Sehn-Sucht: 26 Essays zur Dialektik von Nostalgie und Utopie

Vorwort


Heimweh

Wie die Entfremdung von der Heimat zum Problem wurde: Die "nostalgia" im Wandel des wissenschaftlichen Zeitgeistes

Heimweh ist ein psychischer Zustand, den wohl jeder schon mal empfunden hat. Dennoch wird man das Wort in psychologischen Wörterbüchern und Stichwortverzeichnissen fast immer vergebens suchen. Man muß schon ziemlich viel Literatur wälzen, bis man wenigstens auf ein Stichwort wie "Heimweh, kindliches" stößt. 1

Wer versuchen sollte, das Heimweh unter dem alten medizinischen Fachwort Nostalgie nachzuschlagen, wird kaum bessere Erfahrungen machen. Wenn er Glück hat, findet er vielleicht die folgende Erklärung: Die Nostalgie, welche in der romantischen Psychologie eine sehr große Rolle spielte und bis zur Jahrhundertwende als Ursache schwerer Depressionen galt, wird heute fast immer durch andere Termini (z. B. Regression) ersetzt. 2

Wer es noch genauer wissen will und die Literaturübersicht der American Psychological Association konsultiert, findet innerhalb von 16 Jahren gerade 25 Zeitschriftenaufsätze vermerkt, in denen das Heimweh (homesickness) eine Rolle spielt. Meistens steht dabei das Heimweh nicht im Mittelpunkt, sondern wird lediglich beiläufig erwähnt, zum Beispiel im Zusammenhang mit den Anpassungsproblemen von Ausländern, Flüchtlingen oder Studenten. 3

Das Heimweh ist für die moderne Psychologie und Psychotherapie offensichtlich kein sonderlich bewegendes Thema. Es wird nicht als eigenständiges psychologisches Problem gesehen, sondern eher als Symptom, das verschiedene Ursachen haben und ganz verschieden gedeutet werden kann. Zum Beispiel mag es der Psychoanalytiker als Zeichen einer Regression sehen oder der Verhaltenstherapeut als ungünstige Reaktion im Rahmen eines funktionalen Bedingungsmodells.

Das war nicht immer so. Über Jahrhunderte hatte das Heimweh unter dem Fachausdruck nostalgia seinen festen Platz in der medizinisch-psychologischen Literatur. Es genoß sogar eine Aufmerksamkeit, die uns heute übertrieben erscheinen mag. Es galt als morbus genuinus, als Krankheit an sich, die durch den Verlust der vertrauten Umgebung, die Beschaffenheit der Luft oder andere Umwelteinflüsse verursacht werde. Das Heimweh war ein Verhängnis wie andere Krankheiten, die den Menschen befallen können.

Der Sunnenberg gestorben von heimwe, heißt es in einem Schreiben an den Rat der Stadt Luzern aus dem Jahre 1569. Das Schriftstück ist der bislang früheste Beleg für das Wort Heimweh. 4 Ebenfalls in der Schweiz, in Basel, erschien 1688 die Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe aus der Feder des Arztes Johannes Hofer. Sie enthielt erstmals das Kunstwort Nostalgia (aus griechisch nostos = Heimkehr und algos = Schmerz), das bis heute als medizinischer Fachausdruck für Heimweh dient. 5

Hofer sah die Ursache der Heimwehkrankheit im Wechsel der Umgebung, der mit veränderter Lebensweise, anderer Luft und fremden Bräuchen verbunden sei. Vor allem jungen Leuten falle es oft schwer, sich an fremde Sitten zu gewöhnen oder der heimatlichen Milch zu entbehren. Bei den Heimwehkranken blieben die Lebensgeister in jenen Fasern des Gehirnmarks gebunden, in denen die Vaterlandsideen eingeprägt seien. Die Lebensgeister könnten so nicht mehr in andere Teile des Gehirns gelangen und deren Funktionen unterstützen. - Aus heutiger Sicht eine barock-phantasievolle, im Grunde aber doch modern-ganzheitliche Sichtweise, die das Heimweh sowohl mit psychologischen wie physiologischen Gründen zu erklären versuchte. Das wirksamste Mittel zur Heilung des Heimwehs sah Hofer in der Rückkehr in die Heimat. Behelfsweise empfahl er ein Klistier zur Besserung der gestörten Einbildungskraft oder verschiedene Mixturen zur Linderung der Symptome.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts trat der psychologische Aspekt zugunsten rein physiologischer Erklärungen zurück. So sah der Aufklärer Johann Jakob Scheuchzer in seiner "Naturgeschichte des Schweizerlandes" (1705 - 1707) die eigentliche Ursache des Heimwehs in der Änderung des Luftdrucks. Wenn die Schweizer aus der feinen, leichten Luft ihrer Berge ins Flachland kämen, würde der höhere Luftdruck ihre weniger stabilen Hautfäserchen zusammendrücken, das Blut gegen Herz und Hirn treiben und so das Heimweh verursachen. Als Therapie empfahl Scheuchzer die Verbringung der Heimwehkranken auf höher gelegene Berge und die Einnahme von Stoffen, die zusammengepreßte Luft enthielten, wie Salpeter, Pulver und jungen Wein, um so den Druck im Inneren des Körpers zu erhöhen. 6

