Menetekel USA |
Karl Marx, der gewiß kein Anhänger der alten Ordnung war, hat einmal von der "Tragödie" des ancien regime gesprochen. Tragisch sei dessen Untergang in der französischen Revolution deshalb gewesen, weil es an seine Berechtigung glaubte und glauben mußte. "Solange das ancien regime als vorhandene Weltordnung mit einer erst werdenden Welt kämpfte, stand auf seiner Seite ein weltgeschichtlicher Irrtum, aber kein persönlicher. Sein Untergang war deshalb tragisch." (22)
Die tragische Sichtweise der Welt ist der ideologischen Verklärung des Bestehenden entgegengesetzt. Sie ist eine ganzheitliche, dialektische Sichtweise, die um die Bedingtheit der eigenen Position wie derjenigen der Gegenseite weiß. Die Tragik anerkennt die innere Berechtigung beider Seiten eines Widerspruchs. Sie antizipiert so dessen Aufhebung auf einer ästhetischen Ebene. Hegel sprach vom "Gefühl der Versöhnung, das die Tragödie durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit gewährt, welche in ihrem absoluten Walten durch die relative Berechtigung einseitiger Zwecke und Leidenschaften hindurchgreift" (23).
Das Schwinden dieser ästhetischen Kategorie des Tragischen im kulturellen Leben der hochindustrialisierten kapitalistischen Staaten ist ein aufschlußreicher Vorgang. Es zeigt sich besonders kraß in jenem Land, das seit langem den Vorreiter der kapitalistischen Welt auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet macht, nämlich in den Vereinigten Staaten. In den USA ist "die Tragik abgeschafft", wie Horkheimer/Adorno in ihrer "Dialektik der Aufklärung" konstatieren. Sie ist zergangen in einer "falschen Identität von Gesellschaft und Subjekt" (24).
"Die gesamte Sphäre der Realität ist nicht mehr vorhanden", urteilte der deutsche Emigrant L. L. Matthias. In einem 1953 erschienenen Buch über die US-amerikanische Gesellschaft schreibt er weiter:
Es kann auch nicht anders sein, da mit der Eliminierung des tragischen Begriffs die Realität selbst aufgehoben wurde. Es besteht innerhalb der westlichen Kultur keine andere Möglichkeit, als sie durch einen Gegensatz zu erfassen, der als solcher bereits tragischer Natur ist. Selbst der europäische Sozialismus hat - insofern als er vom dialektischen Prozeß ausgeht - eine tragische Basis. Es hat also seinen Grund, daß die amerikanische Welt häufig einen so irrealen Charakter trägt. Sie muß in eine Welt der Idealität zerfallen, die so rein ist, daß jedem menschlichen Wesen die Sinne vergehen, und in eine Welt der Materialität, die so morastig ist, daß man hoffnungslos versinkt . . .
Als Beispiel für Realitätsflucht und Verlust des Tragischen nimmt Matthias das Verhältnis zum Tod. Für den durchschnittlichen Amerikaner sei der Tod "nicht ein Kontrapunkt aller Existenz, sondern ein lästiger Baß, dessen Stimme am besten gestrichen wird". Dies führe dann zu so makabren Bräuchen wie dem "funeral parlor" als Schönheitssalon für Leichen, solange sie nicht bestattet und damit den Blicken entzogen sind:
Da eine Leiche nicht umhin kann, tot auszusehen, so sorgten sie dafür, daß sie lebend aussieht, um jeden vergessen zu machen, daß sie es nicht ist. Sie behandelten die Gesichter mit Wachs, stopften hier ein wenig in die Nase und dort unter die Wangen, und sorgten vor allem dafür, daß diese in ihrer natürlichen Röte erglänzten. Sämtliche Leichen in Amerika werden geschminkt. Ist diese Prozedur abgeschlossen, so wird der Tote in einen Sarg gelegt, der oberhalb des Gesichts ein kleines Fensterchen aufweist und es auf diese Weise gestattet, den Verstorbenen bis zum letzten Augenblick in seiner Jugendfrische zu sehen. Der Tote ist so schön hergerichtet, daß er nun gar nicht mehr stört . . . (25)
Nicht minder bizarr - weil eben jeglicher Anwandlung von Tragik enthoben - ist für europäische Begriffe die Religiosität der US-Amerikaner. Durch die erwähnte Aufspaltung des Bewußtseins in eine Sphäre reiner Materialität und reiner Idealität kommt es zu Erscheinungen, die in den Augen europäischer Protestanten oder Katholiken geradezu blasphemisch wirken. Die bekanntesten Auswüchse sind das völlig kommerzialisierte Showbusiness der "Fernsehkirchen", die Erweckungsprediger mit ihrer hysterisierten Anhängerschaft und die geschmacklose Mixtur von Religion und Reklame. Am Befremdendsten dabei ist, daß Peinlichkeit und Blasphemie dieses Treiben den US-Amerikanern selbst gar nicht zu Bewußtsein kommen.
