Sehn-Sucht: 26 Essays zur Dialektik von Nostalgie und Utopie

Vorwort


Die Rosenkreuzer

Wie ein nostalgisches Hirngespinst sich verselbständigte und von Tübingen nach Kalifornien gelangte

Die Wege der Nostalgie sind oft verschlungen und wunderbar. Wer zum Beispiel vor den äygptischen Tempeln des Rosicrucian Park im kalifornischen San Jose steht, wird zunächst gewaltig in die Irre geführt. Die Klärung der naheliegenden Frage, welche Bewandtnis es mit dieser seltsamen Architektur habe, führt nicht etwa in das 14. Jahrhundert v. Chr. nach Luxor an den Nil, sondern in das frühe 17. Jahrhundert nach Tübingen an den Neckar.

Der "Rosicrucian Park" in San Jose beherbergt die Zentrale der weltweit operierenden Rosenkreuzer-Sekte AMORC. Sein eindrucksvollstes Gebäude ist das Rosicrucian Egyptian Museum, das nach Art eines altägyptischen Luxor-Tempels errichtet wurde. Und das Innere hält durchaus, was die Fassade verspricht: Steigt man die Stufen zum Tempeleingang empor, vorbei an steinernem Fabelgetier, gelangt man in eine der interessantesten Sammlungen altägyptischer, assyrischer und babylonischer Kunst.

Dieses ägyptische Museum ist jedoch kein musealer Selbstzweck. Es dient vielmehr einer legitimatorischen Absicht: Der Ancient Mystical Order of the Rosy Cross (AMORC) will damit seine hauseigene Ideologie stützen, der zufolge AMORC als größte und älteste Bruderschaft der Welt aus einer Mysterienschule hervorgegangen ist, die zur Zeit des Pharao Amenophis IV. um 1350 v. Chr. gegründet wurde. - Für eine Sekte, die nachweislich erst 1916 gegründet wurde, wahrlich keine leichte Aufgabe, und so wird der gewaltige Aufwand verständlich, mit dem hier ägyptische Vergangenheit demonstriert wird.

Auf Werbezetteln, die in der Eingangshalle des Museums ausliegen, wird der Besucher zur Bestellung einer kostenlosen Schrift animiert, die nichts geringeres als Die Meisterung des Lebens ("The Mastery of Life") verheißt. Die Rosenkreuzer sind eine weltweite kulturelle Bruderschaft, erfährt man weiter. Sie haben jahrhundertlang Männer und Frauen gelehrt, alle Fähigkeiten ihres Selbsts zu erkennen und zu nutzen. Die Rosenkreuzer sind keine religiöse Sekte. Sie bieten weder Glaubenslehren noch Dogmen, sondern tatsächliches Wissen über den Menschen und seine kosmischen Beziehungen.

Die Sekte will also gar keine Sekte sein und bietet angeblich auch keine religiösen Glaubenslehren an. Dieser Beteuerung muß man allerdings schon glauben, bevor man Rosenkreuzer wird, ebenso wie den übrigen Inhalt des Werbezettels: Alle Menschen hätten eine Aura, heißt es da, eine Ausstrahlung psychischer Energie. So entstehe ein supersensitives Feld, das den Körper umgebe und auf das ständig die Gedanken und Gefühle einwirkten. Die Auren der Menschen beeinflußten sich wiederum gegenseitig, was zum Beispiel spontane Zu- und Abneigung, aber auch intuitive Gefühle und Einfälle erkläre. Alle Menschen lebten in einem Meer kosmischer Energie und seien so Teil dieses weiten universalen elektromagnetischen Spektrums.