Ähnlicher Ansicht war der Abbé Jean-Baptiste Du Bos, der 1719 das Heimweh kurzerhand als hemvé ins Französische übersetzte. Unter diesem Stichwort fand es 1765 Eingang in die große französische Enzyklopädie: So nennt man man mancherorts, was wir als "la maladie du pays" umschreiben, beginnt die von Louis de Jaucourt verfaßte Erklärung. Beim "hemvé" handele es sich um den übermächtigen Wunsch, nachhause zurückzukehren. Nach Ansicht des Abbé Du Bos beruhe dieser Wunsch auf nichts anderem als einem Instinkt der Natur, der uns so mitteilt, daß die Luft, in der wir uns befinden, unserer Wesensart nicht so zuträglich ist wie die heimatliche Luft. Der "hemvé" (das Wort führt im Französischen den männlichen Artikel) sei rein körperlich bedingt und könne deshalb nie zu einem geistigen Übel werden. Es seien einfach das Wasser und die ungewohnte Luft, die in der geschwächten menschlichen Maschine bestimmte Veränderungen und so ein Warnsignal bewirkten, da der Mensch über keinen unmittelbaren Sinn für die Beschaffenheit der Luft verfüge. Doch sei es relativ, welche Luft als wohltätig empfunden werde: Was für den Eingeborenen sehr bekömmlich sei, könne auf manche Fremde wie Gift wirken. Im übrigen dürfe der "hemvé" nicht mit jenen massiven Beschwerden verwechselt werden, die den Europäer beim Wechsel in ein tropisches Klima zu befallen pflegten. 7

In der deutschen Enzyklopädie von Zedler (1735/40) finden sich ähnliche Auskünfte. Auch hier werden Wasser und Luft für das Heimweh verantwortlich gemacht. Zugleich wird betont, daß das Übel vor allem an Schweizern beobachtet werde, wenn sie sich an solchen Orten aufhalten, die wässerig, und dem Meere nahe sind. Ein gewisser D. Schmuchzer - gemeint ist wohl der bereits erwähnte Scheuchzer - schreibe dies der reinen, leichten Luft zu, welche die Schweizer in ihren Bergen gewohnt seien, wogegen die Luft an feuchten und niedrigen Orten dick und unrein sei, was über eine Verdickung der Körpersäfte zu leiblicher Trägheit und Gemütsunlust führe. Geholfen werden könne den Kranken am ehesten, indem man sie in hohen Gebäuden, Türmen und dergleichen einer frischeren Luft aussetze. Es handele sich indessen um eine Krankheit, die bislang nur von wenigen Medizinern behandelt, ja kaum beobachtet worden sei. In Frankreich, wo viele Schweizer damit behaftet seien, werde sie "la maladie du Pais" genannt. Es gebe auch die Ansicht, daß die Einwohner des Kantons Bern besonders dafür anfällig seien.

Als weitere Variante im Wettstreit der wissenschaftlichen Meinungen wird die Ansicht eines Georg Detharding angeführt, der in seiner Disp. de Aere Rostoch die gute Luft der Hansestadt Rostock gerühmt und das Heimweh der Schweizer auf deren lange Gewohnheit an eine unreine, inner denen Bergen eingeschlossene Lufft zurückgeführt habe. 8

Die mechanistische Sichtweise des Menschen einschließlich der Seele ist in solchen Auskünften unverkennbar. Psychische Vorgänge waren nur als Stoffwechselprodukte vorstellbar. Der Zeitgeist - auch und gerade der wissenschaftliche - verlangte nach handfesten, materialistischen Erklärungen, auch für seelische Erscheinungen. Selbst ein Phänomen wie das Heimweh, das uns heute so simpel erscheint, mußte mit der physikalischen Beschaffenheit der Luft und anderer Einflüsse erklärt werden.

