PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Bryan Appleyard

Der halbierte Mensch - Die Naturwissenschaften und die Seele des modernen Menschen

München 1994: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., 352 S., DM 14.90


In der guten alten Zeit, als in der Hölle das Feuer noch brannte, war der Geist von Naturwissenschaften und Technik praktisch identisch mit dem Geist der Aufklärung. Heute ist das anders. Die Adepten von "new age" kennen keinerlei Berührungsängste gegenüber Naturwissenschaften und Technik. Auch der Astrologe bedient sich inzwischen wie selbstverständlich eines Computers, die Anhänger von Satanskulten tauschen ihre Botschaften per Internet aus und die Kaffeesatzleser sind umgestiegen auf die Deutung fraktaler Muster der Chaostheorie.

Woher kommt diese bizarre Mischung aus Rationalität und Wahn, aus High tech und Mittelalter? - Nach Ansicht des amerikanischen Physikers David Bohm ist dafür die "Fragmentierung" des modernen Bewußtseins verantwortlich: Die Unzahl von isolierten Fakten und Zusammenhängen, wie sie Naturwissenschaft und Technik darbieten, führe nicht etwa zu fortschreitender Erkenntnis, sondern immer tiefer in "eine Art allgemeiner geistiger Verwirrung". Naturwissenschaft und Technik seien unfähig, eine Alternative zu Esoterik und anderem Obskurantismus zu bieten. Sie korrespondierten insgeheim sogar mit dem galoppierenden Irrationalismus, indem sie ihn durch die Einseitigkeit ihrer Sichtweise geradezu provozieren.

Ein hilfloser Aufschrei gegen die Fragmentierung des modernen Bewußtseins

Das vorliegende Buch des englischen Kulturjournalisten Bryan Appleyard scheint Bohms These zu bestätigen: Auf der einen Seite zeigt sich der Autor sehr wohl vertraut mit den Naturwissenschaften. Auf der anderen Seite ergeht es ihm wie Goethes Faust, dem trotz aller wissenschaftlichen Belesenheit keine Offenbarung zuteil wird: "Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor. Es möcht kein Hund so länger leben!"

Der wissenschaftlich bewanderte Feuilletonist Appleyard ist freilich weder Faust noch Goethe genug, um den Grundkonflikt des neuzeitlichen Menschen in ähnlich großartiger Weise zu verarbeiten. Auf sein Buch trifft eher eine Bemerkung von Friedrich Engels zu, wonach die "Verzweiflung an der Vernunft" das Endergebnis allen englischen Philosophierens darstellt. Es ist ein hilfloser Aufschrei gegen das, was Bohm als "Fragmentierung" des modernen Bewußtseins bezeichnet hat.

Für Appleyard verstrickt sich der moderne Mensch mit seiner naturwissenschaftlich-technischen Denkweise immer tiefer in die Orientierungslosigkeit. Auch das hergebrachte Wertesystem ist nicht mehr in der Lage, so etwas wie ein Koordinatensystem zu bieten. Es ist selbst längst angekränkelt und untergraben vom Geist der Naturwissenschaften, der nur relative Wahrheiten kennt und deshalb auch unsere Maßstäbe für Gut und Böse längst relativiert hat. So verwandelt sich eine Fülle von Detailwissen letztlich in umfassende Ignoranz, und Toleranz wird zu Apathie: "Unsere Seelen werden kraftlos. Wir wissen nichts und denken nichts und wandeln durch das Leben, als befänden wir uns in einer verwirrenden Show von Verrückten".

In den letzten Jahren habe sich deshalb das Bild der Naturwissenschaften in der Öffentlichkeit verändert: "Die lächelnde Maske, die sie getragen hatten, fiel plötzlich ab, und es kam ein Antlitz zum Vorschein, das ebenso grauenhaft wie wunderbar war." Die Naturwissenschaften hätten "furchtbaren Schaden" in geistiger und seelischer Hinsicht angerichtet. Sie brächten uns "ganz unbemerkt und unausgesprochen dahin, uns und unser wahres Selbst unbemerkt aufzugeben."