Dieses seltsame Gebräu aus Mystik, Pseudo-Wissenschaft und "positivem Denken" trägt die Handschrift des "Parapsychologen" und einstigen Theosophen H. Spencer Lewis, der AMORC einst im sonnigen Kalifornien gründete. Eine theosophische Vergangenheit hatte auch Max Heindl, der als Vizepräsident der Theosophischen Gesellschaft amtierte, ehe er 1909 in den USA die Rosicrucian Fellowship ins Leben rief. Das Hauptquartier dieser Sekte, die in Deutschland als Rosenkreuzer-Gesellschaft Heindl (RG) firmiert, befindet sich heute in der kalifornischen Stadt Oceanside. Als dritte der größeren Rosenkreuzer-Vereinigungen entstand in den zwanziger Jahren das Lectorium Rosicrucianum (LR), das seit 1936 vom holländischen Haarlem aus operiert. Der Gründer und Großmeister war in diesem Fall ein gewisser Jan van Rijckenborgh. Nach dem 1968 erfolgten Tod des Großmeisters und heftigen, intriganten Kämpfen um die Nachfolge spaltete sich unter einem Sohn Rijckenborghs die Esoterische Gemeinschaft Sivas ab. Daneben gibt es noch zahlreiche weitere Rosenkreuzer-Gruppen.

Wie es sich für Geheimgesellschaften gehört, veröffentlichen die Rosenkreuzer-Sekten keine Mitgliederzahlen. Als die beiden größten und international verbreitetsten gelten AMORC und RG, die von Kalifornien aus geleitet werden. Die Mitgliederzahlen dürften hier mindestens fünfstellig sein. Beim LR wird mit maximal 8000 Mitgliedern gerechnet, die hauptsächlich in den Niederlanden und Deutschland beheimatet sind. Die "Esoterische Gemeinschaft Sivas" soll allenfalls etwa tausend Mitglieder haben. Bei den übrigen Rosenkreuzer-Sekten reichen die Mitgliederzahlen hinunter bis zum Einmann-Betrieb einer in Hamburg ansässigen Sieben-Rosen-Zentrale, die per Annoncen gläubige Abnehmer für die Erzeugnisse ihres Sieben-Rosen-Versands sucht.

Allen Richtungen gemeinsam ist eine esoterisch-mystische Lehre, welche die schrittweise Erhebung ihrer Mitglieder über das profane Alltagsbewußtsein und tradierten Christenglauben verspricht. Durch Einweihungen auf den verschiedenen Graden, unter Beachtung äußerer Lebensregeln, streng an Arkandisziplinen gebunden und von der Leitung abhängig, gehen die Neophyten (Neumitglieder) ihren Rosenkreuzerweg, um eines Tages "Ritter Rosae Crucis" zu werden. So heißt es in einer zusammenfassenden Darstellung der Rosenkreuzer-Sekten, die im Auftrag der evangelischen Kirchen erstellt wurde. Alle diese Richtungen gingen davon aus, daß im Menschen göttliche Kräfte latent vorhanden seien, die man erkennen, erwecken und wirksam werden lassen könne. Im einzelnen seien Lehren und Bräuche jedoch recht unterschiedlich. Zum Beispiel verlangten die beiden kalifornischen Sekten keinen Austritt aus der Kirche oder sähen ihn sogar als unerwünscht an. Dagegen bestehe das europäische LR unbedingt auf Kirchenaustritt. 1

Geistige Verwandtschaften bestehen zu der 1875 gegründeten "Theosophischen Gesellschaft", der "Anthroposophie" Rudolf Steiners und zum Spiritismus. Die modernen Rosenkreuzer können als Bestandteil einer neo-mystischen Strömung gesehen werden, die im 19. Jahrhundert als Reaktion auf den Zerfall des wissenschaftlichen Fortschrittsglaubens einerseits und die nachlassende Überzeugungskraft kirchlicher Glaubenslehren andererseits entstand. Dagegen läßt sich eine unmittelbare Kontinuität zu den freimaurerähnlichen Rosenkreuzer-Logen des 18. Jahrhunderts nicht erkennen. Noch weniger besteht eine solche Verbindung zu den legendären Rosenkreuzern jener Schriften, die am Vorabend des 30jährigen Krieges erschienen und bis heute zum mythischen Fundus aller Rosenkreuzer-Vereinigungen gehören. Pure Phantasie ist schließlich die jahrtausendealte Verbindung mit ägyptischen Mysterien, die AMORC behauptet und mit den exotischen Bauten des "Rosicrucian Park" in San Jose zu untermauern versucht.

