PresseBLICK-Rezensionen | Natur- und Geisteswissenschaften |
Im Gegensatz zu dem oben besprochenen Autor ist der Amerikaner John L. Casti überzeugt davon, daß der "Verlust der Wahrheit" noch lange kein Grund ist, sich dem Irrationalismus bzw. einem irgendwie gearteten "Glauben" um seiner selbst willen in die Arme zu werfen. Anhand einer Reihe von Streitfragen der Naturwissenschaften will er zeigen, wie sich auch mit relativen Wahrheiten leben läßt. Im einzelnen geht es um die folgenden Probleme: Ist das Leben durch natürliche physikalische Prozesse auf der Erde entstanden oder kam es von irgendwoher aus dem Weltraum? Werden menschliche Verhaltensmuster in erster Linie von den Genen bestimmt oder von sozialen Einflüssen? Hat das menschliche Sprachvermögen seinen Ursprung in einer einzigartigen, angeborenen Eigenschaft des Gehirns oder wird es hauptsächlich durch Lernen erworben? Können Computer genauso denken wie Menschen oder ist der menschliche Denkprozeß unnachahmbar? Gibt es intelligente Wesen in unserer Galaxie, mit denen wir kommunizieren können, oder sind wir allein im Weltraum? Gibt es eine objektive Wirklichkeit, die unabhängig von einem Beobachter existiert, oder gibt es keine objektive Realität?
Der Autor erörtert jede dieser Streitfragen in Form einer "Gerichtsverhandlung", in der beide Seiten ihre Argumente vorbringen. Zum Schluß gibt er dann sein Urteil ab, wobei er nicht unbedingt einen der Standpunkte übernimmt, sondern auch schon mal verschiedene Argumente mischt. So etwa bei der erkenntnistheoretischen Gretchenfrage, ob es eine objektive Wirklichkeit gebe: Einerseits gebe es eine vom Beobachter unabhängige Realität, andererseits sei eine Vielzahl solcher Realitäten möglich.
Castis Wissenschaftsverständnis ist stark beeinflußt von Thomas Kuhns Paradigma-Begriff, in dem er "mit Fug und Recht die meistdiskutierte Konzeption des Wissenschaftsbetriebs in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts" sieht. Der Fortschritt der Wissenschaften ergibt sich danach aus einer Abfolge inkommensurabler, diskontinuierlicher, revolutionärer Leitvorstellungen. Wie einschneidend ein solcher Paradigma-Wechsel sein kann, glaubt Casti mit dem Selbstmord des Physikers Ludwig Boltzmann illustrieren zu können, dessen Wärmetheorie heute allgemein anerkannt ist, aber seinerzeit auf starke Widerstände stieß. Wissenschaft ist für ihn keine Offenbarung und bietet auch keine unumstößlichen Wahrheiten. Der einzige Faktor, der sie über alle Paradigma-Wechsel hinweg als ganzes kennzeichnet, ist die bescheidene Hoffnung, "daß langfristig Unwahrheiten ausgemerzt werden und das, was übrigbleibt, wahrscheinlicher wird". In dieser Erwartung trifft sich Casti mit dem kritischen Rationalismus Poppers. Allerdings hält er es für übertrieben, wie Popper auf die "Falsifizierbarkeit" einer Theorie als Ausweis von deren Wissenschaftlichkeit pocht. Denn nach der reinen Lehre der Falsifizierbarkeit müßte eine Theorie um so wissenschaftlicher sein, je mehr gute Gründe sich gegen sie anführen lassen...
Casti schlägt ein eher heuristisches Instrumentarium vor, um Wissenschaft gegenüber Pseudo-Wissenschaft abzugrenzen: Als typische Kennzeichen von Pseudo-Wissenschaft nennt er anachronistisches Denken, Suche nach Geheimnissen, Berufung auf Mythen, nachlässigen Umgang mit Beweismaterial, unwiderlegbare Hypothesen, scheinbare Ähnlichkeiten, Erklärung durch Szenarios, Forschung durch Interpretation und Verweigerung der Revision. Einen Wegbereiter der Pseudo-Wissenschaften sieht er auch in Paul Feyerabends "anything goes". Soweit diese Devise Vernünftiges enthalte, habe sie Eingang in Kuhns Paradigma-Theorie gefunden. Im übrigen sei sie aber in der Vergröberung "Alles ist möglich" zur Hauptverteidigung der Pseudo-Wissenschaften geworden.
Der Autor ist von Haus aus Mathematiker und seit 1986 Professor am Institut für Ökonometrie, Operation Researchs und Systemtheorie an der Technischen Universität Wien. Wie er in der Einleitung schreibt, entstand das Buch ursprünglich aus einem "halb-technischen Lehrbuch über Modellbildung bei natürlichen und menschlichen Systemen". Das merkt man ihm noch immer an, obwohl sich der Autor sehr um eine leicht verständliche Sprache und Darstellung bemüht. "Gerichtsverhandlungen" sind nun mal - auch in dieser Form - eine ziemlich spröde bis langweilige Angelegenheit. Von einem schwungvollen philosophischen Essay unterscheidet sich Castis Werk wie ein Gerichtsprozeß von einem Drama. Es bietet empirische Prosa anstelle ganzheitlicher Poesie. Aber das muß man wohl in Kauf nehmen, wenn man vom Baum jener Erkenntnis nascht, die darauf hinausläuft, daß es abseits der relativen Gültigkeit naturwissenschaftlicher Fakten und Theorien keine Erkenntnis gibt. Die amerikanische Originalausgabe des Buches trägt übrigens den Titel "Paradigms lost": Für angelsächsische Ohren schwingt darin die Erinnerung an Miltons "Paradise lost" mit, das die Austreibung aus dem Paradies beklagt...
(PB 10/95/*leu)