PresseBLICK-Rezensionen | Natur- und Geisteswissenschaften |
Im Mittelalter gehörte es zur göttlichen Ordnung der Welt, daß der Bauer seinen Acker bestellte, der Handwerker seinem Gewerbe nachging und der Feudalherr den Zehnten kassierte. Erst in der Neuzeit tauchten mehr oder weniger kluge Theorien auf, wie Ackerbau, Gewerbefleiß, Handel, Finanzen und sonstige Dinge miteinander zusammenhängen könnten. So glaubten die Physiokraten, daß dem Bauer die Krone der Nützlichkeit gebühre. Die Merkantilisten setzten dagegen auf Handel und Gewerbe, um den Reichtum des Staates zu mehren. Der englische Pfarrer Robert Malthus folgerte aus der Begrenztheit der Bodenerträge, daß leider Gottes immer ein gewisser Teil der Bevölkerung verhungern müsse. Der schottische Gelehrte Adam Smith entwickelte eine etwas menschenfreundlichere Theorie, wonach aller Wohlstand aus dem Zusammenwirken von Boden, Arbeit und Kapital entsteht. Karl Marx schließlich erblickte in der Arbeit die eigentliche Quelle aller Wertschöpfung und im Kapital lediglich die vergegenständlichte "tote Arbeit", die sich der Kapitalist durch Vorenthaltung des "Mehrwerts" aneigne.
In allen Fällen gingen Nationalökonomie und Ideologie Hand in Hand: Die gottgegebene Arbeitsteilung entsprach den Bedürfnissen der feudalen Gesellschaft. Daß die Physiokraten den untersten Stand zum wertvollsten erklärten, bedeutete eine latente Kampfansage an das ancien régime. Der Merkantilismus paßte zu den Geldnöten des aufgeklärten Absolutismus, die Theorie des Robert Malthus zum Elend der englischen Landbevölkerung und die Lehren des Adam Smith zum Kapitalismus der freien Konkurrenz. Das Gedankengebäude von Karl Marx reüssierte sogar in erster Linie als Glaubenslehre, wobei seine bald obsolet gewordene Wissenschaftlichkeit den wichtigsten Teil des Credos bildete.
Auch jene Theorien, die heute durch die Lehrbücher der Volks- und Betriebswirte geistern, sind sicher nicht ideologiefrei oder gar der Weisheit letzter Schluß. Deshalb ist es ganz anregend und erfrischend, die Nationalökonomie mal aus der Sicht eines Physikers zu betrachten, wie dies der Professor für Theoretische Physik an der Universität Würzburg, Reiner Kümmel, mit dem vorliegenden Buch versucht.
Nach Kümmels Ansicht kranken alte wie moderne Theorien der Volkswirtschaft daran, daß sie die Bedeutung der Energie als entscheidenden Produktionsfaktor entweder ignorieren oder völlig unterbewerten. Soweit die Energie im Kalkül der Volks- und Betriebswirte überhaupt vorkomme, werde sie entsprechend ihren Kosten mit allenfalls fünf Prozent Anteil an der Wertschöpfung veranschlagt. In Wirklichkeit werde damit die tragende Rolle der Energie für jede Form menschlichen Wirtschaftens verkannt. Schließlich sei Energie der einzige physisch meßbare Faktor, der von außen in das System Erde eingespeist werde und hier auch alle wirtschaftliche Aktivität in Gang halte. Besonders deutlich werde dies heute: "Mit wachsender Industrialisierung und Automation konvergieren die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit im Produktionsfaktor Energie."
Welche Ignoranz gegenüber unumstößlichen Gesetzen der Natur bei Ökonomen mitunter anzutreffen sei, veranschauliche folgende Begebenheit: Auf einer internationalen Konferenz über natürliche Ressourcen wies ein jüngerer Wirtschaftswissenschaftler in einem Vortrag darauf hin, daß man wegen des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik Energie nicht beliebig durch Kapital substituieren könne. Da unterbrach ihn zornig ein hochangesehener amerikanischer Ökonom und erklärte: "You must never say that. There is always a way for substitution."