Allerdings setzte sich diese mechanistische Sichtweise nie vollends durch. Der Schweizer Gelehrte Albrecht von Haller revidierte 1777 seine anfänglich physiologische Sichtweise des Heimwehs, indem er dessen Ursache in der Trennung von der vertrauten Umgebung erblickte. Der deutsche Gelehrte J. Fr. Cartheuser hielt in einer 1771 veröffentlichten Abhandlung die Luftdruck-Theorie zwar für einleuchtend, aber doch für ergänzungsbedürftig: Auch psychische Einflüsse könnten die Nostalgie hervorrufen und wieder zum Verschwinden bringen. Noch entschiedener widersprach 1783 der Göttinger Professor Blumenbach der Luftdruck-Theorie. Für ihn war das Heimweh eine reine Gemütskrankheit, die ihre Ursache im Kontrast zwischen Heimat und Fremde, in einem allen Menschen eingepflanzten Hang zum dulce natale solum habe.

Anfang des 19. Jahrhunderts triumphierte dann die psychologische Sichtweise. Der wissenschaftliche Paradigmenwechsel war dabei wiederum in den Zeitgeist eingebettet. Die Romantik entdeckte nun das Wort Heimweh, das noch für Goethe und Schiller nicht schriftfähig gewesen war, und führte es in die Literatur ein. Ganz diesem Geist der Romantik verhaftet war die 1835 erschienene Abhandlung Das Heimweh und der Selbstmord von Julius Heinrich Gottlieb Schlegel. Unter Beibringung zahlreicher Literaturzitate wandte sich der Autor gegen die Ansicht, daß das Heimweh durch die Luftveränderung oder einen angeborenen Heimat-Instinkt verursacht werde. Wenn jemand heimwehkrank werde, sei dies vielmehr auf die besonders intensiven Eindrücke der Kindheit zurückzuführen. Daher bleibt ihm auch in späteren Jahren, oft ohne es zu wissen, Vorliebe zu dem, was ihm am frühesten tief zugesagt hatte.

In der romantischen Literatur wurde das Heimweh zum Gemütswert, zu einer frühkindlich-naiven und deshalb besonders engen Bindung an Familie, Heimat und Natur, die im Erwachsenen weiterlebt. Die Betonung der frühkindlichen Eindrücke findet sich später, neben dem Unbewußten und weiterem romantischen Ideengut, in Freuds Psychoanalyse wieder. Vor allem aber prägte sie entscheidend das noch heute herrschende Verständnis von Heimweh als einer rückwärtsgewandten Sehnsucht, die innerhalb bestimmter Grenzen als normal und sogar als Ausweis einer geglückten kindlichen Sozialisation gelten kann.

Die medizinisch-psychologische Literatur des 19. Jahrhunderts interessierte sich dagegen mehr für die pathologische Seite des romantischen Heimwehs, die jenseits der Normalität lag und angeblich zu Wahnsinn, Selbstmord, Brandstiftung, Kindstötung und anderen Verbrechen führte. Von Zangerl (1840) und Jessen (1841) wurde das Heimweh als psychischer Defekt, individuelle Schwäche, Problem von Außenseitern, ja als psychiatrisch-forensisches Problem behandelt. Ludwig Meyer stellte 1855 unter dem Titel Der Wahnsinn aus Heimweh fünf Fälle von Berliner Dienstmädchen vor, bei denen aufgrund des Heimwehs Halluzinationen und andere geistigen Störungen aufgetreten seien. Noch 1909 promovierte Karl Jaspers mit einer Dissertation über Heimweh und Verbrechen. In diesem Arbeiten wurde der Schwerpunkt auf mangelnde Anpassungsfähigkeit und beschränkten Horizont der Heimwehkranken gelegt. Das Heimweh galt als Problem von Dienstboten und anderen deklassierten Bevölkerungsgruppen, die im Zuge der industriellen Revolution der vertrauten heimatlich-engen Umgebung entrissen worden waren.

