Die wichtigsten Konkurrenten des "General-Anzeiger" unter den bürgerlichen Mannheimer Tageszeitungen bis zum ersten Weltkrieg.

Täglich sechs Zeitungen

Der "General-Anzeiger" und seine Konkurrenten von 1890 bis zum Ersten Weltkrieg

Nach dem mysteriösen Ausscheiden des Dr. Haas gehörten die "Dr. H. Haas'sche Buchdruckerei" und der "General-Anzeiger" von 1890 bis 1902 seinem Schwager Arthur Juillerat-Chasseur, der schon 1887 als Prokurist in den Betrieb eingetreten war. Dabei scheint der neue Besitzer jedoch noch erhebliche finanzielle Verpflichtungen gegenüber seinem Schwager gehabt zu haben. Sie traten zutage, nachdem der Dr. Haas 1902 gestorben war und seine Erben plötzlich mit einem Anteil von 50000 Mark in der Gesellschafterliste des "General-Anzeigers" auftauchten, der damals soeben in eine GmbH umgewandelt worden war. (56)

Das Verhältnis des "General-Anzeigers" zur "Neuen Badischen Landes-Zeitung" besserte sich nach dem Weggang des Dr. Haas zusehends. Als in der Nacht vom 29. zum 30. Dezember 1895 ein Brand große Teile der Haas'schen Buchdruckerei verwüstete, fand sich das Konkurrenzblatt sogar bereit, den "General-Anzeiger" zu drucken, bis der Brandschaden behoben war. Der "General-Anzeiger" erschien deshalb vorübergehend im Format der "Neuen Badischen Landes-Zeitung". (19)

Dieses bessere Verhältnis war nicht allein mit dem Wegfall der persönlichen Querelen zwischen dem Dr. Haas und den Gebrüdern Bensheimer von der "Neuen Badischen Landes-Zeitung" zu erklären. Vielmehr steckte dahinter eine Neuorientierung des Konkurrenzblattes. Die Gebrüder Bensheimer hatten beschlossen, das Schicksal ihrer Zeitung nicht länger mit dem der demokratischen Partei zu verbinden, die von der einst stärksten Partei Mannheims zum Traditionsverein abgesunken war. Stattdessen setzten sie auf den "Freisinn" preußisch-deutscher Prägung, in dem die Vereinnahmung der ehemaligen demokratischen Bewegung durch Kräfte des Großbürgertums bereits weiter fortgeschritten war. 1890 mußte der Demokrat Becker aus der Politik ausscheiden und wurde in ein neugeschaffenes Ressort für Lokales und Handel verbannt. An seiner Stelle übernahm der Freisinnige Dr. Gerard die politische Leitung des Blattes. Fortan schlug die "Neue Badische Landes-Zeitung" wesentlich mildere Töne gegenüber den Nationalliberalen an. Zu ihrer alten, scharfen Sprache fand sie nur noch gelegentlich zurück, vor allem dann, wenn sich die jüdischen Besitzer des Blattes durch den Antisemitismus der Nationalliberalen allzusehr herausgefordert fühlten. (20)

Im Hintergrund dieser Annäherung im bürgerlichen Lager stand wiederum ein anderer politischer Vorgang, nämlich das ständige Erstarken der Sozialdemokratie. Anfangs hatten die Demokraten geglaubt, die Anhängerschaft der verbotenen Sozialdemokratie als zusätzliche Wählerstimmen in ihre eigene Waagschale werfen zu können und damit die Verluste ausgleichen zu können, die sie infolge des Vordringens der Nationalliberalen erlitten hatten. Spätestens die Reichstagswahlen von 1890 hatten indessen gezeigt, daß in diesem Bündnis die Sozialdemokraten der stärkere Partner waren. Seitdem verlief auch in Mannheim die Hauptkampflinie der politischen Auseinandersetzung nicht mehr zwischen Monarchisten und Republikanern, sondern zwischen Kapitalisten und Lohnabhängigen. Nicht mehr die formale Demokratie mit den Postulaten der Revolution von 1848/49 war die Hauptlosung im politischen Tageskampf, sondern die Forderung nach sozialer Demokratie, nach einer grundlegenden Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft. Mancher bürgerliche Demokrat wurde in dieser Situation kopfscheu. Zum Beispiel die Gebrüder Bensheimer, die eine republikanische Staatsform gewiß nicht zu fürchten gehabt hätten, wohl aber das Verlangen nach sozialer Demokratie, das sie ins Mark ihrer bürgerlichen Existenz als Kapitalisten traf.