Zwei herausragende Beispiele für die Fehlleitung der Menschen durch den Glauben an die Wissenschaft sieht der Autor in der marxistischen Utopie und in den Mythen der Psychoanalyse. Die trivialste Form des Wissenschaftsglaubens sieht er im "fanatischen Pragmatismus" seines Landsmanns Bertrand Russell, "der die Philosophie den Wissenschaften unterwirft, den Glauben verhöhnt, die menschliche Phantasie mißachtet und die letzten Funken einer Moralvorstellung auslöscht".

Für Appleyard bedienen sich die Naturwissenschaften eines "außergewöhnlichen metaphysischen Taschenspielertricks", indem sie so täten, als ob es eine objektive Welt gebe, die unabhängig vom Subjekt existiere. Auch die Relativitäts-, Quanten- und Chaostheorie seien letzten Endes nur "neue Masken" dieser Sichtweise.

Appleyard beläßt es aber nicht bei einer radikalen Absage an den Geist von Naturwissenschaften und Technik. Sein Buch ist zugleich - und das bestürzt noch mehr als sein Anbändeln mit dem Irrationalismus - ein radikaler Angriff auf den Liberalismus und die pluralistische Gesellschaft. Appleyard ist überzeugt davon, "daß die liberale Gesellschaft instabil und im Verfall begriffen ist". Eine bedingungslose Akzepztanz des "wissenschaftlichen Liberalismus" würde gar "die Gesellschaft zu einer passiven, viehischen Anarchie verkommen lassen".

Die grünen Bewegungen deutet er als Reaktion auf den Wertezerfall der liberalen Gesellschaft. Ihrem Wesen nach tendierten aber auch sie nur dazu, dieser maroden Gesellschaft zu einer Art neuen Maske zu verhelfen: Der grüne Versuch, Wissenschaft und Liberalismus auf neue Werte zu verpflichten, verkenne die Brüchigkeit des Instruments, denn "die Wissenschaft und der Liberalismus werden uns niemals die Mittel an die Hand geben, unsere Individualität zu verteidigen, weil sie nicht anerkennen werden, daß ein einzelner im Recht ist".

In der Einleitung bekennt der Autor, daß er zur Naturwissenschaft zeitlebens ein ambivalentes, zwischen Bewunderung und Verachtung schwankendes Verhältnis gehabt habe. Eine Zeitlang habe er als "sehr einseitiger Schöngeist" stets auf den überlegenen Wert unwissenschaftlicher Kreativität gepocht. Dann habe er eine Phase erlebt, in der er das Treiben der Künstler als "hoffnungslos trivial" empfand und die echte Wahrheit der modernen Welt in den Naturwissenschaften erblickte.

Es handelt sich hier also gewissermaßen um das Buch eines Konvertiten, der von den Naturwissenschaften enttäuscht ist, weil sie sein Bedürfnis nach religiösen "Wahrheiten" nicht befriedigen können. Appleyards subjektivistische Absage an den objektiven Geist der Naturwissenschaften speist sich aus dem Haß einer enttäuschten Liebe. Er trägt sie vor wie ein Glaubensbekenntnis, und das ist sie letzten Endes auch.

Retourkutsche an die Postmoderne

Appleyards Pamphlet, das im Original erstmals Anfang der neunziger Jahre erschien, läßt sich auch als Reaktion auf die "Postmoderne" verstehen. Diese hatte demonstrativ das Ende der "grands récits" verkündet und die Reste der alten Mythen und Wertvorstellungen als Spielmaterial zur freien Verfügung gestellt. Nun kehrt Appleyard den Spieß um und verkündet das Ende der Beliebigkeit. Seine Botschaft lautet: Es geht nicht ohne unverrückbare Werte und Glauben, ohne irgendetwas Unbedingtes, das der grundsätzlichen Relativität und Falsifizierbarkeit der wissenschaftlichen Denkweise entzogen ist. Und diese Botschaft kommt nicht etwa aus der islamischen Welt, aus der man fundamentalistische Töne gewohnt ist, sondern aus dem nüchternen England, das den Empirismus und Pragmatismus gepachtet zu haben schien.