Als Problem der Normalpsychologie wurde das Heimweh erstmals 1925 behandelt: Das Heimweh ist keine Krankheit, stellte der Psychologe Karl Marbe fest. Es beruht auch durchaus nicht auf psychopathischer Konstitution, wenn es auch bei gewissen Psychopathen in besonders intensivem Grade auftreten und hier besonders schwere psychische und somatische Folgeerscheinungen hervorrufen kann. Auch wenn die Annahme richtig sein sollte, daß starkes Heimweh auch bei Geistesgesunden zu vorübergehender Geistesstörung führen kann, wäre dies kein Beweis für seinen psychopathischen Charakter. Das Heimweh ist ein ganz normales Verhalten bestimmter, auch völlig gesunder Personen, das an bestimmte Bedingungen der Umwelt geknüpft ist. Das Heimweh ist auch nicht notwendig ein Zeichen eines beschränkten Horizontes; es kann vielmehr Gebildete und Ungebildete, Alte und Junge erfassen. 9

Marbe hielt es für möglich, das Heimweh mit Methoden der experimentellen Psychologie zu erfassen. Es bestehe nämlich zweifellos eine Korrelation zwischen der Anfälligkeit für Heimweh und der Umstellbarkeit von Personen. Diese Umstellbarkeit lasse sich aber experimentell untersuchen. Zum Beispiel, indem der Experimentator dem Probanden ein Ball zuwirft, den dieser abwechselnd im Ober- und Untergriff auffangen muß.

In den sechziger Jahren hat sich Charles Zwingmann mit dem Heimweh befaßt und den kulturkritisch gefärbten Begriff des nostalgischen Phänomens geprägt. Er verstand darunter die symbolische Rückkehr zu oder Vergegenwärtigung von solchen Ereignissen (Objekten) des Erlebnisraums, die den größten Satisfaktionswert bieten. Die nostalgische Sehnsucht konnte für ihn genauso geografisch wie zeitlich rückwärtsgewandt sein. Zwingmann verknüpfte so die klassische "nostalgia" des Heimwehs mit der modernen Nostalgie. 10

Wesentliche neue Aspekte haben sich seitdem nicht ergeben, zumal das Heimweh zu den eher stiefmütterlich behandelten Themen der Psychologie gehörte. Ziemlich skurril muten heute die Deutungen orthodoxer Psychoanalytiker an, die in der nostalgischen Reaktion eine unbewußte Sehnsucht nach der intrauterinen Vergangenheit im Mutterleib (Fodor, 1950), nach der Brust der Mutter (Sterba, 1940) oder gar nach dem Penis des Vaters (Nikolini, 1926) zu erkennen vermeinten.

Mit etwas Gespür für das historische Umfeld läßt sich hinter all diesen Theorien der Einfluß des Zeitgeistes erkennen. Das fängt an mit der vergleichsweise modern-psychosomatisch anmutenden Sichtweise Hofers, die noch der ganzheitlichen Medizin eines Paracelsus verpflichtet ist. Es geht weiter mit der Luftdruck-Theorie Scheuchzers, des Abbé Du Bos und der französischen Enzyklopädie, die das Heimweh ins Prokrustesbett der materialistischen Aufklärung zwängt. Der Widerspruch, den Cartheuser, Blumenbach und andere Gelehrte dagegen anmelden, entspricht dem eher idealistischen Geistesklima Deutschlands. Die psychologisierende Interpretation J. H. G. Schlegels ist eindeutig der Romantik verpflichtet. Ludwig Meyers psychiatrisches Interesse an den Nachtseiten des Heimwehs kündet von der Verschmelzung dieses romantischen Erbes mit dem seichten Geist des Vulgärmaterialismus, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch bei der Entstehung von Freuds Psychoanalyse nachweisen läßt. Karl Marbes Einschätzung des Heimwehs als Problem der Normalpsychologie paßt zur "neuen Sachlichkeit" der zwanziger Jahre (und verweist nebenbei auf psychologische Grundlagen der Ästhetik). Hinter Zwingmanns "nostalgischem Phänomen" schließlich erkennt man den bildungsbürgerlichen Degout vor der US-Kultur der Nachkriegsjahre, welche die Zeit zum progressiven Entwerter des Menschen mache und so die nostalgische Sehnsucht nach der Stabilität früherer Werte hervorrufe.

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