Die "Villa Juillerat" in der Charlottenstraße 19 am Werderplatz in der Mannheimer Oststadt: Hier wohnte der Besitzer des "General-Anzeigers" bis zum Verkauf des Unternehmens.

Sprachrohr des Kapitals

Wie sich die Mannheimer Bourgeoisie in den Besitz des "General-Anzeigers" teilte

Um die Jahrhundertwende war aus dem ehemals "gleich und heiter" gebauten Mannheim, wie es Goethe gekannt hatte, eine stinkende Industriestadt geworden. Rings um die historischen Quadrate breiteten sich Werkstätten mit qualmenden Schloten aus. Auch innerhalb der Quadrate nahmen Verkehr, Gestank und Lärmbelästigung zu. Vom Ludwigshafener Ufer des Rheins schickte die "Badische Anilin- und Sodafabrik" (BASF) ihre Chemieschwaden auf die Mannheimer Seite.

Arthur Juillerat-Chasseur schien nicht gewillt, sein Leben vor dieser tristen Kulisse zu beenden. Immerhin stand er kurz vor seinem sechzigsten Lebensjahr. Er bot deshalb Druckerei und Zeitung den nationalliberalen Parteifreunden zum Kauf an. Vielleicht gab es sogar akute gesundheitliche Gründe, die einen weiteren Aufenthalt in Mannheim nicht ratsam erscheinen ließen: Schon im Oktober 1901, noch bevor der Verkauf perfekt war, begab sich Juillerat-Chasseur in den Luftkurort Bex in der französischen Schweiz. (61) Von dort aus sandte er seiner Frau Amalie, die mit dem Sohn zurückgeblieben war, die nötigen geschäftlichen Vollmachten und Instruktionen.

Die Nationalliberalen mußten wohl oder übel zugreifen, um sich ihr angestammtes Organ zu erhalten. Am 27. Februar 1902 wurde das Unternehmen in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) umgewandelt. Das Stammkapital von 450000 Mark verteilte sich auf insgesamt 20 Gesellschafter. Den Löwenanteil in Höhe von 258000 Mark hielt zunächst noch Juillerat-Chasseur. Da der Gesamtwert des Unternehmens 379550 Mark betrug, erhielt er außerdem ein Guthaben von 121550 Mark. Davon wurden 52000 Mark sofort in bar ausgezahlt. Für den Rest von 69550 Mark wurden Abschlagszahlungen vereinbart. In den folgenden Jahren verkaufte Juillerat-Chasseur seine Anteile gänzlich. Den Rest seines Lebens verbrachte er als reicher Privatier in Zürich.

Umso interessanter ist ein Blick auf die Liste jener Gesellschafter, denen nunmehr Druckerei, Verlag und Zeitung gehörten. Da versammelte sich ein guter Teil jener Bourgeoisie, die in Mannheim von der Arbeit anderer lebte und sich die Aufrechterhaltung dieses Zustandes angelegen sein ließ. Es waren fast durchweg reiche Fabrikbesitzer, Kaufleute und Bankiers. Bisher waren diese Herrschaften diskret im Hintergrund geblieben. Nunmehr bekannten sie Farbe, wenn auch nicht in der Öffentlichkeit, so doch im Halbdunkel des Handelsregisters. Die zwischen 1902 und 1920 jährlich eingereichten Gesellschafterlisten der "Dr. H. Haas'schen Buchdruckerei GmbH" weisen zwischen 20 und 42 Namen auf, die mit Standesbezeichnungen wie Fabrikant, Bankier, Kaufmann, Konsul, Kommerzienrat, Hofrat, Privatier oder Direktor versehen sind. Hier präsentierte sich jenes alt- und neureiche Bürgertum, das vom Aufstieg Mannheims zur Handels- und Industriemetropole des Südwestens profitiert hatte.

Viele dieser Namen klingen noch heute den Mannheimer vertraut im Ohr: Zum Beispiel Carl Reiss, der Namensgeber des "Reiss - Museums", Bernhard Herrschel, der Stifter des "Herrschel-Bades" oder der Traktorenfabrikant Carl Lanz, dessen Betrieb im Mannheimer Stadtteil Lindenhof heute zum US-Landmaschinenkonzern John Deere gehört. Ähnliches gilt für die Fabrikanten Vögele, Dyckerhoff und Röchling oder den Bankier Ladenburg.