Adam Smith habe allerdings von der Bedeutung und Unersetzbarkeit der Energie noch nichts ahnen können, als er den gesellschaftlichen Reichtum auf die Produktionsfaktoren Kapital, Arbeit und Boden zurückführte. Schließlich habe es zu jener Zeit noch keinen Energiebegriff gegeben: Weder Smith noch andere seiner Zeitgenossen hätten sich vorstellen können, daß Wärme, Nahrung, Arbeit und Licht unter dem Begriff der Energie zusammengefaßt werden oder daß Bewegung, Feuer, Wasser, Wind oder Getreide in irgendeiner Hinsicht etwas gemeinsam haben könnten. "So kam es zu dem wissenschaftlichen Verhängnis, daß die Begriffswelt der modernen Nationalökonomie von der Vorstellungswelt der Bauern und Handwerker geprägt wurde."
Ähnliches gelte für Karl Marx: Obwohl der Begründer des "wissenschaftlichen Sozialismus" bereits im Zeitalter der Dampfmaschine lebte, habe er das eigentlich Neue an der Dampfmaschine nicht erkannt. Andernfalls hätte er nämlich einsehen müssen, "daß der Mehrwert in der Produktionssphäre durch Ausbeutung von Energiequellen statt Ausbeutung von Menschen erzeugt werden kann".
Dieser blinde Fleck der Wahrnehmung bei einem sonst scharfsichtigen Kritiker wie Marx habe ebenfalls mit einem generellen Defizit zu tun: Erst zwischen 1842 und 1845 habe Robert Mayer den Satz von der Erhaltung der Energie formuliert, und auch danach habe es noch geraume Zeit gedauert, bis Mayers bahnbrechende Erkenntnis von den Physikern anerkannt wurde - ganz abgesehen von ihrer Verbreitung unter den Gebildeten außerhalb der Naturwissenschaften, zu denen Marx gehörte, als er 1867 "Das Kapital" veröffentlichte.
Symbolhaft zeige sich das "tragische Nichtverstehen des industriellen Produktionsprozesses durch den Sozialismus" darin, daß Hammer und Sichel als Werkzeuge der Handwerker und Bauern einer vergangenen Agrarepoche "die Staatsflagge der zweitmächtigsten Industrienation der Erde auf ihrem Weg in den ökonomischen Kollaps geziert hatten".
Ein solcher Kollaps könne allerdings auch dem westlichen System drohen, wenn es weiterhin in jener Begriffswelt verharre, welche nur die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit kennt. So sprächen die Ökonomen noch immer von "steigender Arbeitsproduktivität", wenn in Wirklichkeit die vermehrte und bessere Nutzung von Energie gemeint sei. Denn es sei allein dem immer intelligenteren Einsatz von Energie zu verdanken, daß alle existenzwichtigen Produkte von Landwirtschaft und Industrie heute so billig hergestellt werden könnten.
Das Schlüsselelement sei dabei der Transistor, der vor einem halben Jahrhundert entwickelt wurde, um die bis dahin üblichen Röhren oder Relais zu ersetzen. Im Grunde sind Transistoren simple Schaltelemente, die einen von elektrischen Ladungen getragenen Energieimpuls entweder blockieren oder verstärkt durchlassen. Durch die sinnvolle Kombination einer Unzahl solcher Schaltelemente auf winzigstem Raum entstehen Mikroprozessoren und Computer, die mit minimalem Aufwand an elektrischer Energie ein Maximum an Informationsverarbeitung leisten. Durch Koppelung dieser maschinellen Informationsverarbeitung mit den Wärmekraftmaschinen wird der Mensch bei der industriellen Produktion immer entbehrlicher: Weder braucht man seine physische Kraft, um irgendwo den Bohrer anzusetzen oder eine Schraube festzudrehen, noch benötigt man seine geistigen Fähigkeiten für routinemäßige Aufgaben der Steuerung und Kontrolle, soweit sich diese in Algorithmen erfassen und in die binäre Sprache des Computers übertragen lassen.
Inzwischen hat die industrielle Produktion einen Grad der Automatisierung erreicht, der es nach Kümmels Ansicht dringend erforderlich macht, sie nicht länger durch die antiquierte Brille eines Adam Smith zu betrachten. Andernfalls drohten uns schlimme Folgen: "Dann nämlich, wenn es den neuerstandenen Propheten eines entfesselten Kapitalismus gelänge, die bewährte Macht- und Einkommensverteilung massiv zugunsten derjenigen zu verzerren, die die Besitztitel auf die Anlagen der Energieumwandlung und Informationsverarbeitung halten und die humanen und natürlichen Ressourcen ausschließlich für ihre Individualinteressen in Dienst nehmen."
