mannheim, wo der zeitweilige Verleger Friedrich Daniel Bassermann wohnte, kam das Blatt nur ideell in Berührung. Von gänzlich spiritueller Art sind schließlich die angeblichen Traditionen zum "Mannheimer Morgen". Wo die Tradition wirklich verläuft, belegt die vorliegende Schrift.