Eine solche Kontinuität kann es schon deshalb nicht geben, weil die Original-Rosenkreuzer nie existiert haben. Sie waren ein reines Hirngespinst, ein Tagtraum. Und die Wurzeln dieser ins Nostalgische changierenden Kopfgeburt, welche die heutigen Rosenkreuzer noch mehr ins Nostalgische steigern, finden sich auch nicht am Nil in Ägypten, sondern am Neckar in Tübingen. 2

Die Rosenkreuzer sind nämlich eine papierene Legende. Die drei grundlegenden einschlägigen Schriften sind die Fama fraternitatis, die Confessio und die Chymische Hochzeit, die in den Jahren 1614, 1615 und 1616, also kurz nacheinander, erschienen. Inzwischen gilt als erwiesen, daß alle drei Schriften aus dem Freundeskreis des Tübinger Theologen Johann Valentin Andreae stammten und daß Andreae zumindest die "Chymische Hochzeit" selbst verfaßt hat. In diesen Schriften wird die Figur eines armen deutschen Adeligen namens Christian Rosenkreutz beschworen, der 1378 geboren worden und 1484 im Alter von 106 Jahren gestorben sei. Dieser Christian Rosenkreutz habe nach ausgedehnten Reisen und Studien eine geheime, international verzweigte Bruderschaft gegründet, um eine allgemeine Reformation, eine Generalreformation der Menschheit, in die Wege zu leiten. Ziel der Bruderschaft sei der Kampf für das reine, unverfälschte Evangelium - zugleich ein Kampf gegen Papst, Mohammed, Pfaffen, Alchemisten und scholastische Philosophie.

Die Urheber dieser Legende waren also aufsässige evangelische Theologen, die mit dem Stand der Reformation unzufrieden waren und nach einer "Generalreformation" verlangten. Da diese nicht in der Realität zu bewerkstelligen war, verlegten sie ihren Wunschtraum in die Klandestinität: Sie erfanden die Figur des Christian Rosenkreutz, welcher, der Fama zufolge, schon über ein Jahrhundert im Geheimen am Wirken sei.

Ziel dieser nostalgisch angehauchten Utopie war es letztlich, den Zwiespalt von Glauben und Wissen zu überwinden, der die späte Renaissance kennzeichnete. Die "Generalreformation" sollte die evangelische Theologie in Übereinstimmung mit dem Menschenbild des Humanismus bringen. Natur und Bibel galten dabei als gleichwertige Erkenntnisquellen. Der Makrokosmos entsprach für sie dem Mikrokosmos.

Diese Utopie trug auch sozialreformerische Züge, wie sich folgendem Vers des Christian Rosenkreutz entnehmen läßt:

Ein frölich zeit die soll bald kommen,
Darin einer wirt dem andern gleich,
Keiner wirt sein arm oder reich, ...
Darumb so last ewer grosse klag,
was ists umb etlich wenig tag.

Die Schimären aus dem Tübinger Theologenkreis hatten eine ungeheure Resonanz. Bis 1620 erschienen etwa 200 Schriften, die an den Rosenkreuzer-Mythos anknüpften und ihn fortspannen, indem sie ihn unterstützten oder auch bezweifelten und bekämpften. Es half auch wenig, daß Andreae selbst sich schon bald von der Rosenkreuzerei distanzierte und die Fama als Blendwerk bezeichnete. Sein gedankliches Geschöpf war ihm entglitten und hatte sich selbständig gemacht. Die Hoffnung auf eine Generalreformation, auf eine bessere Welt, in der sowohl die Kluft zwischen Glauben und Wissen als auch der Gegensatz zwischen arm und reich überwunden würde, entsprach zu sehr den Bedürfnissen der Zeit: Das neue Selbstbewußtsein war geistiger Not, Ängsten, Zweifeln und der Sehnsucht nach einer besseren Welt gewichen. Die Renaissance war am Ende, und zum Manierismus in der Kunst paßte sehr wohl eine literarische Groteske wie die Figur des Christian Rosenkreutz.

Statt der "frölich Zeit", die mit der Generalreformation anheben würde, begann schon 1618 die apokalyptische Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Zu den Überlebenden der jahrzehntelangen Verwüstung gehörte die Hoffnung auf eine bessere Welt und damit auch der Mythos von den Rosenkreuzern.

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