Eine alte Geschichte - neu erzählt

Tatsächlich greift Appleyard aber nur einen alten Zwiespalt des neuzeitlichen Bewußtseins auf. Seine erste bewußte Ausformulierung fand dieser Zwiespalt in der Antwort, die der junge Rousseau 1749 auf die Preisfrage der Akademie von Dijon gab, "ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zum Verderben oder zur Veredelung der Sitten beigetragen hat". Rousseau erblickte im Fortschritt der Wissenschaften eindeutig das Verderben - und bekam den Preis, woraus man schließen darf, daß er mit dieser Ansicht keineswegs alleine stand.

Rousseau scheint die Juroren vor allem als Schriftsteller beeindruckt zu haben. Wie er selbst in seinen "Bekenntnissen" schreibt, fehlte es dem preisgekrönten Elaborat "völlig an Logik und Ordnung".

Seitdem hat dieser Konflikt zahllose Neuauflagen erlebt. Seine bekannteste, klassische Ausformung war der Aufstand der Romantik gegen die Aufklärung. Einen bemerkenswerten Versuch, sich von den Plattheiten beider Richtungen fernzuhalten, stellt die Philosophie Hegels dar: In ihr konstituiert sich die "reine Einsicht" ebenso aus dem Element des Glaubens wie aus dem der Wissenschaft. Für sich genommen unterliegt die wissenschaftliche Denkweise aber ebenso der "Entfremdung" wie die mythisch-religiöse Sichtweise der Welt. Sie bedeutet für Hegel nur insoweit einen relativen Fortschritt in Richtung der reinen Einsicht, als sie sich gegen den antiquierten Kirchenglauben richtet und damit die Aufgabe von "Aufklärung" erfüllt.

Als neuere Referenz für den Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben kann der Soziologe Karl Mannheim dienen. In seiner Schrift "Diagnose unserer Zeit", die 1941 im englischen Exil entstand, bezweifelte Mannheim die Überlebensfähigkeit der liberalen Gesellschaft, weil sie letztlich dazu tendiere, alle Werte zu negieren. Zugleich sah er den Geist der Naturwissenschaften zum "Fluch des modernen Menschen" werden, indem dieser sich deren gesamtes Gedankensystem unterwerfe. Beim Durchschnittsmenschen führe dies "zu einer Frivolität, die alles leugnet und von einer unstillbaren Gier nach Sensationen besessen ist".

Dem Autor läßt sich somit nicht vorwerfen, daß er einen Konflikt zwischen Wissenschaft und Seele konstruiere, den es in dieser dramatischen Form gar nicht gebe. Im Gegenteil: Seine Schwäche liegt darin, daß er einen uralten Konflikt aufgreift, aber so tut, als habe er das Rad soeben neu erfunden. Denn trotz der gelegentlichen Rekurse bis hin zu Aristoteles, Descartes und Bacon unterläßt es Appleyard, die geistesgeschichtliche Dimension dieses Konflikts deutlich werden zu lassen.

Fazit: Die Preisfrage, weshalb sich der neuzeitliche Mensch so malade fühlt, steht schon seit Jahrhunderten zur Beantwortung an. Es mag durchaus sein, daß sie sich noch nie so dringlich gestellt hat wie heute. Wer sie aber mit einer schlichten Absage an Naturwissenschaften und Technik beantwortet, hat - trotz aller Anleihen bei Relativitäts-, Quanten- und Chaostheorie - seit Rousseau nichts dazugelernt.

(PB 10/95/*leu)