Ein spezielles Moment kam hinzu. Dies war das Sozialistengesetz, das im Jahr 1890 auslief und nicht mehr verlängert wurde. Ihr Erfolg bei den Reichstagswahlen ermutigte die Mannheimer Sozialdemokraten, noch vor Ablauf des Sozialistengesetzes eine eigene Zeitung herauszubringen. Es war die "Volksstimme", die ab 1. Mai 1890 regelmäßig erschien. (17) Damit war aber auch ein stillschweigender geschäftlicher Kontrakt mit der "Neuen Badischen Landes-Zeitung" hinfällig geworden, die seit 1886 die "Badisch-Pfälzische Volks-Zeitung" als Ableger für die Arbeiterschaft herausgab. Infolge der Abwanderung eines Großteils der Leser an die neugegründete "Volksstimme" mußte diese Zeitung redaktionell und geschäftlich auf neue Füße gestellt werden. Sie kümmerte zuletzt mit ihrer Nebenausgabe "Neckarauer Tageblatt" als Organ der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine (einer unternehmerfreundlichen "gelben" Gewerkschaft) dahin und wurde zu Beginn des Ersten Weltkrieges eingestellt. (57)

Auch die Zentrumspartei verfügte seit 1. Oktober 1888 im "Neuen Mannheimer Volksblatt" über ein eigenes Organ. Es war allerdings anfangs so schwach auf der Brust, daß es sein Erscheinen im dritten Jahr wieder einstellte. Erst ab 23. April 1892 kam es wieder regelmäßig heraus.

Damit sah die Palette der Tageszeitungen in Mannheim von 1890 bis zum Ersten Weltkrieg folgendermaßen aus: (58)

Auflage 1899 Auflage 1913 Ausgaben i.d. Woche 1899 Ausgaben i.d. Woche 1913 Abo-Preis im Quartal 1899 Abo-Preis im Quartal 1913
Neue Badische Landes-Zeitung o. A. o. A. 13 12 3,75 3,50
General-Anzeiger o. A. 2100 7 12 1,50 3,42
Mannheimer Tageblatt o. A. 19800 7 7 2,10 2,40
Badisch-Pfälzische Volks-Zeitung 13000 o. A. 6 6 1,05 o. A.
Neues Mannheimer Volksblatt 4600 9300 6 7 1,50 1,80
Volksstimme 9500 18500 6 7 1,50 1,90

Trotz des Fehlens einzelner Auflagen-Angaben erkennt man, daß der "General-Anzeiger" seinen Abstand zur "Neuen Badischen Landes-Zeitung" beträchtlich verringern und diese sogar vermutlich überflügeln konnte. Innerhalb Mannheims dürfte er mit Sicherheit verbreiteter gewesen sein, da die "Neue Badische" als führende Zeitung des Großherzogtums Baden einen großen Teil ihrer Auflage außerhalb der Stadt absetzte. Als Flaggschiff der bürgerlichen Presse blieb die "Neue Badische" allerdings auch innerhalb Mannheims bei der Hautevolee und Intelligenz das meistgelesene, einflußreichste und angesehenste Blatt.

