PresseBLICK-Rezensionen | Politik, Zeitgeschehen |
Ein "Systemveränderer" zu sein und eine "andere Republik" zu wollen, war in der Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre so ziemlich der schlimmste Vorwurf, der in der politischen Arena erhoben werden konnte. Die Politiker der etablierten Parteien verständigten sich zum Beispiel auf eine besondere Regelung, um mutmaßliche "Verfassungsfeinde" von den Pfründen des öffentlichen Dienstes fernzuhalten. Schon die Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen, aber von den Behörden als verfassungsfeindlich eingestuften Partei oder Organisation konnte genügen, um als Beamter, Lehrer, Briefträger oder Lokomotivführer entlassen zu werden. Vergebens gaben liberale Kritiker zu bedenken, daß dieser "Radikalenerlaß" die Einschränkung von Grundrechten ins Ermessen der Exekutive stellte und damit die freiheitlich-demokratische Grundordnung stärker malträtierte als alle Verfassungsfeinde zusammengenommen.
Diese Art von Staatsfeinden meint Jan Roß freilich nicht. Er persifliert lediglich die alte Hatz auf linke Systemveränderer, wenn er im Titel seines Buches von den "neuen Staatsfeinden" spricht. Die neuen Systemveränderer kommen für ihn aus einer ganz anderen Ecke: Er sieht sie in jener Allianz von "Schröder, Henkel, Westerwelle & Co.", von der im Untertitel die Rede ist.
Zum Beispiel überraschte Hans-Olaf Henkel, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, die deutsche Öffentlichkeit vor einem Jahr mit der Forderung nach einer Verfassungsreform. Es sei fraglich, "ob ein Land mit unserer föderalen Struktur, mit sechzehn Bundesländern, mit Verhältniswahlrecht überhaupt eine Chance hat, sich so schnell zu verändern wie andere". Weiter meinte Henkel: "Wenn andere schneller auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren als wir, dann müssen wir uns fragen, ob unser politisches System eigentlich noch wettbewerbsfähig ist."
Das klang so oder konnte wenigstens so interpretiert werden, als wolle der BDI-Präsident aus rein utilitaristischen Erwägungen die Verfassung der Bundesrepublik zur Disposition stellen. Die föderale Struktur der Bundesrepublik ist nämlich nicht nur im Grundgesetz verankert, sondern als elementarer Verfassungsgrundsatz durch Artikel 79 ausdrücklich jeder Änderung entzogen. Verfassungsrecht und Wettbewerbspolitik sind jedenfalls zwei Paar Schuhe, die man nicht verwechseln sollte, weil sonst Hals- und Beinbruch drohen.
Ähnlich liegen die Dinge beim Wahlrecht. Auch hier weckte Henkels Forderung nach Abschaffung des Verhältniswahlrechts ungute Erinnerungen an die frühen sechziger Jahre, als der damalige Bundeskanzler Adenauer den Knüppel des Mehrheitswahlrechts schwang, um die kleine FDP aus dem Bundestag verschwinden zu lassen oder wenigstens mit dieser Drohung gefügig zu machen. Auch zu Zeiten der Großen Koalition zwischen Union und SPD wurden solche Pläne wieder hervorgeholt. Zur Rechtfertigung verwies man gern auf das Beispiel Englands, wo es seit jeher das Mehrheitswahlrecht gibt. Aber die feine englische Art war es sicher nicht, wie hier das Wahlrecht für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert und manipuliert werden sollte.
Jan Roß beschränkt seine Kritik an den "neuen Staatsfeinden" nicht auf diesen Fauxpas. Es geht ihm um eine allgemeine Geisteshaltung, die er als "Vulgärliberalismus" bezeichnet und die er parteiübergreifend ebenso durch den SPD-Kanzlerkandidaten Schröder und den FDP-Generalsekretär Westerwelle vertreten sieht. Auch die berühmte "Ruck"-Rede von Bundespräsident Herzog erntet bei ihm ätzende Kritik. Im Grund ist sein Buch eine weitere Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Zeitgeist, wie sie Viviane Forrester mit ihrem "Terror der Ökonomie" (PB 8/97) oder Marion Gräfin Dönhoff mit ihrem Appell "Zivilisiert den Kapitalismus" (PB 12/97) versucht haben. Im Unterschied zu dieser Kritik aus sozialer oder altliberaler Empörung setzt Roß jedoch deutlich konservative Akzente, indem er die eigenständige Rolle des Staates betont, der nicht als Erfüllungsgehilfe der Wirtschaft verstanden werden dürfe, sondern unabhängig - notfalls auch gegen die Wirtschaft - das wohlverstandene Interesse der Allgemeinheit wahren müsse.