Kümmel warnt in diesem Zusammenhang davor, den rückläufigen Anteil von Landwirtschaft und Industrie an der Bruttowertschöpfung zugunsten der sogenannten Dienstleistungen mit der gesellschaftlichen Bedeutung dieser Sektoren zu verwechseln. Wenn zum Beispiel 1992 in Deutschland der größte Teil der Wertschöpfung mit 59,2 % auf den Dienstleistungssektor entfiel, während die Industrie auf 39,6 % schrumpfte und die Landwirtschaft nur noch einen minimalen Rest von 1,2 % behauptete, bedeute dies noch lange nicht, daß die Industriegesellschaft quasi von einer Dienstleistungsgesellschaft abgelöst werde. Dies erscheine lediglich so in der Optik von Ökonomen, die den Faktor Energie aus ihren Berechnungen ausblenden oder ihn notorisch unterbewerten. Erst die Kombination von Computern und Wärmekraftmaschinen ermögliche jenes Ausmaß an Rationalisierung und Automatisierung der materiellen Güterproduktion, auf dem der Dienstleistungssektor aufbaue. Selbst wenn der Trend zur Verlagerung von Wertschöpfung und Beschäftigung in den weniger energieintensiven Dienstleistungssektor und auf die sich daraus entwickelnde Kommunikationsebene anhalten sollte, werde alles Wirtschaften auf der höchsten Ebene doch immer von der materiellen Güterproduktion der tiefer liegenden Ebenen Landwirtschaft und Industrie getragen werden müssen. "Darum wird eine Weltgesellschaft, die die Grundbedürfnisse von einer bis auf evtl. 10 Milliarden Menschen anwachsenden Bevölkerung befriedigen muß, immer eine Industriegesellschaft in dem Sinne sein, daß Energie und Energieumwandlungsanlagen die materielle Existenzgrundlage menschenwürdigen Lebens schaffen."
Am Grenzfall einer vollautomatisierten Produktion verdeutlicht Kümmel die Konsequenzen der fortschreitenden "Substitution teurer Arbeit-Kapital-Kombinationen durch billige Energie-Kapital-Kombinationen": Er bedeutet hundertprozentige Massenarbeitslosigkeit. Die Behauptung, daß Investitionen Arbeitsplätze schaffen würden, sei deshalb ohne hinreichende Differenzierung eine Irreführung. Damit die Arbeitslosigkeit nicht zum Stigma der Marktwirtschaft werde und die ganze Gesellschaft in eine gefährliche Schieflage bringe, müsse der Faktor Energie gegenüber dem Faktor Arbeit verteuert werden. Die Lage gerate nur deshalb nicht innerhalb kurzer Zeitspannen völlig außer Kontrolle, weil technisch-ökonomische Beschränkungen das Abrutschen in den Zustand der Vollautomation mit minimalem Arbeitseinsatz über eine Reihe von Jahren hinauszögern.
Eine Neubewertung des Faktors Energie sei ferner deshalb erforderlich, weil die fossilen Energieträger Kohle, Öl und Gas nur begrenzt vorhanden sind und mit ihren Emissionen die Schadstoffaufnahmekapazität der Biosphäre überfordern. Bei den gegenwärtig niedrigen Energiepreisen fehle der Anreiz für die Entwicklung der erneuerbaren Energien, die in einem historisch relativ kurzen Zeitraum in der Lage sein müssen, anstelle der erschöpften fossilen Energieträger den Energieverbrauch der Weltbevölkerung zu decken. Die Ölpreiskrise habe seinerzeit gezeigt, welche enormen Anstöße für den effizienten Einsatz von Energie und die Entwicklung der nichtfossilen Energiequellen von einer Verteuerung ausgehen. Somit sprächen "naturgesetzliche Zwänge und volkswirtschaftliche Vernunft" für höhere Energiepreise. Der Widerstand der Interessenvertreter gegen eine solche Verteuerung erinnere in mancher Hinsicht an den Widerstand von Großgrundbesitzern gegen Sozialreformen.
Kein Verständnis hat Kümmel auch für jene, welche die Gefahr einer Klimaveränderung durch die CO2-Emissionen der fossilen Energieträger noch immer zu leugnen oder zu verharmlosen versuchten: Schon einfache Überschlagsrechnungen mit Hilfe der physikalischen Strahlungsgesetze erbrächten im wesentlichen dieselben Erkenntnisse wie die aufwendigen Klimamodelle mit Supercomputern. Um so erstaunlicher sei es, daß Außenseiter wie der Meteorologe Wolfgang Thüne (siehe Thünes Buch "Der Treibhaus-Schwindel" in PB 8/98) ihre oft widerlegten oder unmittelbar als Unsinn erkennbaren Argumente in ansonsten seriösen Medien verkünden könnten.