Der Aufspaltung des Bewußtseins in eine Sphäre reiner Materialität und reiner Idealität entspricht eine seltsame Koexistenz von Empirismus und Esoterik. So pflegte William James, der als Stammvater der amerikanischen Psychologie gilt, ganz unbefangen Umgang mit Geistern aus dem Jenseits: James war viele Jahre Präsident der "Society for Psychical Research", die 1882 in London und 1884 in New York zur Erforschung parapsychologischer Phänomene gegründet worden war. Als 1901 in Rom der amerikanische Parapsychologe Frederick Myers starb, saß sein Freund James mit Notizbuch und Feder vor der Tür der Sterbezimmers, um die Botschaften zu protokollieren, die ihm Myers aus dem Jenseits senden würde. Jedenfalls berichtet dies der Arzt Axel Munthe in seiner "Story of San Michele".
Mustergültig gelangt der "wilde Drang zum Übersinnlichen", den schon Tocqueville als Merkmal US-amerikanischer Geistesverfassung beschrieben hat, im Spiritismus zum Ausdruck. Es handelt sich dabei um eine originär US-amerikanische Form des Obskurantismus, die freilich auch in anderen Ländern Verbreitung gefunden hat und damit auf tieferliegende Gemeinsamkeiten schließen läßt. Seitdem die ersten Klopfgeister 1848 im Hause des Farmers J. Fox auftauchten, hat sich der Spiritismus über England nach Europa ausgebreitet. Ende der siebziger Jahre erreicht er in Deutschland einen solchen Höhepunkt, daß sich Wilhelm Wundt ernsthaft veranlaßt sah, der "spiritistischen Geistesverwirrung" entgegenzutreten und ihr die reklamierte Wissenschaftlichkeit abzusprechen. Wundt erkannte den Spiritismus als "Zeichen des Materialismus und der Kulturbarbarei unserer Zeit" . Eigenartigerweise schienen die spiritistischen Medien "fast ausschließlich der amerikanischen Nationalität anzugehören"(26).
Kein Zufall war auch das lebhafte Echo, das die Freudsche Psychoanalyse in den USA gefunden hat. Als spiritualistische Ideologie mit wissenschaftlichem Anstrich mußte sie der US-amerikanischen Geistesverfassung in besonderer Weise entsprechen. Allerdings gab es von Anfang an erhebliche Spannungen zwischen der Wiener Zentrale und der Dependance in New York. Der Grund dafür lag weniger in persönlichen Differenzen als im Unterschied der Kulturkreise. Gewisse europäische Züge der Psychoanalyse erfuhren in den USA eine aufschlußreiche Veränderung. Das zeigte sich schon zu Anfang der zwanziger Jahre, als Otto Rank, der in Wien die Aufsicht führte, immer wieder über den "transatlantischen Schund" im angelsächsischen "International Journal of Psycho-Analysis" schimpfte (27).
Mitte der zwanziger Jahre kam zu den inhaltlichen Querelen zwischen Wien und New York ein viele Jahre dauernder Zwist wegen der Frage der "Laienanalyse". Den Hintergrund bildete dabei das kommerzielle Interesse der US-Analytiker. Als Ärzte befürchteten sie eine Minderung ihrer Einkommen, wenn jeder Nicht-Mediziner nach einer entsprechenden Ausbildung als Psychoanalytiker anerkannt werde. Nazi-Herrschaft und Zweiter Weltkrieg entschieden den Streit zwischen beiden Zentren zugunsten der US-Analytiker. Sie stellten fortan die große Mehrheit der Psychoanalytiker in aller Welt, während von der psychoanalytischen Bewegung auf dem europäischen Kontinent wenig übrigblieb (28).
Ein typisch europäischer Zug der Psychoanalyse, der ihrer US-amerikanischen Überformung zum Opfer fiel, war die Vorstellung vom "Unbewußten" als einer von Geburt an vorhandenen Eigenschaft, d. h. vom lebenslänglichen Konflikt zwischen "Ich" und "Es". Dies war eine ausgesprochen "tragische" Konstruktion, die viel zu sehr der Sichtweise der Alten Welt verhaftet war, um sich der Ideologie der Neuen Welt einfügen zu lassen. Die US-Analytiker ließen deshalb diesen ganz wesentlichen Aspekt der Freudschen Theorie kurzerhand beiseite. Er existiert in den USA sowenig wie das Gefühl für den tragischen Aspekt der christlichen Religion, die dort "ihr Kreuz verlor".
Der englische Soziologe Geoffrey Gorer konstatierte:
Für das psychoanalytische Denken in Amerika kommt das Kind makellos, als ein unbeschriebenes Blatt, zur Welt, und alle Mängel, die sich dann späterhin entwickeln, rühren von unkontrollierbaren Umständen oder von Unwissenheit oder Bosheit der Eltern her, die ein Menschenwesen, das sonst vollkommen wäre oder doch die Voraussetzungen zur Vollkommenheit hätte, verstümmeln. (29)