Als der "General-Anzeiger" ab 1. Oktober 1899 zweimal täglich zu erscheinen begann, kam die "Neue Badische" ab demselben Tag sogar dreimal täglich heraus: Um 9 Uhr erschien ein Morgenblatt, um 11 Uhr ein Mittagsblatt und um 19 Uhr ein Abendblatt. Dies dauerte freilich nur ein Jahr, dann begnügte sich die "Neue Badische" wieder mit zweimal täglichem Erscheinen. Kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs sah dies so aus, daß um 7 Uhr ein Morgenblatt mit 8 Seiten und um 17 Uhr ein Abendblatt mit 6 Seiten erschien. Außerdem gab es montags zusätzlich eine "sportliche Rundschau". (20)

Aufschlußreich sind die in der obigen Tabelle genannten Abonnements-Preise: Sie lassen deutlich das soziale Gefälle der Leserschaft erkennen. Die "Neue Badische" als Blatt der Creme de la creme war die teuerste, gefolgt vom "General-Anzeiger" und - schon mit einigem Abstand - dem einmal täglich erscheinenden "Mannheimer Tageblatt". Diese drei Zeitungen deckten das groß- bis kleinbürgerliche Spektrum der Mannheimer Bevölkerung ab. Dagegen zielten die "Badisch-Pfälzische Volks-Zeitung", das "Neue Mannheimer Volksblatt" und die "Volksstimme" ihrer Titelgebung gemäß auf das proletarische bis kleinbürgerliche "Volk", das sie - je nachdem - an die Freisinnige Volkspartei, an die katholische Zentrumspartei oder an die Sozialdemokraten zu binden gedachten. Entsprechend "volkstümlich" waren der Preis, aber auch Erscheinungsweise, Umfang, politische Richtung und geistiger Anspruch dieser Blätter.

Das Auslaufen des Sozialistengesetzes bedeutete übrigens noch lange nicht, daß der Sozialdemokratie eine ungehinderte politische Betätigung erlaubt war. Zum Beispiel verbrachte Hermann Keßler, der von 1891 bis 1898 Redakteur der "Volksstimme" war, von seiner siebenjährigen Tätigkeit fast ein Jahr im Gefängnis. Unter anderem hatte er sich "Aufreizung zum Klassenhaß" und "Majestätsbeleidigung" zuschulden kommen lassen. Als sein Nachfolger Wilhelm Herzberg 1898 die Redaktionstätigkeit aufnahm, mußte er schon nach zwei Monaten wegen Beleidigung eines nationalliberalen Politikers für acht Wochen ins Gefängnis. "Beleidigend" war für die herrschende Klasse natürlich jedes unverblümte Wort, während umgekehrt kein Sozialdemokrat hoffen konnte, den Schutz der Justiz gegen solche Blätter wie den "General-Anzeiger" anzurufen. (59)

Noch um die Jahrhundertwende schied der Obrigkeitsstaat säuberlich die Schafe von den Böcken, wenn es etwa um die Überlassung der Polizeiberichte an die Presse ging. Daß der "General-Anzeiger" diese erhielt, war keine Frage. Dagegen wurde der "Neuen Badischen Landes-Zeitung" im Sommer 1892 der Polizeibericht entzogen, weil sie die unzureichenden Schutzmaßnahmen des Bezirksamtes gegenüber einer Choleraepidemie kritisiert hatte. (20) Generell wurde die Überlassung der Polizeiberichte an die "oppositionellen" Blätter von deren Wohlverhalten abhängig gemacht. Wörtlich heißt es dazu in einem Bericht des Mannheimer Bezirksamtes vom 6. Juni 1900 an das großherzogliche Innenministerium: "Gegen die Überlassung der schriftlichen Berichte an die freisinnige, sozialdemokratische und ultramontane Presse beständen diesseits keine Bedenken, da die Haltung dieser Blätter in letzter Zeit zu besonderen Beanstandungen keinen Anlaß gegeben hat und auf die etwaige Mitwirkung ihres großen Leserkreises bei Untersuchungen doch nicht verzichtet werden sollte."

Die unterschiedlich engen Beziehungen zur Staatsgewalt kamen auch darin zum Ausdruck, daß sowohl der "General-Anzeiger" als auch das lammfromme "Mannheimer Tageblatt", nicht aber die übrigen Blätter einen direkten Mitarbeiter bei der Polizeibehörde hatten. Sie zahlten ihm ein Fixum von 150 bzw. 50 Mark. Die Annahme dieser Gelder erfolgte mit Kenntnis und Billigung der vorgesetzten Behörde. (60)

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