Die Unterbewertung eines Produktionsfaktors führe in der Regel zu seiner Verschwendung und hohen sozialen Kosten. So sei das römische Reich daran zugrunde gegangen, daß die Masse der freien kleinen und mittleren Bauern, deren Produktions- und Wehrkraft die römische Republik groß gemacht hatte, gegen die mit Sklaven konkurrenzlos billig produzierenden neuen agrarischen Großbetriebe wirtschaftlich nicht mehr bestehen konnte. Ähnliches könne heute den Industriestaaten passieren, die pro Kopf ihrer Einwohner mehr Energie verbrauchen als zehn Sklaven liefern könnten. Noch sichere der Wohlstand, den diese "Energiesklaven" schaffen, trotz seiner ungleichen Verteilung den sozialen Frieden. Diese Sicherung könne jedoch zusammenbrechen, "wenn die produktionsmächtige Energie mit ihren billigen Dienstleistungen die teure menschliche Arbeit aus dem Prozeß der Wertschöpfung und Wohlstandsverteilung verdrängt".
Die zerstörerischen Wirkungen einer entfesselten Ökonomie würden begünstigt durch den "Fortfall des konkurrierenden, theoretisch egalitären Gesellschaftsmodells" in Gestalt des kommunistischen Lagers, das über sieben Jahrzehnte den Kapitalismus eher bewahrt als erschüttert habe, indem es ihn zur sozialen Mäßigung zwang. Nunmehr gewännen ökonomische Theorien nach Art von "Reagans Revolution" Oberwasser, die die Rückkehr zu den längst überwunden geglaubten Anfängen des Kapitalismus verkündeten. Diese beschränkte, nur am schnellen Profit orientierte Sichtweise bedrohe langfristig die gesellschaftliche Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung. Die geschichtliche Erfahrung lehre aber, daß Wirtschaftsordnungen ohne gesellschaftliche Akzeptanz noch nie lange aufrechterhalten werden konnten: "In der Regel waren ihre Zusammebrüche mit kriegerischen Konflikten verbunden. Nach ihrem Sieg über die sozialistische Planwirtschaft ist Marktwirtschaft die global herrschende Wirtschaftsordnung. Ihr Zusammenbruch hätte furchtbare Folgen."
Solche sozialen Konflikte und Aggressionen seien angesichts der hohen Verletzlichkeit der modernen Industriegesellschaft von besonderer Brisanz, denn "je stärker mit wachsender Transistorisierung und Automation Energieströme und die ihnen digital aufgeprägten Datenflüsse die Produktion bestimmen, desto verwundbarer wird die Wirtschaft durch Energieflußblockaden infolge von Zufallsstörungen, Bedienungsfehlern oder menschlicher Aggressivität."
Der Titel des Buches erinnert an Klaus Knizias Reflexionen über "Kreativität, Energie und Entropie" (PB 12/92). Im Unterschied zu Knizia arbeitet Kümmel aber den Zusammenhang wie den Unterschied der Begriffe Energie und Kreativität nicht heraus. Das Wort Kreativität taucht im Text nur beiläufig und im Stichwortregister gar nicht auf. So kann man nur vermuten, daß er unter Kreativität wohl etwas ähnliches wie Knizia versteht: Die sublimste Form von Energie, die den Menschen überhaupt erst befähigt, das vorhandene Energiepotential immer extensiver und intensiver zu nutzen. Früher hätte man dazu wohl "Geist" gesagt und darin so etwas wie den Gegenspieler und Erwecker der toten Materie gesehen. Aus der Sicht von Naturwissenschaftlern, die eher in der Thermodynamik als in Philosophie und Dichtung zuhause sind, handelt es sich jedoch in beiden Fällen "nur" um Energie, die der Entropie gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik entgegenwirkt und dadurch Zustände höherer Ordnung ermöglicht. Unter diesem nüchternen Blickwinkel ist Kreativität die höchste Form von Exergie, d.h. von nutzbarer Energie. Mit einem der Informationstheorie entlehnten Begriff wird diese spezifische Gestaltungsenergie mitunter auch als "Negentropie" bezeichnet. Im Grunde ist damit aber dasselbe gemeint, was schon der römische Dichter Vergil mit "mens agitat molem" umschrieb.