Der Vulgärliberalismus trägt für Jan Roß die Züge einer "primitiven Glaubenslehre" und "fundamentalistischen Ideologie". Er sei von einem "blinden Privatisierungsfuror" besessen. Er wolle alles dem Markt überlassen, hege eine barbarische Verachtung für die notwendige Ordnungsfunktion des Staates und mache den "schlanken Staat" zum Selbstzweck. Mit Schlagworten wie Mobilität, Flexibilität und Innovation propagiere er einen "Kapitalismus der permanenten Revolution", verbreite die "ziellose Utopie des Höher-Schneller-Weiter". Wenn er von Freiheit rede, meine er nicht die politisch-geistige Freiheit des Bürgers, sondern ausschließlich die Freiheit des Konsumenten und des Produzenten, das freie Spiel von Angebot und Nachfrage.
Besonders fatal sei, daß es in Deutschland kaum je einen richtigen Liberalismus gegeben habe, der heute den wirtschaftsideologisch entarteten Sprößlingen die Leviten lesen könnte. Das unterscheide die Situation hierzulande von der Roßkur, die sich die Engländer mit Margaret Thatcher zugemutet haben. Der deutsche Liberalismus sei historisch verkrüppelt, seitdem sich das Bürgertum nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 mit einem halbfeudalen Obrigkeitsstaat arrangierte und die politische Freiheit der Freiheit des Geldverdienens unterordnete. Nun werfe sich dieses Volk, mit dessen Liberalität es ursprünglich nicht zum besten stehe, "aufs Liberalisieren, weil ihm das als letzte Rettung des Wohlstands erscheint".
Zusammen mit dem Vulgärliberalismus breite sich eine erschreckende Geistlosigkeit aus. Wie der Vulgärmarxismus, der alles in Schubladen wie "Basis" und "Überbau" steckte und keine Hemmungen hatte, etwa die Parthenon-Skulpturen aus der griechischen Sklavenhaltergesellschaft zu erklären, wollten die Marktradikalen die Welt aus einem einzigen Punkt erklären. Die Phrase "weniger Staat" sei für sie der Weisheit letzter Schluß. Die gesamte Tradition europäischer Sozialphilosophie von Platon bis Popper sei ihnen gleichgültig. Noch schlimmer: Es fehle ihnen das Verständnis für alle subtileren Überlegungen. Sogar ein neoliberaler Stammapostel wie Friedrich August von Hayek, der einer der Stichwortgeber für Margaret Thatcher war, throne vom geistigen Format her hoch über der Masse seiner heutigen Nachbeter.
Die neue Geistlosigkeit fokussiert sich für Jan Roß in dem neuen Magazin "Focus", dem er deshalb gleich zu Beginn seines Buches ein ganzes Kapitel widmet. "Focus" wurde 1993 als "Blatt für die Info-Elite" gestartet und zu einem massenhaften Erfolg, während die wirklichen Eliten eher abfällig von "Info-Alete" und "Infotainment" sprachen. Roß konstatiert, daß "Focus" keineswegs - wie anfangs erhofft oder befürchtet - dem "Spiegel" einen Verdrängungswettbewerb geliefert hat. Vielmehr habe das Magazin "neben dem kritischen Zentralorgan der alten Bundesrepublik eine neuartige journalistische Welt aus dem Nichts geschaffen". Das Magazin wirke so "analphabetisch" und "alienhaft", daß es gar keine wirkliche Konkurrenzsituation entstehen lasse. Es sei "eine Art gedrucktes Privatfernsehen". Und wie das Ramschangebot der Privatsender sei es bisher von den Kulturkritikern nur als weitere Stufe der Primitivierung bedauert, nicht aber als politisches Symptom und Machtfaktor wahrgenommen worden. Während die Springer-Presse für eine ganze politische Generation zum Haßobjekt werden konnte, sei "Focus" dank seiner "entwaffnenden geistigen Anspruchslosigkeit" unter dem intellektuellen Frühwarnsystem der Kulturkritik gleichsam hindurchgeflogen.
