Am 13. Februar 1947 schrieb der "Mannheimer Morgen" einen Aufsatzwettbewerb aus. Thema: "Jugend - weißt Du einen Weg?" Als erster Preis winkte die Aufnahme in die Redaktion der Zeitung "mit voller Garantierung der wirtschaftlichen Basis zur Weiterentwicklung". Der zweite Preisträger durfte Mitarbeiter des "Mannheimer Morgen" werden und außerdem eine Reise durch Deutschland zum "Studium der Jugendfrage" machen.
Unter den Preisträgern, die in der Osterausgabe veröffentlicht wurden, befand sich auch der 36jährige Physiker Dr. Ludwig Ratzel aus Mannheim-Rheinau, der später Vorsitzender der SPD, Erster Bürgermeister und schließlich Oberbürgermeister der Stadt werden sollte. Ratzel erhielt allerdings lediglich einen Trostpreis - ein Schicksal, das seine späteren Erfahrungen mit der Zeitung sozusagen vorwegnahm. Zweiter Preisträger wurde der angehende Journalist Werner Holzer, der später als Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau" noch von sich hören lassen sollte.
Der Aufsatzwettbewerb war das Werk des neuen Lizenzträgers Karl Vetter, der seit 5. Dezember 1946 an die Seite Schillings und Ackermanns getreten war und die Verlagsleitung der Zeitung übernommen hatte. (131) Vetter übte sein Amt nur ein Jahr lang aus. Dann wurden ihm alte Intimfeindschaften, die in das Berlin der zwanziger Jahre zurückreichten, zum Verhängnis.
Die Affäre begann damit, daß sich Vetter in einem Artikel am 9. April 1947 gegen die Zulassung von Parteizeitungen wandte, wie sie von Parteipolitikern in Stuttgart erwogen und gefordert wurde. Vetter sah in der Zulassung von Parteizeitungen einen "Schlag gegen die freie Lizenzpresse". Selbstgefällig fügte er hinzu: "Einem Mann, der nahezu 30 Jahre demokratische Pressefreiheit kennt, sei es schließlich noch erlaubt, die Herren in Stuttgart zu fragen - hatten wir nicht schon einmal Parteiblätter?"
Wenige Tage später griff die Westberliner SPD-Zeitung "Telegraf" den fraglichen Artikel auf, um eine scharfe Attacke gegen Vetter zu richten. Sie warf dem Mannheimer Lizenzaten vor, er habe als Verlagsleiter des Mosse-Verlags in Berlin vor der Machtergreifung Beihilfe zur Veröffentlichung eines faschistischen Pamphlets geleistet, in dem der ehemalige Sozialdemokrat Henning Duderstadt seine Bekehrung zu Hitler schilderte. Titel des Pamphlets: "Vom Reichsbanner zum Hakenkreuz".
Vetter wies die Vorwürfe zurück. Gegen den Verfasser des Artikels, den "Telegraf"-Herausgeber Arno Scholz, stellte er Strafantrag wegen ehrenrühriger Behauptungen. Vetter zufolge war die Anschuldigung, er habe seinen Direktorsposten beim Mosse-Verlag um den Preis des Gesinnungsverrats retten wollen, absolut unzutreffend. Vielmehr habe er das fragliche Manuskript nach der ersten Lektüre zurückgewiesen. Der Verfasser habe darauf ihn und einen seiner Mitarbeiter bei Goebbels und der Gestapo denunziert, mit der Folge, daß er im August 1933 seine Stelle verloren habe, den Reisepaß abgeben mußte und vom Propagandaministerium als "untragbar für jede Position in der Wirtschaft" bezeichnet worden sei. (132)
"Telegraf"-Herausgeber Scholz ließ indessen nicht locker und erweiterte Anfang August 1947 seine Vorwürfe gegen Vetter. Der "Mannheimer Morgen" nannte Scholz daraufhin einen "Verleumder" und breitete die schmutzige Wäsche des sozialdemokratischen Pressemannes aus: "Der Kundige weiß, daß er eine Frucht vom Baum des Revolutionsgewinnlers Parvus-Helphand ist. Gegen die Korruptionsskandale aus diesem Lager hat Vetter schon vor mehr als 20 Jahren gekämpft und daher stammt wohl ein alter Haß." (133)
An dieser letzten Anspielung könnte etwas Wahres sein. Vetter hatte, als er Lizenzträger des "Mannheimer Morgen" wurde, schon eine bewegte politische Vergangenheit hinter sich. So hatte er 1924 mit Carl von Ossietzky zu den Gründern der "Republikanischen Partei" gehört, einer Abspaltung bürgerlich-demokratischer Intellektueller von der DDP. Vetter war damals Redakteur der "Berliner Volks-Zeitung" und hatte bis November 1921 die Zeitschrift "Nie wieder Krieg" herausgegeben. Nach ihrer Wahlniederlage im Mai 1924 löste sich die "Republikanische Partei" wieder auf. Vetter und Ossietzky mußten die "Berliner VolksZeitung" verlassen. (l06)
Möglicherweise war es Vetters damaliges politisches Engagement, das ihn 23 Jahre später die Lizenz für den "Mannheimer Morgen" gekostet hat. Der "Republikanischen Partei" wurde nämlich nachgesagt, von der Sowjetunion unterstützt worden zu sein. Vetter selbst soll über den kommunistischen Verleger Willi Münzenberg einen größeren Geldbetrag zur Finanzierung des Parteiorgans "Die Republik" erhalten haben. (134) Derartige Unterstellungen aber, soweit sie damals bekannt waren, mußten Vetter in den Augen der Amerikaner als "unsicheren Kantonisten" wenn nicht gar als verkappten Kommunisten erscheinen lassen.
Am 9. Dezember 1947 wurde Vetters Rücktritt von der Lizenz für den "Mannheimer Morgen" bekanntgegeben. Vetter fiel jedoch weich. Zunächst verblieb ihm die Lizenz für die "Melliand-Textilberichte" in Heidelberg. (135) Im Mai 1949 übernahm er die Verlagsdirektion der "Rhein-Neckar-Zeitung". (136)
Ein Jahr später stellte die Zentralspruchkammer für Nordbaden ein gegen Vetter eingeleitetes Verfahren ein, weil er im Sinne des Entnazifizierungsgesetzes nicht belastet sei. Vielmehr sei hier versucht worden, "einen alten Journalistenhändel auf dem Rücken des Befreiungsgesetzes durchzuführen". (137)