Nicht weiter vertieft werden in Kümmels Buch auch die geistesgeschichtlichen Implikationen des Energie-Begriffs, auf die er zu Recht hinweist. So mag es durchaus zutreffen, daß Marx beim Verfassen des "Kapitals" noch keine Ahnung von Robert Mayers Energieerhaltungssatz hatte und deshalb tragende Bestandteile seiner Theorie wie der Begriff der "Ausbeutung" von vornherein obsolet waren. Um so erstaunlicher ist aber, daß auch später keine Korrektur erfolgte. So hat Friedrich Engels, der sich in den Naturwissenschaften besser auskannte als sein Freund Marx, in den von 1873 bis 1883 verfaßten Manuskripten zur "Dialektik der Natur" gleich mehrfach die Bedeutung von Mayers Energieerhaltungssatz hervorgehoben und darin den Beweis für den "ewigen Kreislauf der sich bewegenden Materie" gesehen. Indessen kamen weder Engels noch Marx auf die Idee, diese naturwissenschaftliche Erkenntnis auf das eigene Verständnis von "Arbeit", "Kapital" oder "Ausbeutung" anzuwenden. Die spätere kommunistische Orthodoxie hat solche Versuche dann von vornherein abgeblockt und als "mechanischen Materialismus" verketzert. Den Anfang machte Lenin, indem er die "Energetik" des deutschen Naturphilosophen Wilhelm Ostwald in Bausch und Bogen verdammte.
Das Buch ist nicht gerade einfach zu lesen, obwohl der Autor sich an ein Publikum außerhalb seines Fachbereichs wendet. Etliche Seiten, auf denen er die Faktoren Kapital, Arbeit und Energie anhand von Differentialgleichungen erörtert oder die Grenzen von Ressourcen und Emissionen mit thermodynamischen Formeln belegt, sind für den normalen Leser so gut wie unverständlich. Dennoch stellt es einen bemerkenswerten Versuch dar, die wachsende Kritik am Neoliberalismus auf eine naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen. Bisher argumentierten die Kritiker durchweg anders: Entweder rein emotional, wie Viviane Forrester mit ihrem Bestseller "Der Terror der Ökonomie" (PB 8/97), aus altliberaler Empörung über die mißratene neoliberale Verwandtschaft wie Marion Gräfin Dönhoff mit ihrem Appell "Zivilisiert den Kapitalismus" (PB 12/97), mehr ökonomisch wie Martin/Schumann mit ihrer Warnung vor der "Globalisierungsfalle" (PB 12/97) oder eher philosophisch wie Robert Kurz mit seiner düsteren Vision vom "Kollaps der Modernisierung" (PB 9/94).
Niemand wird ernsthaft bestreiten können, daß es in der Tat die immer effizientere Nutzung von Energiequellen war, welche die Menschheit befähigte, den weiten Weg vom Faustkeil der Steinzeit bis zum Computer der Gegenwart zurückzulegen. Die Geschichte der Produktivkräfte, der Arbeitsteilung, der ganzen Zivilisation, ist insoweit nichts anderes als die Geschichte der immer extensiveren und intensiveren Nutzung von Energiequellen durch den Menschen. Dennoch kam bisher kaum jemand auf die Idee, diese unbestreitbare Tatsache den Ökonomen vorhalten zu wollen, weil diese die Wirtschaft primär unter dem Blickwinkel des Kapitals und seiner Vermehrung betrachten. Daß dies nunmehr geschieht, ist vielleicht der bemerkenswerteste Aspekt an dem vorliegenden Buch. Denn seine Spitze richtet sich deutlich gegen neoliberale Ökonomen, die von der sozialen Marktwirtschaft nur noch die Marktwirtschaft übrig lassen möchten. Es ist typisch für die Allergie gegenüber dem Neoliberalismus, die sich zunehmend in intellektuellen Kreisen bemerkbar macht. Und nicht nur in diesen: Daß sich inzwischen in fast allen Industriestaaten die Wähler für Regierungen mit sozialdemokratischer Couleur entschieden, hat durchaus auch mit den Ängsten vor einer ungebremsten Marktwirtschaft zu tun.
Fazit: Die Lehrbücher für Volks- und Betriebswirte werden nicht umgeschrieben werden müssen, so richtig Kümmels Ausführungen auch sein mögen. Die Ökonomen werden auch künftig ihre Bilanzen in Mark oder Euro und nicht in Kilowattstunden oder Megajoule erstellen. Aber dennoch bleibt ein Paradigmawechsel, wie er sich hier ankündigt, auf die Dauer nicht folgenlos für die Wirtschaft.
(PB 1/99/*leu)