Wer glaubt, mit "Focus" sei ein vergleichsweise konservatives Gegenstück zum "Spiegel" entstanden, wird von Roß eines besseren belehrt: Die Kräfte des Bewahrens und der Tradition hätten von diesem Magazin wenig Unterstützung zu erwarten. Das Blatt schwimme voll im Mainstream des Vulgärliberalismus. Beispielsweise porträtiere es christdemokratische Sozialpolitiker wie Norbert Blüm und Heiner Geißler als Fortschrittsbremser, berichte aber wohlwollend über einen Arzt, der in München eine florierende Abtreibungsklinik betreibt. Gerade für die Christdemokraten sei ein so daherkommender Vulgärliberalismus bedrohlich, weil er die "Synthese von Wettbewerb und Solidarität" aufsprenge, der die Unionsparteien bis heute ihren Erfolg verdanken. CDU und CSU dürften sich keinesfalls auf den Abweg zu einer "Mega-FDP" begeben.
Man vermeint zu erkennen, wo im Zweifelsfall die parteipolitischen Präferenzen des Autors liegen. Dennoch ist es kein parteipolitisches Buch und schon gar nicht eines jener grobschlächtigen Pamphlete, wie sie üblicherweise in Wahlkampfzeiten auftauchen. Die Betrachtungen von Jan Roß bewegen sich vielmehr auf der Ebene eines glänzend geschriebenen Feuilletons, wie überhaupt in letzter Zeit die eigentlichen politischen Grundsatzdebatten mehr im Feuilleton als im politischen Teil stattzufinden scheinen. Wie sein früherer Kollege Konrad Adam von der "Frankfurter Allgemeinen" vertritt Jan Roß - der inzwischen mit anderen FAZ-Schreibern zur "Berliner Zeitung" wechselte - eine wertkonservative Kulturkritik, die in keine der gewohnten Schubladen zu passen scheint. Diese wertkonservativen Jungtürken können sich zum Beispiel mühelos eine schwarz-grüne Koalition vorstellen. Sie sprechen die Wertbewußten aller politischen Lager an, die an unserer Gesellschaft einen Niedergang geistig-moralischer Infrastruktur beklagen. Ein bißchen fühlt man sich dabei an das letzte Fin de siècle erinnert, als auch allenthalben über "Dekadenz" und "Entartung" gejammert wurde, zumal Roß im gegenwärtigen Deutschland "eine Art Neowilhelminismus" zu beobachten vermeint. Die ausschließliche Fixierung auf materielle Werte oder die Vermüllung der Gehirne durch die Massenmedien werden jedenfalls von rechter wie von linker Seite kritisiert. Hier bildet sich ein gemeinsamer Nenner, der in den nächsten Jahren noch wesentlich größere Bedeutung erlangen dürfte. "Wer wissen will, was konservativ ist, der guckt doch schon längst nicht mehr auf die CDU; der schlägt nach bei Konrad Adam", hat Joschka Fischer süffisant bemerkt. Ähnliches könnte er über den Verfasser des vorliegenden Buches sagen.
Die "Frankfurter Allgemeine" hat das Buch ihres ehemaligen Redaktionsmitglieds durch Guido Westerwelle rezensieren lassen. Der "Vulgärliberale" gab sich alle Mühe, dem Niveau der Auseinandersetzung gerecht zu werden, indem er bei Jan Roß die Sehnsucht entdeckte, "das Staatsverständnis Hegels mit der deutschen Romantik zu verbinden". Dazu passe, daß er schwarz-grün als faszinierenden Gedanken empfinde.
(PB 6/98/*leu)