In der Gesellschafterliste des "General-Anzeigers" widerspiegelte sich freilich nur der nationalliberale Teil der Mannheimer Bourgeoisie. Die gleichzeitige Beteiligung an einem Konkurrenzunternehmen war bei einer Vertragsstrafe von 100000 Mark untersagt, womit die Fronten zur "Neuen Badischen Landes-Zeitung" auch in geschäftlicher Hinsicht säuberlich geschieden waren. Etwas vereinfachend läßt sich der nationalliberale Teil der damaligen Mannheimer Bourgeoisie als ein Gemisch aus alt- und neureichen Kapitalisten charakterisieren, die das, was ihnen an feinerer bürgerlicher Gesittung und Bildung fehlte, durch viel Geld, reaktionäres Machtstreben und Titelsucht kompensierten. Ihr typischer Vertreter war der Traktorenfabrikant Carl Lanz, dessen Palast alle anderen überragte und nach dem Schloß das pompöseste Gebäude in Mannheim war. (56)

Der nationalliberale Klüngel, der hinter dem "General-Anzeiger" stand, wurde keineswegs allein durch seine politischen Ziele zusammengehalten, sondern auch durch geschäftliche und verwandtschaftliche Beziehungen vielfältigster Art. So stand zum Beispiel der Abgeordnete und Führer der Nationalliberalen im Reichstag, Ernst Bassermann, infolge seiner Heirat mit der einzigen Tochter des Inhabers des Bankhauses Ladenburg & Söhne in engen Beziehungen mit der Finanzwelt. Er war juristischer Berater dieser Bank und wurde, nachdem diese in die "Süddeutsche Disconto-Gesellschaft" umgewandelt worden war, deren Aufsichtsratsvorsitzender. Die Süddeutsche Disconto-Gesellschaft war ihrerseits nur der Mannheimer Ableger einer der mächtigsten Großbanken des damaligen Deutschland, der 1851 gegründeten Diskonto-Gesellschaft (die seit 1929 in der "Deutschen Bank" fortlebt). Seinen Beziehungen zur Diskonto-Gesellschaft verdankte Bassermann mehr als ein Dutzend weiterer Aufsichtsratsposten, von der Hamburg-Mannheimer Versicherung bis zu den Mannesmann-Röhrenwerken. (62)

Nun übernahm der vielbeschäftigte Ernst Bassermann auch noch den Vorsitz im Aufsichtsrat des "General-Anzeigers". Dieser Aufsichtsrat - der bei der gewählten Rechtsform einer GmbH gesetzlich nicht vorgeschrieben gewesen wäre - erfüllte eine doppelte Aufgabe. Zum einen oblag ihm die Überwachung der politischen Richtung der Zeitung und die Genehmigung größerer wirtschaftlicher Vorhaben der Geschäftsleitung, etwa der Abschluß von Anstellungsverträgen mit Gehältern von jährlich mehr als 2400 Mark. (56) Zum anderen schottete er den größeren Kreis von Gesellschaftern gegenüber der Öffentlichkeit ab. Ins bescheidene Rampenlicht traten lediglich die Aufsichtsratsmitglieder, die als Mitglieder und Funktionäre der Nationalliberalen Partei ohnehin bekannt waren. Neben Ernst Bassermann waren dies

1. der Kaufmann Fritz Hirschhorn, der seit Anfang der achtziger Jahre dem Vorstand der Nationalliberalen angehörte und diese auch im Stadtrat vertrat. Hirschhorn gehörte dem Aufsichtsrat des "General-Anzeigers" von 1902 bis zu seinem Tod 1909 an.

2. der Fabrikant Emil Mayer, der ein Tabakunternehmen betrieb. Er vertrat die nationalliberale Partei von 1892 bis 1910 als Stadtverordneter und von 1905 bis 1909 auch als Landtagsabgeordneter. Dem Aufsichtsrat des "General-Anzeigers" gehörte er seit Gründung der GmbH bis zu seinem Tod im Jahr 1911 an.

3. der Bankier Hermann Marx, der sich später mit dem Titel eines "Hofrats" schmücken durfte. Er rückte 1906 als vierter Gesellschafter neben Bassermann, Hirschhorn und Mayer in den Aufsichtsrat ein.

4. der Fabrikant Gustav Mayer-Dinkel, ein Verwandter des bereits erwähnten Emil Mayer und ebenfalls einer der Gründungsgesellschafter. Er saß seit 1909 im Aufsichtsrat des "General-Anzeigers" und nicht weniger als 42 Jahre, nämlich von 1887 bis 1929, im Mannheimer Stadtrat. Dort vertrat er zunächst die Nationalliberalen und nach dem ersten Weltkrieg die "Deutsche Demokratische Partei".

5. der Traktorenfabrikant Carl Lanz. Er war 1908 als Gesellschafter beim "General-Anzeiger" eingestiegen und wurde schon im folgenden Jahr in den Aufsichtsrat gewählt.

6. der Architekt Josef Köchler. Er war seit 1903 Gesellschafter und gelangte 1915 in den Aufsichtsrat. Köchler vertrat die Nationalliberalen als Stadtrat.

7. der Fabrikant Hans Hermann Mayer, der jahrelang als Kassierer der nationalliberalen Partei fungierte. Er übernahm nach dem Tod seines Vaters Emil Mayer 1911 dessen Gesellschafteranteile und wurde 1915 in den Aufsichtsrat gewählt. (62)

Die unmittelbare Geschäftsführung lag in den Händen des Gesellschafters Ernst Müller, der bereits zur Zeit des Dr. Haas als Redakteur des "General-Anzeigers" eingestellt worden war. Bei Gründung der GmbH stand Müller zunächst noch im Schatten des Gesellschafters Ferdinand Speer, der zum ersten Geschäftsführer bestellt wurde. Nach dessen Ausscheiden als Gesellschafter und Geschäftsführer erhielt Müller 1904 den Titel eines "Direktors" und konnte seinen Geschäftsanteil schrittweise von 20000 Mark auf 59000 Mark vergrößern. Nach Müllers Tod im November 1915 übernahm vorübergehend der Gesellschafter Gustav Mayer-Dinkel die Geschäftsleitung. Im Mai 1916 wurde der Druckereifachmann Ferdinand Heyme als neuer Direktor eingestellt und mit 10000 Mark beteiligt. Heyme leitete dann das Unternehmen bis zu seinem Tod 1929.

Eine vollständige Aufzählung sämtlicher Gesellschafter der "Dr. H. Haas'schen Buchdruckerei GmbH" mit ihren jeweiligen Beteiligungen würde den Rahmen dieser Schrift sprengen. In die bis 1917 gleichbleibende Summe von 450000 Mark Stammkapital teilten sich schließlich doppelt soviele Gesellschafter wie bei der Gründung. Das war teils die Folge von Neueintritten, teils von Erbaufteilungen. Stellvertretend seien hier die 34 Gesellschafter des Jahres 1910 mit ihren Beteiligungen angeführt: (56)

1. Ernst Müller, Direktor, Mannheim 59000.-
2. Ernst Bassermann, Reichstagsabg., Mannheim 37000.-
3. Max Goldschmidt, Bankier, Mannheim 10000.-
4. Franz Hirschhorn, Fabrikant, Mannheim 20000.-
5. Carl Ladenburg, Geh. Kommerzienrat Wwe. 15000.-
6. Heinrich Vögele, Kommerzienrat, Mannheim 15000. -
7. Hermann Marx, Bankier, Mannheim 40000.-
8. Emil Mayer, Kommerzienrat, Mannheim 15000.-
9. Carl Reiss, Geh. Kommerzienrat, Mannheim 15000.-
10. Julius Berge, Kaufmann, Mannheim 10000.-
11. Hermann Dyckerhoff, Kommerzienrat, Mannheim 30000.-
12. Gustav Mayer-Dinkel, Fabrikant, Mannheim 5000. -
13. Dr. August Hohenemser, Komm.Rat, Mannheim 1000.-
14. August Röchling, Kommerzienrat, Mannheim 1000.-
15. Heinrich Hartmann, Stadtrats-Wwe. Mannheim 15000.-
16. Josef Köchler, Stadtrat, Mannheim 30000.-
17. Eduard Ladenburg, Direktor, Mannheim 5000.-
18. Jakob Kuhn, Privatier, Frankfurt a. M. 5000.-
19. Philipp Seyfried, Privatier. Mannheim 10000.-
20. Adalbert Grumbach, Direktor, Mannheim 10000.-
21. Eugen Grumbach, Privatier, Frankfurt a. M. 5000.-
22. Dr. Wilhelm Hasenbach. Direktor, Mannheim 25000.-
23. Otto Hirschhorn, Kaufmann, Mannheim 10000.-
24. Carl Flink, Privatier, Meersburg 10000.-
25. Georg Bundschu, Kaufmann, Mannheim 5000.-
26. Bankhaus Marx & Goldschmidt, Mannheim 10000.-
27. Friedrich Julius Weber, Prokurist, Mannheim 2000.-
28. Dr. F. Koch, Großh. OARichter, Mannheim 3000.-
29. Carola Bassermann, Mannheim 1000.-
30. Julie Bassermann, Mannheim 1000.-
31. Elisabeth Bassermann, 1000.-
32. Viktor Darmstädter, Stadtrat, Mannheim 15000.-
33. E.H. Willstädter, Privatier, Mannheim 5 000.-
34. Dr. Carl Lanz. Fabrikant, Mannheim 10000.-

zusammen: 450000.-

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